«Sie können uns doch jetzt nicht im Stich lassen!»

Juni 1974: Ich schlucke das Schreibverbot widerstandslos – und unternehme einen weiteren Abstecher in die Welt der Werktätigen. Als ich mich in die Welt verliebte. Chronik einer Leidenschaft. Folge 78

«Gestelle auffüllen bis zur Erschöpfung» (Bild Netzfund)

Das unbefristete Schreibverbot beim Tagesanzeiger ging mir mit Sicherheit nahe. Man wird nicht gern hinausgeworfen. Man möchte gern selber den Zeitpunkt bestimmen, an dem es genug ist. Aber mit keiner Zeile beklagte ich mich darüber im Tagebuch. Ich unternahm auch keinen Versuch, den Chefredaktor darum zu bitten, seinem jüngsten Mitarbeiter eine zweite Chance zu geben. Ich benützte auch nicht den «focus», um den Tagesanzeiger der Zensur gegen mich zu bezichtigen. Eine Abrechnung mit der bürgerlichen Presse am Beispiel meiner «Entlassung» beim Tagesanzeiger hätte die linke Zeitschrift mit Handkuss genommen. 

Rückblickend bin ich im ersten Moment darüber erstaunt, dass ich den Rauswurf so unwidersprochen hinnahm. Die Pose des ungerechtfertigt Betroffenen hätte mir sicher nicht schlecht gefallen. Und die Neigung zum Selbstmitleid war auch mir nicht fremd. Gleichzeitig aber war ich noch immer sehr jung. Unmittelbar nach dem Anruf von Walter Stutzer muss ich mich wie das zurechtgewiesene Kind gefühlt haben, dem nichts anderes übrig bleibt, als die vom Erwachsenen ausgesprochene Strafe zu schlucken. 

Eine gewisse Einschüchterung spielte daher bestimmt eine Rolle. Aber eigentlich weiss ich, warum ich gegen das Schreibverbot nichts unternahm. Weil ich spürte, dass meine Zeit beim Tages-Anzeiger zu Ende war. So oder so. Und da ich den Schritt nicht selber tat, tat ihn der Chefredaktor für mich. Er spielte Schicksal für mich. Eine Tür ging zu, damit eine andere aufgehen konnte.

Immer wieder in meinem späteren Leben sollte es soweit kommen. Immer, wenn ein Kapitel zu Ende gehen musste und ich merkte es nicht, arrangierte das Leben für mich eine Grenzüberschreitung. Ich entwendete einen Zettel, hielt mich nicht an die Regeln, schrieb Sätze, die zu ketzerisch waren – und provozierte damit meinen Rauswurf. Ich plante das nie, sowenig ich meine Entlassung vom Tages-Anzeiger berechnet hatte. Ich handelte so, wie ich glaubte, handeln zu müssen – und wurde mir immer erst nachher bewusst, dass ich mich hätte zurückhalten müssen. Aber das Leben wollte nicht, dass ich stehenblieb. 

Die durch das Schreibverbot verursachte Lücke war schnell gefüllt. Ich schrieb nun vermehrt für das «team», die neue Zeitschrift für junge Leute, ich schreib für die Basler «National-Zeitung» und gestaltete für das Radiostudio in Basel weitere Sendungen über Musik, in denen ich meine Erfahrung der vergangenen Jahre als Musikkolumnist – und nebenbei meine linke Gesinnung einbringen konnte. 

Trotz Schreibverbot schrieb ich auch noch für den Tages-Anzeiger. Das kam so: Ein anderer freier Mitarbeiter hätte ein Konzert besuchen und darüber berichten sollen. Weil ich die Band aber besser kannte als er, bat er mich, an seiner Stelle an das Konzert zu gehen und für ihn den Bericht zu verfassen. Die Hälfte des Honorars sollten mir gehören. Ich sagte zu. Mit diebischer Freude las ich danach meine eigenen, illegalen Zeilen im Tages-Anzeiger, gezeichnet mit dem Kürzel meines Kollegen. Niemand von der Redaktion hatte etwas gemerkt. Wir versuchten es noch ein zweites Mal, und wieder teilten wir uns nachher das Honorar. 

Doch das Schreiben für Zeitungen erfüllte mich immer weniger. Nicht einmal für den «focus» war ich noch motiviert, mich an die Schreibmaschine zu setzen. Seit meinem Job in der Sihlpost und dem kurzen pädagogischen Abstecher in der Juventus fehlte mir eine berufliche Herausforderung neben dem Schreiben. Dass ich nur zwei Monate später eine vollkommen neue Berufserfahrung erleben sollte, ahnte ich im Frühsommer 1974 noch nicht. 

Eines Tages im Juni ging ich in einer städtischen Filiale der Migros einkaufen. Als ich mich mit meinem Korb vor der Kasse stand, las ich ein Schild an der Wand: «Aushilfen gesucht. Ab sofort. Melden Sie sich beim Filialleiter.»

Ich meldete mich. Ohne lange zu überlegen. Und nur wenige Tage später stand ich als Aushilfe in einer Filiale der grössten Schweizer Supermarktkette, die mir seit meiner Kindheit vertraut war und die ich noch heute liebe und schätze, weil sie einfach die Migros ist und weil sie noch immer die Grösse hat, weder Tabak noch Alkohol zu verkaufen. 

Ich hatte schon einmal in der Migros mein Taschengeld aufgebessert, fünf Jahre vorher, als Ferienaushilfe in unserer Dorffiliale. Aber damals war ich noch ein Schüler gewesen. Diesmal begann ich den Job bei der Migros als gesellschaftskritischer junger Erwachsener im Dienste sozialer Gerechtigkeit. In der Zeitschrift «team» gedachte ich später meine Erkenntnisse zu verarbeiten. 

Die Filiale, bei der ich als Aushilfe einstieg, war dieselbe, in der ich gelegentlich einkaufte. Doch über Nacht war ich vom geschätzten Kunden zum Hilfsarbeiter geworden. Mein Arbeitstag begann um 7 Uhr morgens. Am ersten Tag war alles noch neu. Am zweiten wurde von mir erwartet, dass ich die Regeln kannte. Aber ich tat mich schon schwer damit, wie ich später berichtete: 

«7:06 Uhr. Klick macht die Stempeluhr. Schon wieder sechs Minuten zu spät. Klick. Jetzt bin ich ‚anwesend‘. Ich will in den Keller, um mein Arbeitsgewand anzuziehen. ‚Aber Sie wissen doch jetzt‘, rügt mich der Chef, ‚dass man die Schürze zuerst anzieht und erst dann stempelt!?‘ Der Laden kann es sich nicht leisten, das Umziehen als bezahlte Arbeitszeit gelten zu lassen. Jede Minute ist kostbar. Tausende von Angestellten spüren das Tag für Tag.» 

«Es wird gehetzt. In der Sprache des Chefs heisst das ‚Vorwärtsmachen‘. Vom Laden hinab ins Lager im Untergeschoss, wieder zurück in den Laden, dann auf die Rampe, zurück in den Keller, wieder nach oben. Das Leben ist auf drei Liftstationen geschrumpft. Auch die Kommunikation findet im Lift statt, in den Sekunden, die es gerade erlauben, zu lästern, zu fluchen, zu seufzen oder sich – wie meine Kollegin – eine Zigarette zu gönnen. Im Lift ist es dunkel, man sieht nur das aufglimmende Feuer, wagt kaum, ein Gespräch zu beginnen, weil man bereits überlegt, was aus dem Lager heraufgeholt werden muss. Unten stehen die Wagen bereit, Gondeln genannt, darauf hochaufgetürmt die Kisten und Warenpakete. Manche dieser Türme bringe ich kaum vom Fleck, so schwer sind sie.

Die männlichen ebenso wie die weiblichen Angestellten, ohne Unterschied, stossen die Türme aus dem Untergeschoss in den Laden. Für einmal herrscht Gleichberechtigung. Beide machen sich den Rücken kaputt, beide lernen, auf die Zähne zu beissen, wenn sich die Räder der Gondeln in die verkehrte Richtung drehen und der Turm ins Schwanken gerät.

Zweites Hindernis: die Liftschwelle. Wer nicht aufpasst, hat Pech: Je nach Ladung ergiessen sich Sirup, Eigelb, Konfitüre oder Öl auf den Boden. Alles ist klebrig und voller Scherben. Doch der Konzern gibt sich kulant: Der Schaden braucht nicht bezahlt zu werden. Nur aufputzen muss man alles allein.

Mit der nächsten Ladung nach oben. Das dritte Hindernis sind die Kunden. Sie stehen im Weg, und je mehr sie das Vorwärtsmachen behindern, desto ungeduldiger rollt man die Gondel durch sie hindurch. Dann das Auffüllen der Gestelle. Büchsen stapeln bis zur Erschöpfung. Die vollen Regale sind gleich wieder leer, besonders am Samstag. Doch der Konzern verlangt, dass sie aufgefüllt sind, dass kein Loch entsteht. Der Kunde soll beim Betreten des Ladens den Eindruck eines kompletten Angebots haben. Und wir Angestellten müssen diese Illusion aufrechterhalten helfen.»

«Wir Angestellten» – wie bereits in der Sihlpost sah ich mich schon am zweiten Tag als vollwertiges Mitglied der geschundenen Arbeiterklasse. Meine Überidentifizierung hatte aber nicht nur weltanschauliche Gründe. Obwohl ich stets meinen eigenen Weg ging, verhielt mich in einer Gemeinschaft mit anderen schon nach wenigen Tagen so, als hätte ich immer dazugehört. Auch die Angestellten in der Migros-Filiale schloss ich sofort in mein Herz, und ich tat dies nicht aus Berechnung. sondern ganz einfach, weil ich Menschen gern habe. Meine neuen Kollegen fanden mich nett und erzählten mir bald schon Persönliches. Soweit es die Arbeitspausen erlaubten.

«In der Pause darf die Fassade abgestreift werden. Schnell stempeln, dann zu den Garderobekästchen im Keller, die Schürze ausziehen. Bleiben noch zwanzig Minuten. Wohin? Es gibt keine Kantine, und ‚während der Arbeitspause darf die Imbissecke, das hauseigene Restaurant nicht aufgesucht werden‘. Einzige Aufenthaltsmöglichkeit bietet der ‚Pausenraum‘: ein kahler, schulzimmerartiger Raum mit ein paar Tischen, Stühlen und einer Waschgelegenheit. Keine Pflanzen, kein Bild an der Wand. Vor dem Freizeitraum stehen Liegestühle bereit zum Verkauf, doch für uns gibt es keine bequeme Möglichkeit, uns zu entspannen. Ein Italiener verbringt seine Mittagspause schlafenderweise auf einem Tisch, wo die Blumen geschnitten werden…
Ende der Pause, zurück in den Laden. Der Kundschaft ein gewinnendes Lächeln zeigen. Der Kunde ist König – aber noch höher steht die Geschäftsleitung. ‚Das Personal darf den Laden nur durch die von der Filialleitung bestimmte Türe betreten. Das Haus darf nur durch dieselbe Türe verlassen werden.’ Zwischen Kunden und Personal wird scharf unterschieden. Wenn mich der Filialleiter kurzangebunden zurechtweist, weiss er nicht, dass er mich noch wenige Tage vorher als Kunde freundlich willkommen hiess.
‚Im Laden wird nicht gegessen. Auch kein Kaugummi. Zudem sollte stets darauf geachtet werden, dass mit sauberen Schürzen gearbeitet wird. Ein übertriebenes Make-up ist nicht erwünscht. Wir legen grossen Wert auf eine gepflegte Erscheinung aller Mitarbeiter.’
Keine Möglichkeit, während der Arbeit, etwas zu trinken, es sei denn, man kaufe es sich im Laden. Aber strenge Regeln gelten auch dafür: ‚Der persönliche Einkauf soll – ohne Schürze! – in der Mittagszeit oder nach Ladenschluss abends erfolgen. Kassiererinnen dürfen ihre Ware nicht selber tippen. Jedes Zwischenverpflegung sofort an der Kasse begleichen. Der Coupon ist der Filialleitung vorzuweisen. Man merke sich: Zuerst bezahlen – dann essen!’»

Das alles empfand ich als reine Schikane. Und weil ich meine persönliche Freiheit dadurch bedroht sah, regte sich in mir der junge Rebell, der sich nicht an die Regeln hält:

«Sich bedienen, ohne zu zahlen, wäre natürlich einfacher. Die Diebstahlquote ist vermutlich im Lohn einkalkuliert. Doch die Geschäftsleitung kann nur ahnen, wieviel die Angestellten mitlaufen lassen. Im Lager unten ist die Versuchung gross. Und die Luft rein. Doch die Kontrolle beschränkt sich vorerst auf das Privatgeld: ‚Am Morgen und am Mittag ist der Inhalt des privaten Portemonnaies einzuschreiben. Kassiererinnen dürfen kein privates Geld auf sich tragen.’ Der Konzern passt gut auf seine Untergebenen auf.
Der Filialleiter, der schon die Lehre in dieser Filiale gemacht hat, weiss, wie es ist, kontrolliert zu werden. Jetzt ist er selber der Kontrolleur: Geschäftig läuft er in seinem Laden umher, der ihm gar nicht gehört, begutachtet die Arbeit der Heinzelmännchen, tadelt, ermuntert und verschwindet wieder in seinem Büro, wo ihm die Umsatzsteigerung Kopfweh bereitet. Am Schwarzen Brett hängt eine Fotokopie vom Umsatz im letzten Monat. Darunter der Vermerk, der Verkaufserfolg sei nicht im erwünschten Mass gestiegen. Mit rotem Filzstift hat es der Chef umrahmt und dazu geschrieben: ‚Das darf nicht mehr vorkommen’. 
Offenbar ist er von weiter oben gerüffelt worden, weil der Profit den Erwartungen nicht entsprach. Und die Angestellten werden mitverantwortlich gemacht.»

*

«Werte Kunden, heute Aktion!» zitierte ich die Lautsprecherstimme in meiner Reportage. Und noch immer genervt fuhr ich fort: «Tausendmal am Tag werden die billigen Trauben und die Ananasscheiben im Multipack angepriesen. Wir können diese Sprüche bald nicht mehr hören. Dazwischen die ewige unausstehliche Unterhaltungsmusik – wenn man nur nicht hinhören müsste. Bis ins Lager hinab wird man verfolgt von den Durchsagen des Chefs, von den Aktionen und den Verbilligungen. Keinen Moment kann ich dem Konzern in seiner Filiale entkommen: Er ist allgegenwärtig. Und wenn ich abends ins Bett sinke, eine Platte auflege, dann werden die Töne zu Flaschen, die ich einfüllen muss, dann finden meine Träume in den Ladenregalen statt, und im Hintergrund rasselt die Kasse.»

Wenn ich diese Aufzeichnungen heute lese, staune ich, wie wenig sich in einem halben Jahrhundert in einer Migros-Filiale geändert hat. Die «unausstehliche Unterhaltungsmusik», die es damals schon gab, gibt es heute noch. Sie tröpfelt und säuselt noch immer aus Lautsprecherboxen irgendwo an der Decke, von immer wiederkehrenden Durchsagen unterbrochen, die uns freundlich daran erinnern, dass die Trauben auch 50 Jahre danach immer noch billiger und die Ananasscheiben immer noch in Aktion sind. 

Auch die Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist noch immer dieselbe. Noch immer wechseln sie ständig und viele Stunden vom Laden zum Lager im Untergeschoss und wieder zum Laden hinauf und wieder zum Lager hinab. Noch immer schieben sie turmhoch gestapelte Waren an den Gestellen und Kunden vorbei, noch immer stapeln sie Büchsen bis zur Erschöpfung. Noch immer sitzen sie an den Kassen und tippen und tippen und nehmen die Töne der Kasse mit in den nächtlichen Schlaf. 

«Nach drei Wochen habe ich die Nase voll. Ich kündige auf den übernächsten Tag, was mein Recht als Aushilfe ist. Der Chef zieht ein sorgenvolles Gesicht und appelliert an meine Mitverantwortung: ‚Sie können uns doch jetzt nicht im Stich lassen!‘ 
‚Doch, sage ich – das kann ich.‘»

Damit endete auch mein Migros-Gastspiel, kaum hatte es angefangen. Ich hatte genug gesehen und erlebt, um mit meiner Sozialkritik auch die Migros nicht zu verschonen, die doch meine ganze Kindheit begleitet hatte. Alles hatten wir in der Migros gekauft, einen anderen Lebensmittelladen kannte ich gar nicht. Aber das zählte jetzt nicht mehr. Die Migros war zum «Konzern» geworden, der seine Angestellten ausbeutete. 

Drei kurze Wochen lang hatte ich mich solidarisch gezeigt mit den Ausgebeuteten in der Migros-Filiale. Jetzt war aus dem «wir» wieder ein «ich» geworden, und der nette junge Mensch liess die Arbeitskollegen bereits wieder hinter sich. Er hatte Besseres vor.

«So so», spottete nach dem Erscheinen meines Berichts ein Leserbriefschreiber, «nun hat's der Nicolas Lindt also auch erlebt: Drei Wöchelchen lang als Hilfsarbeiter zu schuften, ist schon eine Plage. Damit hat er dann zwei Seiten gefüllt. Wollte Klein-Wallraff hier seine kleine Industriereportage machen? Wollte er sich damit brüsten, dass er’s dem Chef aber schön gezeigt hat: Einfach so die Firma im Stich lassen? Oder soll die Moral von der Geschichte sein: Hau' einfach ab, wenn du genug hast?» 

Dass ich den Leserbrief aufbewahrt habe, lässt mich vermuten: Mir war auch nicht ganz wohl bei der Sache. Mein Zwischenhalt in der Welt der Werktätigen mochte lesenswert und interessant sein. Aber meine Welt war es nicht. Es wurde Zeit für ein neues Kapitel in meinem Leben. 


Nächste Folge am 29. September