Sieg für die amerikanischen Ureinwohner: Der Oberste Gerichtshof der USA bewahrt den Indian Child Welfare Act

Mehr als 100 Jahre lang wurden Indianern ihre Kinder weggenommen und in Internate oder weisse Pflegefamilie zwangseingewiesen. Ein Bundesgesetz schützt indianische Kinder seit 45 Jahren vor der Trennung von ihren Familien. Jetzt wurde beraten, ob es rassistisch ist, indianische Eltern bei der Adoption indianischer Kinder vorzuziehen.

Eine Navajo-Mutter und Weberin hält ihre Tochter an ihrem Stand auf dem Santa Fe Indian Market in Santa Fe, New Mexico, am 19. August 2017. (Foto: Robert Alexander/Getty Images)

7 zu 2 entschied der Oberste Gerichtshof in der Rechtssache Haaland gegen Brackeen – und lässt den Indian Child Welfare Act (ICWA) intakt. Dieses Gesetz aus dem Jahr 1978 war eine Reaktion auf grosses Unrecht: Mehr als ein Jahrhundert waren indianische Kinder ihren Verwandten weggenommen und oft in staatliche oder religiöse Einrichtungen oder zu weissen Familien gebracht worden.

Mit ihrer Entscheidung für die Gesundheit und Sicherheit von Kindern sind die Richter auf der richtigen Seite der Geschichte gelandet.

Vor der Verabschiedung des ICWA wurden zwischen 25 und 35 % der indianischen Kinder aus ihren Familien genommen und zur Adoption in andere Familien, in Pflegefamilien oder in kirchliche oder staatliche Einrichtungen gebracht.

Während und nach dem Höhepunkt des US-amerikanischen Völkermords an den Indianern des Westens wurden die besiegten Stämme gezwungen, ihre Kinder in Internate zu schicken, damit sie «zivilisiert» würden. Unter dem Mantra «Töte den Indianer, rette den Menschen» wurden Hunderttausende von Indianerkindern Opfer dieses kulturellen Völkermords. 

Viele kehrten nie wieder nach Hause zurück. Auch Krankheiten forderten viele Opfer. Eltern, die sich weigerten, ihre Kinder auszuliefern, wurden oft inhaftiert, manchmal auf Kaliforniens unheilvoller Insel Alcatraz.

Töte den Indianer, rette den Menschen.

2021 wurden Hunderte von nicht gekennzeichneten Gräbern in einem kanadischen Internat entdeckt. Indigene Kinder waren hier verscharrt worden. Dieser Fund veranlasste die US-Innenministerin Deb Haaland zu einem Artikel darüber, wie ihre Grosseltern aus dem Laguna Pueblo ihren Familien gestohlen wurden, als sie acht Jahre alt waren, «um unsere Kultur und uns als Volk auszulöschen».

Ein solches Verbrechen kann nicht wiedergutgemacht werden. Neue Gesetze bewerten aber die Verbrechen als solche. Sie können dabei helfen, ein Trauma zu verarbeiten – und natürlich, zukünftiges Unrecht zu vermeiden. Ob das Gesetz in diesem speziellen Fall neues Unrecht schafft, lässt sich schwer beurteilen. 

Das ICWA gibt indianischen Familien bei Adoptions- und Pflegefamilienverfahren den Vorzug. Diesee Regelung wurde von einem weissen Ehepaar, dem Staat Texas und anderen angefochten. Sie behaupteten, das Gesetz sei rassenbasiert und verstosse daher gegen die Gleichheitsschutzklausel des 14.

Chad und Jennifer Brackeen, ein texanisches Ehepaar, hatten bereits einen Navajo-Jungen adoptiert und versuchen nun, auch dessen Halbschwester zu adoptieren. Sie ist vier Jahre alt und lebt seit ihrem Säuglingsalter bei ihnen. Die Navajo-Nation lehnt aber die Adoption ab. Warum das so ist und elche Beweggründe die Beteiligten haben, was die Kinder und ihre leiblichen Eltern eigentlich wollen und ob es sinnvoll ist oder nicht – das ging aus den Meldungen nicht hervor. Die New York Times schrieb dazu: «Letztendlich ist der Streit so etwas wie eine moderne salomonische Parabel: Zwei Mütter - der Stamm und der Staat - streiten darum, wer Anspruch auf die Kinder der amerikanischen Ureinwohner hat.»

«Kultur ist wichtig, aber auch Bindung», sagte Jennifer Brackeen der NYT. Ihre Bemühungen, den Sohn zu adoptieren, nachdem er in ihre Pflegefamilie gekommen war, seien ein Jahr später fast vereitelt worden, als die Navajo versuchten, ihn zu einer Stammesfamilie zu bringen.

Die Zeitung zitiert auch Kandis Martine, stellvertretende Generalstaatsanwältin der Navajo Nation: Es möge zwar schmerzhaft erscheinen, Kinder aus Pflegefamilien zu entfernen, in denen sie monatelang gelebt haben. Aber die Stämme müssten auch an den langen Lebensweg der Kinder denken.

«Wir fragen uns, was mit diesen Kindern in Zukunft geschehen wird und wie man ihnen das alles erklären wird», sagte sie. «Wie wird man ihnen sagen, dass ihr Stamm und ihre Familie für sie gekämpft haben, aber diese nicht-einheimische, nicht-verwandte Familie gewonnen hat?»

Es ist nicht einfach, die Situation in einem speziellen Fall zu entscheiden, ohne das historische Trauma sowie den kulturellen Überlebenskampf der amerikanischen Ureinwohner ausser acht zu lassen. 

«Eine leibliche Mutter, Pflege- und Adoptiveltern und der Staat Texas fechten das Gesetz aus mehreren verfassungsrechtlichen Gründen an. Sie argumentieren, es überschreite die Befugnisse des Bundes, verletze die Souveränität des Staates und diskriminiere auf der Grundlage der Rasse», schrieb Richterin Amy Coney Barrett für die Mehrheit. «Die Vereinigten Staaten, denen sich mehrere Indianerstämme angeschlossen haben, verteidigen das Gesetz.»

Neben den Navajo waren auch die Stämme der Cherokee, der White Earth Band of Ojibwe und des Ysleta del Sur Pueblo Beklagte in diesem Fall.

Richter Brett Kavanaugh stimmte mit der Mehrheit überein, schrieb aber, dass das ICWA auf der Rasse basiert – insbesondere auf einem hypothetischen Szenario, in dem «einem angehenden Pflege- oder Adoptivelternteil in einigen Fällen die Möglichkeit verweigert werden kann, ein Kind aufgrund seiner Rasse zu pflegen oder zu adoptieren». Es werfe bedeutende Fragen nach den Grundprinzipien des gleichen Schutzes und den Präzedenzfällen dieses Gerichts auf.

«Die Gerichte, einschliesslich dieses Gerichts, werden in der Lage sein, sich mit der Frage des gleichen Schutzes zu befassen, wenn sie ordnungsgemäss von einem Kläger mit Klagebefugnis aufgeworfen wird – zum Beispiel von einem angehenden Pflege- oder Adoptivelternteil oder einem Kind in einem Fall, der sich aus einem staatlichen Pflege- oder Adoptionsverfahren ergibt», so Kavanaugh weiter.

«Die Fragen sind kompliziert», fasste Barrett zusammen. «Aber unterm Strich weisen wir alle Anfechtungen gegen das Gesetz zurück, einige in der Sache selbst, andere wegen mangelnder Klagebefugnis».

«Heute hat der Oberste Gerichtshof erneut entschieden, dass das ICWA, das seit mehr als 40 Jahren als Goldstandard in der Kinderfürsorge gilt, verfassungsgemäss ist», sagte Chuck Hoskin Jr., Principal Chief der Cherokee Nation, in einer Erklärung. «Die heutige Entscheidung ist ein grosser Sieg für die indigenen Stämme, die Kinder und die Zukunft unserer Kultur und unseres Erbes. Sie ist auch eine umfassende Bestätigung der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Verfassungsprinzipien, die die Beziehungen zwischen dem Kongress und den Stammesnationen regeln.»

«Wir hoffen, dass diese Entscheidung den politischen Angriffen ein Ende setzt, die darauf abzielen, die Souveränität der Stämme zu schmälern und Instabilität im gesamten Indianerrecht zu schaffen, die schon zu lange andauern», fügte Hoskin hinzu. «Mit ihrer Entscheidung auf der Seite der Gesundheit und Sicherheit von Kindern, der US-Verfassung und jahrhundertealter Präzedenzfälle sind die Richter auf der richtigen Seite der Geschichte gelandet.»

Als Reaktion auf das Urteil des Obersten Gerichtshofs vom Donnerstag sagte Haaland, dass die Bundespolitik fast zwei Jahrhunderte lang die gewaltsame Entfernung indianischer Kinder aus ihren Familien und Gemeinschaften durch Internate, Pflegefamilien und Adoptionen gefördert habe.

«Diese Politik war ein gezielter Angriff auf die Existenz der Stämme und hat Kindern, Familien und Gemeinschaften ein Trauma zugefügt, das die Menschen noch heute spüren», fügte sie hinzu. «Der Kongress verabschiedete 1978 den Indian Child Welfare Act, um dieser Politik ein Ende zu setzen.»