Sterbebegleiterin des Alten, Hebamme für das Neue: Joanna Macy
Joanna Macy war die grosse alte Dame der «Zeit des grossen Wandels». Am Samstag ist sie verstorben, sie wurde 96 Jahre alt. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir noch einmal das Porträt von ihr aus unserem Heft: «Widerstand ohne Gegnerschaft».
Joanna Macy
Auf Wiedersehen, Joanna Macy! Foto: Geseko von Lüpke

Ihr Lebenslauf gleicht einem Slalomkurs zwischen engagierter Aktion, holistischer Wissenschaft und geistiger Suche. Die Weltenwandlerin Joanna Macy pendelte über viele Jahrzehnte zwischen altem Wissen und neuen Weltbildern, Meditation und Aktivismus hin und her, bis sie alles zusammenbringen konnte: als Philosophin, Systemwissenschaftlerin, Theologin, globale Älteste! Wer sich einliess auf den Blick aus diesem wunderschönen Faltengesicht, begegnete tiefer Liebe, einem guten Stück Erleuchtung und einem weisen Stolz auf gelebtes Leben. Denn fast überall, wo heute schon das Morgen gelebt wird, brachte Joanna Macy erfolgreich Menschen dazu, sich für eine lebensfähige Zukunft zu engagieren.

Sie studierte Politik und Religionsgeschichte, war Mitarbeiterin im US-Aussenministerium, dann Bürgerrechts-Aktivistin, pendelte zwischen Gewerkschaftsarbeit und spirituellen Lehrern. Als westliche Entwicklungshelferin in Nordindien wurde sie bald zur Meditationsschülerin bei den tibetischen Buddhisten, die ihr anvertraut waren – und bekam ihrerseits seelische «Entwicklungshilfe». Sie wollte klug singhalesischen Bauern helfen, die dann aber ihr zeigten, wie Leben und Gemeinschaft geht. Ein halbes Jahrhundert wob sie intuitiv, scheinbar ziellos und voller Herz an der verrückten Patchwork-Decke ihres Lebens. Zurück in Amerika – in den 1980ern – schaffte sie schliesslich die Synthese, promovierte, wurde Professorin für Systemtheorie und vergleichende Religionswissenschaft, zugleich weltweite Ökoaktivistin und buddhistische Lehrerin.

Diese ungewöhnliche Mischung liess ungewöhnliche Gedanken in der Weltbürgerin reifen. Aus ihrer «Verzweiflungs- und Ermutigungs»-Arbeit während des nuklearen Wettrüstens wuchs die Tiefenökologie als Antwort auf den Krieg gegen die Natur und schliesslich ihre weltweite Netzwerkarbeit, die «wieder verbindet».

Wenn Joanna Macy uns klarmachen wollte, welche Verantwortung wir für die Welt haben, dann griff sie weit voraus: «Stell dir vor, du lebst in 500 Jahren, der Atommüll beginnt, aus unterirdischen Lagern ins Grundwasser auszutreten und führt zu Missbildungen bei deinen Kindern. Wenn du dann herausfindest, dass das die Schuld deiner Vorfahren ist, die das Zeug einfach vergraben haben, würdest du wohl kaum danach fragen, wie der zuständige Umweltminister damals hiess – nein, für dich wäre es die ganze Generation, die die Verantwortung trägt!»

Die Urgrossmutter Joanna Macy zog die Kraft für ihre Arbeit immer wieder daraus, sich in Gedanken mit zukünftigen Generationen zu verbinden, um dann – stellvertretend für diese – heute zu handeln. Es ging ihr nicht um Apokalypse und «last generation», sondern um die Dankbarkeit für das Leben, um den Mut, auf Schatten zu schauen, sowie um ein Weltbild der Verbundenheit – um dann spirituell verwurzelt, emotional geklärt und mit Vernunft ins Handeln zu kommen.

«Du musst nicht immer gegen etwas sein, um Gutes zu tun!», sagte sie und kritisierte Formen des Widerstands-Aktionismus, die allzu oft das reproduzieren, was sie zu bekämpfen vorgeben: «Etwas voller Wut zu bekämpfen, erhält die Aggression aufrecht. Es kann dazu führen, dass man dann nur um Macht und Vorherrschaft ringt. Darin verstricken wir uns, aber lösen nichts!»

Joanna Macy versuchte, in die politische Aktion hereinzubringen, was sie im engagierten Buddhismus gelernt hat: «Wir müssen zeigen, dass wir weiser sind und uns gemeinsam für das Leben einsetzen.»

«Wenn künftige Generationen auf das Ende des 20. und den Beginn des 21. Jahrhunderts zurückblicken, werden sie wahrscheinlich von ‹der Zeit des grossen Wandels› sprechen», sagte sie. «Denn jetzt geschieht die Transformation von einer industriellen Wachstumsgesellschaft hin zu einer Gesellschaft, die das Leben langfristig erhält.»

Ihre erstaunliche Botschaft lautete: Dieser Wandel ist in vollem Gange, er geschieht Tag für Tag, obwohl wir ihn angesichts der Katastrophen und Kriege oft übersehen. Ganz optimistisch glaubt sie, dass dieser Wandel wirken wird – wenn nicht heute oder morgen, dann übermorgen: «Wenn es künftige Wesen gibt, werden sie mit Respekt, Mitgefühl und Dankbarkeit für das auf uns zurückblicken, was wir in der Zeit des grossen Wandels getan haben, um ihre Existenz zu ermöglichen.»

Von grossen Aufgaben liess sich die alte Dame nicht schrecken. Nie, sagt Joanna Macy, war die Gelegenheit zu grundsätzlicher Veränderung grösser. Denn gerade, wenn alte Werte wertlos werden und die Menschen ängstlich einer ungewissen Zukunft entgegengehen, ist der Boden für das Neue bereitet. Deshalb sah sie in jeder Krise den Vorboten einer Wende.

Der grosse Wandel kündigt sich auf drei Ebenen an: Widerstand gegen Zerstörung, friedlich-kreativer Aufbau von Alternativen sowie ein grundlegender Bewusstseinswandel.

Die am deutlichsten sichtbare Ebene ist die Ebene der Aktionen, die Zerstörung von sozialen und ökologischen Systemen zu bremsen: politische Aktionen, Gesetzesinitiativen, aktive Einmischung durch Bürgerinitiativen und friedlicher Widerstand.

Die meisten Aktivisten identifizieren sich mit Protest auf der Strasse, Blockaden oder Demos vor Gerichtsgebäuden. Sie lassen sich mit Schlagstöcken von der Strasse jagen, nehmen Strafen in Kauf, erreichen kurzfristig grösste Öffentlichkeit – und leiden meisten bald schon an dem Gefühl, ausgebrannt zu sein, weil sie die Welt doch nicht haben retten können.

«Diese Arbeit ist enorm wichtig!», findet Joanna Macy. «Doch sie reicht allein nicht aus.»

Wer gegen etwas ist, müsse auch für etwas sein. Widerstand müsse sich mit kluger Analyse verbinden und aus Fehlern lernen. Macy geht es darum, dass die Menschen die Dynamik der Zerstörung zu durchschauen beginnen und ihren eigenen Anteil daran erkennen, statt sich nur als Opfer einer unabwendbaren Katastrophe zu fühlen.

Notwendig ist die zweite Ebene, bei der man fragt, welche Alternativen dazu eingebracht und ausprobiert werden können, um Modelle für eine lebenserhaltende Gesellschaft zu entwickeln.

Auf dieser zweiten Ebene der Transformation geschieht seit einem halben Jahrhundert unendlich viel: Zivilgesellschaftliche Initiativen haben Menschenrechte durchgesetzt, Kriege beendet, Bildung reformiert, Umweltgesetze vorgedacht, Reformschulen errichtet, Frauen- und Kinderrechte erkämpft, Slums beseitigt, Komplementär-Währungen geschaffen, Ökodörfer gegründet, alternative Gesundheitssysteme erdacht – sie haben zahllose Modelle einer anderen Zukunft geschaffen für den Moment, wenn das konventionelle System wankt und zusammenbricht.

«Flösse zu bauen, für den Moment, wo die Titanic sinkt, ist unverzichtbar», sagt Joanna Macy und betont zugleich: «Aber auch das reicht nicht aus, um den Grossen Wandel zu schaffen!»

Wir brauchen – davon war sie überzeugt – noch eine dritte grundsätzliche Ebene, auf der nach den tiefsten Motiven der Menschen gefragt wird. Also: Wer sind wir? Was brauchen wir? Was wollen wir wirklich?

«Das ist die Ebene des Bewusstseinswandels, wo wir unsere Wahrnehmung schulen und unsere Bedürfnisse neu formulieren, unser Selbstbild neu bestimmen, unsere Beziehung zur Welt überdenken und neu gestalten. Da passiert gerade in ungeheurem Tempo eine Revolution.» Sie geschieht überall, jeden Tag, auf allen Kontinenten, in allen sozialen Gruppen, in Milliarden von Menschen verschiedenster Gesellschaften und Kulturen.

Keine Ebene allein kann den grundlegenden Wandel schaffen, erst die Kombination dieser drei: Widerstand gegen Zerstörung, friedlich-kreativer Aufbau von Alternativen und ein grundlegender Bewusstseinswandel bilden den Dreisprung in die Zukunft.

Sie wusste, dass Bewusstseinswandel geschieht, wenn wir unsere Beziehung zur Mitwelt, zu den Menschen und zu uns selbst verändern. Bewusstseinswandel geschieht, wenn wir wach und mit allen Sinnen in der Welt sind. Wenn wir uns erinnern, dass wir selbst Natur sind, und nicht die Augen vor dem verschliessen, was in der Welt geschieht:

Ich glaube, dass von allen Gefahren, die uns drohen keine so gross ist wie die Verdrängung. Denn dann passiert all das unkontrolliert.

Da sprach aus ihr auch die Systemwissenschaftlerin. Selbstorganisierende Systeme – ob es nun eine Gemeinde, eine Nation oder ein Planet ist – funktionieren wie ein lebender Organismus und sind ein System, das sich bei Fehlentwicklungen immer wieder selbst korrigiert: «Wenn wir alle Gefahren verdrängen, ist das Feedback blockiert. Ein System, das sich weigert, die Konsequenzen seines Handelns zu sehen, ist in letzter Konsequenz selbstmörderisch.»

Joanna Macy war sich bewusst, dass sie hier einen wunden Punkt berührt. Denn weil uns die Krise zu viel wird, lassen wir uns nicht mehr berühren von diesem Wissen. Das ist, als läge unsere Hand auf einer heissen Herdplatte und wir blieben teilnahmslos, obwohl der Rauch schon aufsteigt.

Sie wollte, dass wir den Schmerz wieder wahrnehmen, die Psychopharmaka zur Seite legen, den einschläfernden Konsum beenden. Je dunkler die Wolken über dem Weg in die Zukunft sind, desto mehr reagieren wir mit einem altbekannten Gefühl, sagte sie: «Mit Angst! Entweder sie führt zu Panik, zu irrationalem Verhalten. Dann wächst die soziale Hysterie und äussert sich in religiösem Fundamentalismus, in Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Oder sie fühlen sich gelähmt gegenüber allen politischen und sozialen Problemen. Und das bedeutet: Sie machen dicht!»

Die Menschheit ist Teil der Natur!

Was Joanna Macy mit ihren Büchern, Vorträgen, Seminaren und Übungen bezweckte, war Menschen dabei zu unterstützen, aufzuwachen, sich selbst als Natur zu begreifen und die bedrohte Welt da draussen wie einen Teil der eigenen Person zu schützen. Wenn Menschen sich von der Natur verabschieden wollen, verabschieden sie sich vom Leben, sagte sie.

Sie selbst hat das nie getan.


heftDen Text haben wir mit wenigen Veränderungen aus unserem Heft «Widerstand ohne Gegnerschaft» übernommen.

Geseko von Lüpke

Geseko von Lüpke
Geseko von Lüpke

Geseko von Lüpke ist Autor zahlreicher Bücher. Seine Recherchen führten ihn zu Begegnungen mit bedeutenden und charismatischen Menschen in aller Welt, die er in mehreren Interview-Bänden veröffentlichte. Es sind Vertreter einer neuen Wissenschaft, einer ganzheitlichen Ökologie und Kulturkritiker. Darunter der philippinische Soziologe, Umweltaktivist und Träger des Alternativen Nobelpreises Nicanor Perlas, der australische Umweltaktivist John Seed, der sich für den Erhalt des subtropischen Regenwaldes einsetzt, sowie die buddhistische Öko-Philosophin Joanna Macy aus Berkeley, dem norwegischen Philosoph und Mitbegründer der Tiefenökologie Arne Naess und dem amerikanischen Kulturkritiker Charles Eisenstein.

Seit 2000 ist Geseko von Lüpke neben seiner Arbeit als Autor und Schriftsteller auch als Seminarleiter Ökopsychologie, Ökopädagogik und Tiefenökologie tätig, als Ausbilder in den Bereichen (seit 2005) und war 2001 Mitbegründer des 'Netzwerks Visionssuche', einem Berufsverband ökopsychologisch und initiatorischer Seminarleiter.

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