Palästinensische Jugendliche schreiben Testamente, und das aus gutem Grund

Als Abdel Rahman Hamad von der Schule nach Hause ging, schoss ihm ein israelischer Soldat in den Bauch und tötete ihn. Nach seinem Tod tauchte ein Brief auf, den er ein halbes Jahr zuvor an seine Familie geschrieben hatte. Er ist einer von vielen Teenagern im Westjordanland, die ihr Testament schreiben. (Weiter unten Veranstaltungshinweise von Swiss-Palestine-Network.)

Mauer Palästina
Er bat, seinen Tod nicht zu betrauern. Foto: Justin McIntosh

Abdel Rahman Hamad hat einen letzten Willen geschrieben. Das schreibt Gideon Levy, Mitherausgeber der kritischen israelischen Zeitung Haaretz, in einer Reportage. Es sei ein «langer Text mit detaillierten Anweisungen, in seiner akribischen Handschrift.» Immer mehr palästinensische Jugendliche im besetzten Westjordanland, der Journalist weiter, schrieben in diesen Tagen ihr Testament, und nach den Ereignissen im Gazastreifen sogar mit noch grösserer Intensität. Levy weiter: «Hamad bat darum, so schnell wie möglich beerdigt zu werden, und bat seine Familie, ein gutes Foto von ihm als Profilfoto in den sozialen Netzwerken zu verwenden, einen Gebetsvers daneben zu stellen, vor allem aber, seinen Tod nicht zu betrauern.»

Legt mich nicht in eine Gefriertruhe, begrabt mich sofort. Legt mich auf mein Bett, deckt mich mit Decken zu und bringt mich zur Beerdigung. Wenn ihr mich ins Grab hinab lasst, bleibt hinter mir. Aber seid nicht traurig. Ich will nicht, dass jemand traurig ist.

Laut Levy schrieb Hamad das Testament am 18. Juli letzten Jahres und gab es einem Freund zur Aufbewahrung. Ein Foto des Textes ist auf dem Mobiltelefon des Vaters gespeichert.

Levy weiter: «Iyad Hadad, ein Feldforscher der israelischen Menschenrechtsorganisation B'Tselem, übersetzt und liest ihn uns vor. Plötzlich verschluckt er sich, bevor er in herzzerreissende Tränen ausbricht, die nicht mehr aufhören wollen. Wir haben Hadad noch nie weinen sehen. Er befasst sich seit 1986 mit den Menschenrechten in den Besetzten Gebieten, zunächst für die palästinensische Organisation Al Haq und seit 24 Jahren für B'Tselem. Er hat alles gesehen, untersucht jeden Fall von Tötung und anderen Verbrechen der Besatzung im gesamten Gebiet von Ramallah, und jetzt weint er hemmunngslos. Der letzte Wille eines Jungen, der noch keine 18 Jahre alt war, hat ihn erschüttert.»

Am 29. Januar reisten die Journalisten in das Dorf Al-Mazra'a a-Sharqiya, um die Umstände der Ermordung von Tawfic Abdeljabbar, einem amerikanischen Teenager, zu untersuchen, der von israelischen Soldaten oder Siedlern – oder beiden – erschossen worden sei. Auf dem Weg dorthin kamen sie durch die Stadt Silwad. Als sie in Al-Mazra'a a-Sharqiya ankamen, erfuhren sie, dass ein weiterer Jugendlicher getötet worden war, diesmal in Silwad, kurz nachdem sie die Stadt verlassen hatten. Jetzt kehrten sie nach Silwad zurück.

Die Stadt, so berichtet Levy, liegt in der Nähe des Highway 60, der Hauptverkehrsader des Westjordanlandes, auf der Siedler fahren und auf die Steine geworfen werden. In den letzten fünf Jahren habe Silwad sieben seiner Söhne verloren; der Hamas-Führer Khaled Mashal wurde 1956 hier geboren und wuchs in der Stadt auf.

Levy schreibt auf, was man ihm erzählte: «Es war ein Montag, und Abdel Rahman war auf dem Heimweg von der Schule.» In den sozialen Medien sei verkündet worden, dass die israelische Armee, die kurz nach 8 Uhr morgens in die Stadt eingedrungen war, mit dem Abzug begonnen hatte. Doch auf der Strasse, die Abdel Rahman anscheinend allein entlangging, standen immer noch zwei gepanzerte israelische Fahrzeuge: ein Polizei-Jeep und ein Armeefahrzeug. Die Strasse verläuft parallel zu der Allee mit den im Bau befindlichen Häusern am Hang des Hügels, und im Nachhinein stellte sich heraus, dass sich zwischen den Rohbauten der Villen, die alle der Grossfamilie Qassam gehören, noch einige Jugendliche versteckt hielten. Sie verfolgten die abziehenden Sicherheitskräfte und warteten auf eine Gelegenheit, sie mit Steinen zu bewerfen.

Plötzlich habe sich die Tür eines der geparkten Fahrzeuge geöffnet. Ein Soldat oder ein Grenzpolizist streckte, so die Erzählung, seinen Körper heraus und feuerte einen einzigen, ebenso präzisen wie tödlichen Schuss direkt in Abdel Rahmans Magen. Die Entfernung zwischen dem Scharfschützen und seinem Opfer betrug etwa 150 Meter, und der Jugendliche stand weiter oben auf der Strasse als der Schütze. Unmittelbar danach wurde die Tür des gepanzerten Fahrzeugs geschlossen und beide Fahrzeuge fuhren davon. Sie schossen, sie töteten, sie flohen.

Levy: «Sie haben das Leben eines Jugendlichen beendet und das Leben einer Familie zerstört, obwohl es unwahrscheinlich ist, dass sie dies auch nur eine Sekunde lang in Betracht gezogen haben. Selbst wenn Abdel Rahman einen Stein oder (wie die Polizei behauptet) einen Molotowcocktail geworfen hätte, hätte er das Leben der Soldaten und Grenzpolizisten nicht im Geringsten gefährden können. Auf diese Entfernung hatte er keine Chance, die gepanzerten Fahrzeuge zu treffen. Aber warum sollte man das Leben eines Jugendlichen nicht beenden, wenn man es kann? Immerhin wird sich danach niemand dafür interessieren, abgesehen von der erschütterten Familie.»

Levy wurden Videoaufnahmen gezeigt, die ein Anwohner ungesehen durch die Krone eines Olivenbaums im Garten aufgenommen hatte. Levy: «Sie zeigen eine erstaunlich ruhige und beschauliche Strasse, in der keine Steine und keine Molotowcocktails durch die Luft fliegen. Plötzlich wird die Stille durch einen Schuss aus der Richtung eines der gepanzerten Fahrzeuge unterbrochen. Unmittelbar danach sieht man Sanitäter, die aus einem in der Nähe geparkten Krankenwagen kommen, auf das Opfer zulaufen, während die beiden israelischen Fahrzeuge schnell in die entgegengesetzte Richtung davonfahren. Die Helden hatten ihr Tagewerk vollbracht - Zeit zu gehen.»

Der Armee-Sprecher verwies die Haaretz-Reporter an die Grenzpolizei. Ein Sprecher der israelischen Polizei (der die Grenzpolizei unterstellt ist) erklärte diese Woche auf Anfrage von Haaretz:

Während des Einsatzes der Sicherheitskräfte warf der Verdächtige einen Molotowcocktail auf die Kämpfer und gefährdete ihr Leben. Daraufhin schoss ein Kämpfer auf ihn und neutralisierte die Gefahr.

Abdel Rahman war, so schreibt die Zeitung, der erstgeborene Sohn von Abdel Rahim, 44, und seiner Frau, Inam Ayad, 42. Er war Schüler der 12. Klasse, im naturwissenschaftlichen Zweig. «Sein Ziel war es, Medizin zu studieren, und so arbeitete er vor den Reifeprüfungen hart, nicht nur um die Zulassung zur Medizinischen Fakultät zu erhalten, sondern auch in der Hoffnung, ein Stipendium zu bekommen. Er spielte in der Fussballmannschaft von Silwad, widmete aber in den letzten Monaten seine ganze Zeit dem Studium, so auch in der letzten Nacht seines Lebens.»

An dem betreffenden Morgen habe sein Vater das Haus um 6:30 Uhr verlassen. Um 11:30 Uhr habe die Mutter ihren Mann angerufen und ihm mitgeteilt, dass die Armee in Silwad einmarschiert sei. Sie habe ihn gebeten, ihren jüngeren Sohn, den 15-jährigen Sliman, der in der Stadt auf dem Bau arbeitet, anzurufen, um sich zu vergewissern, dass es ihm gut geht. Um Abdel Rahman machten sie sich keine Sorgen, da sie wussten, dass er in der Schule war.

Um 12 Uhr rief Abdel Rahim seine Frau an. «Was ist los?», fragte er und erfuhr, dass das Stadtzentrum von einer Tränengaswolke bedeckt war, die in die Häuser eindrang. Hauptsache, den Kindern geht es gut, dachte der Vater. Um 12:30 Uhr erhielt er einen anonymen Anruf, der ohne Wort beendet wurde. Einige Minuten später habe sein Bruder angerufen und ihn aufgefordert, schnell nach Hause zu kommen. Und warum? «Ubeida wurde verwundet» – so der Spitzname von Abdel Rahman. Levy schreibt in seinem Bericht weiter: 

«Ich wusste nicht, was ich tun sollte», erinnert er sich. «Ich war völlig verwirrt. Ich griff nach der Telefonnummer von Ubeida und rief ihn an. Ein palästinensischer Krankenwagenfahrer nahm ab.» Er fragte, wie es seinem Sohn gehe, und der Fahrer antwortete: «Es geht ihm gut. Ich werde Sie bald auf dem Laufenden halten.» Einen Moment später rief sein Bruder an und sagte erneut: «Komm zurück in die Stadt, und zwar schnell.»

Inzwischen muss der Vater begriffen haben, dass sein Sohn tot war.  Als er im Krankenhaus ankam, sackte er ohnmächtig auf dem Boden zusammen. An die folgenden Minuten kann er sich nicht mehr erinnern.

Levy schreibt: «An der Wand des eleganten Wohnzimmers hängen Fotos des toten Jugendlichen. Eines der Bilder besteht aus den Porträts der drei Familienmitglieder, die im Laufe der Jahre von israelischen Truppen getötet wurden: Abdel Rahman in der Mitte, flankiert von seinen beiden toten Onkeln. Sein Onkel Jihad Iyad, der Bruder seiner Mutter, wurde 1998, als er 17 Jahre alt war, von israelischen Soldaten getötet; der andere Onkel, der Bruder seines Vaters, Mohammed Hamad, wurde 2004, im Alter von 21 Jahren, von Soldaten getötet. Abdel Rahman kannte keinen von ihnen. Sein Vater fügt im Flüsterton hinzu, dass auch sein eigener Onkel 1989 getötet wurde, und wieder senkt sich eine bedrückende Stille über den Raum.»


Gideon Levy (* 1953) ist ein israelischer Journalist und Mitglied des Herausgeberkreises der Tageszeitung Haaretz.

Der Artikel erschien in Haaretz / Israel


Veranstaltungshinweise des Swiss-Palestine-Network: (mehr)

Bern - Breaking the Silence, Dienstag, 5. März 2024 19:00
Casa d’Italia, Bühlstrasse 57, Bern, 2. Stock

Die Referentin setzt de Krieg im Gazastreifen in den Kontext der israelischen Besatzung und wirft ein Licht auf die SiedlerInnengewalt und die Vertreibungen in der Westbank, die ebenfalls eskalieren.

Zürich: Mahnwache Paradeplatz, Freitag, 8. März 2024 12:30
Mahnwache - Für einen gerechten Frieden in Israel / Palästina

Bern: Mahnwache - Heiliggeist Kirche / Bahnhofplatz, Freitag, 8. März 2024 12:30
Mahnwache - Für einen gerechten Frieden in Israel / Palästina

Deutschland rüstet Israel für Völkermord auf. Online-Veranstaltung, Donnerstag, 14. März 2024, 19 Uhr  Vortrag von Dr. Shir Hever, Geschäftsführer von BIP e.V  Weitere Information hier. Organisiert vom Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e.V. (BIP): www.bip-jetzt.de


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