Saadets Trauer

Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.

«Ich bin nicht glücklich. Seit drei Jahren nicht mehr.» / © Pixabay

Ich komme zur Migros-Kasse, und die Verkäuferin, die ich kenne, wird gerade abgelöst von einer Kollegin, die offenbar neu ist. Sie stellt mich der neuen Kollegin vor, wir begrüssen uns, und die Neue, eine jüngere Frau mit einer Fülle von schwarzem Haar, das sie offen trägt, sagt:

«Ich bin Saadet.»  

«Oh», sage ich, «ein schöner Name. Woher kommt er?»

«Der Name ist türkisch», erklärt mir Saadet, während sie darauf wartet, dass ihre Kollegin die Kasse freigibt. Und sie fügt mit sichtlichem Stolz hinzu: «Er bedeutet Glück.» Doch als wollte sie die Ausstrahlung ihres Namens gleich wieder löschen, sagt sie: «Aber ich bin nicht glücklich. Seit drei Jahren nicht mehr.»

Das Lächeln in ihrem Gesicht ist gewichen, als sie es sagt, und ich schaue sie an, ganz betroffen. Mit einem solchen Bekenntnis rechnet man nicht an der Migros-Kasse. Der Supermarkt ist von Menschen und Stimmengewirr erfüllt, und hinter mir wartet die nächste Kundin: Mitten in diesem Trubel, der im Grunde keine Besinnung, kein Innehalten erlaubt, spricht Saadet, die mich doch gar nicht kennt, aus dem tiefsten Grund ihres Herzens aus, dass das Glück sie verlassen hat. Und drei Jahre sind eine lange Zeit.

Ihr Eingeständnis enthält die Bitte, dass ich sie frage, warum das Glück sie verliess. Doch Saadet gibt mir die Antwort von selber: «Weil ich vor drei Jahren mein Kind verlor. Im neunten Monat.» Sie nimmt Platz an der Kasse und schaut mich an, mit dunklen Augen, die fast so schwarz wie ihr Haar sind. Keine Tränen sammeln sich in den Augen – nur eine Trauer, die Saadet begleitet, seit Jahr und Tag.

Ich versuche damit fertigzuwerden, was mir die Frau gerade gesagt hat. «Dann war das eine richtige Geburt», ist das einzige, was mir einfällt. Wie grausam muss es sein, ein Kind tot gebären zu müssen, wie qualvoll und trostlos. «Es war ein Mädchen», sagt Saadet, während sie meine Produkte einscannt. «3,2 Kilogramm schwer. Sie hätte normal zur Welt kommen können.»

Trauriger kann es jetzt nicht mehr werden, in diesem Moment an der Migros-Kasse. Und so tue ich, was wir alle tun würden: Ich suche nach einem Trost, nach einer Seitentür, damit es uns vielleicht möglich wird, dem aufgeflammten Schmerz zu entkommen.  «Hast du noch andere Kinder?», frage ich sie und lege Ware für Ware aufs Band. Es ist die naheliegendste Frage. Zwei Kinder hat Saadet. Sie sind schon älter. «Und du würdest nicht noch ein Kind wollen?», frage ich weiter, obwohl die Frage schon viel zu weit geht. Doch Saadets Offenheit macht es mir möglich, ebenso offen zu reden. Und könnte ein weiteres Kind, eines, das lebt, die Trauer nicht lindern, nicht überwinden helfen?

Saadet hat es nicht mehr versucht. Zu gross sei die Trauer um das verlorene Kind, auch nach drei Jahren noch, sagt sie mir. Der Bezahlvorgang entlastet uns für einen Moment von der Unmöglichkeit, mitten im Supermarkt über solche Dinge zu sprechen. Aber noch immer beschäftigt mich, dass Saadet seit drei Jahren trauert und über ihren Verlust nicht hinweg kommt. Mit ihrem Mann könne sie darüber nicht sprechen, winkt sie mit müden Gesichtsausdruck ab, und ihre türkische Mutter rate ihr immer nur, vorwärts zu schauen.

Doch Saadet, die junge Frau, die in ihrem Namen das Glück trägt, kann sich von ihrem Schmerz nicht befreien. Er tut noch immer so weh, dass er sogar an der Kasse, mitten unter den fremden Menschen aus ihr herausbricht. Die nächste Kundin ist an der Reihe, für weitere Worte bleibt keine Zeit. Ich verstaue die Waren in meinen Taschen, dann winke ich Saadet zu. Alles Gute, sage ich ihr – bis zum nächsten Mal.

Jetzt kehrt ihr Lächeln zurück, und ihre dunklen Augen leuchten ein wenig auf. Ich kann ihr die Trauer nicht nehmen. Aber wenn sie mich das nächstemal sieht – dann weiss sie, dass ich es weiss. Dann ist ihr trauriges Herz für einen Augenblick nicht allein.


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28. Juni 2023
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