Tod eines Nicht-Seminarbesuchers
"Seminare und Therapien sind Versuche, Antworten zu geben, und ich nehme mir die Freiheit, zu entscheiden, ob ich zu der betreffenden Antwort überhaupt eine Frage habe." Ein satirischer Bericht, der die Spiri-, Psycho- und Seminarszene aufs Korn nimmt. (Von Roland Rottenfußer)
Am 19. Mai 2009 starb der 41jährige Rainer Thor an einer Überdosis Schlaftabletten. Rainer stand unserer Zeitschrift als Leser, gelegentlicher Besucher und Freund nahe, hatte sich aber seit längerer Zeit aus der Szene zurückgezogen. Er kam nicht mehr zu unseren Seminaren und zunehmend auch nicht mehr zu unseren Festen und Lagerfeuer-Zusammenkünften. Zum Schluss kündigte er sogar sein Abo. Niemand wusste warum. Wir vermissten ihn, aber irgendwann dachten wir auch nicht nicht mehr so oft an ihn. Sein plötzlicher Suizid war dennoch ein Schock für uns alle. Sein Tagebuch, das er bis unmittelbar vor seinem Tod geführt hat, ist ein erschütterndes Dokument schleichender Entfremdung und Vereinsamung, aber auch eine Fundgrube laienphilosophischer Betrachtungen. Wir geben hier Ausschnitte aus seinen Aufzeichnungen wieder, das er bis unmittelbar vor seinem Tod führte.
»(...) Vor einem Jahr lud mich mein Freund Hunaraj zu einem Seminar zum Thema »Spirituelle Trennung. Achtsam auseinander gehen« ein. Ich will mich nicht trennen, sage ich ihm, ich liebe die Frau, mit der ich jetzt zusammen bin, über alles. Aber was jetzt nicht aktuell sei, werde doch früher oder später mit Sicherheit auf mich zu kommen, sagt Hunaraj. Da wäre es gut, informiert zu sein, wie man Trennungen bewusster gestalten und für das spirituelle Wachstum transformativ nutzen könne. Wie bei allen anderen wichtigen Dingen des Lebens sei es auch bei Trennungen wichtig, in Übung zu bleiben. Wenn man zu lange bei ein- und derselben Frau festhänge, gehe man völlig unvorbereitet in alle weiteren Trennungen. Und die Monogamie sei sowieso ein überholtes Partnerschaftsmodell, über das der Zeitgeist hinweggehen würde wie über Duelle mit Säbeln und Pistolen. Wenn ich dann sage, wie gut es mir mit meiner Liebsten geht und dass ich immer mit ihr zusammen bleiben will, kommt immer so ein wissend-überlegenes Lächeln. »Der ist total unbewusst«, scheint dieses Lächeln zu sagen. »Massive Schattenleugung«. »Possesiv-symbiotisches Beziehungsmodell« Komisch, dass sich gerade sogenannte spirituelle Menschen so schwer tun, an Wunder zu glauben.
So geht es mir in letzter Zeit immer öfter. Niemand hatte zum Beispiel Verständnis dafür, dass ich mich hartnäckig weigerte, ein Seminar »Sinnliches Erwachen mit Power-Tantra« zu besuchen. Ich habe dem Gruppenleiter Mahalingam F. Struntz gesagt: Warum sollte ich dein Seminar besuchen? Mir fehlt einfach nichts in punkto Sinnlichkeit. Es ist ein tiefer warmer Frieden in unserer Zärtlichkeit. Es ist wie Nachhausekommen mit ihr und zugleich zum Herzzerspringen aufregend. Es käme mir undankbar vor, jetzt an unserem Liebesleben zu »arbeiten«. Ich meine: wenn man das Eigentliche gefunden hat, welchen Reiz hat dann noch das Substrat? Wenn ich jetzt nicht innehalte und sage: »Das ist es. Das ist meine Heimat. Hier bleibe ich, danke!«, wann dann?
(...)
Ich weiß, ich bin ein schwieriger Fall. Ich lese praktisch keine Bücher mehr. Aber mindestens eine Stunde am Tag verbringe ich damit, selbst ein Buch zu schreiben. Ich beobachte auch die Pflanzen auf meinem Balkon, wie sie wachsen, am liebsten meine lachsfarbenen Rosen in der Abendsonne Im April sind die weißen Blüten an meinem Mandelbäumchen zum ersten Mal richtig dicht gewachsen. All das macht mir viel Freude, aber es bringt niemandem ein Einkommen, außer dem Händler, der mir Erde und gelegentlich eine Neuerwerbung in meinem Pflanzenpark verkauft. (...)
Es gibt Nichtraucher und es gibt Antialkoholiker. In eben diesem Sinn bin ich im Laufe der letzten Jahre zu einem Nicht-Seminarbesucher geworden. Ob ich mich etwas für perfekt halte, fragen mich meine Freunde dann, ob ich glaube, ich hätte nichts mehr zu lernen. Ich sage dann immer: ich lerne doch viel: Ich lerne von meinem Mandelbäumchen, dass der Rausch der weißen Blüten immer nur kurz ist, die Zeit, wo die Blätter noch grün sind, aber sehr lang. Auch der Winter kommt unvermeidlich, aber bis dahin ist noch lange. Das hilft mir, auch meine Beziehung zu der Liebsten zu verstehen und überhaupt alles, was schön und kostbar ist. Alle Wesen, die mir begegnen, sind meine Meister. Ich lerne durch das Leben selbst, und ich glaube, so ist es auch vorgesehen.
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Und klar geht’s mir manchmal auch schlecht. Klar habe ich meine Macken weg aus der Kindheit, aber ich habe gelernt, damit zu leben. Im ganz Wesentlichen bin ich o.k. Ich mag mich so, und meine Liebste mag mich auch. Wenn man ein Seminar macht, verlässt man sich vielleicht zu sehr auf die Wirkung des Seminars und denkt »Jetzt muss ich im konkreten Leben nichts mehr tun«. Und dann merkt man, Wochen nach dem Seminar, dass man in den grundsätzlichen Dingen nicht weiter gekommen ist, und die einzige Lösung scheint zu sein: ein neues Seminar. Na, und dann denken sich die Selbstheilungskräfte: »Der braucht uns ja gar nicht mehr, der vertraut uns wohl nicht«, und sie verkümmern.
Mit den Meistern ist es ja genauso. Immer wieder versuchen mich Freunde zu überreden, zu einem Meister mitzukommen, und sie finden es überheblich, wenn ich sage: »Ich bin mein eigener Meister.« Der ist doch viiiel größer und bedeutender als ich. Ein Freund von mir hat einmal so argumentiert »Ich kann mich mit aller Kraft nach oben dehnen und strecken und sehe doch nie so weit, wie jemand, der sich auf die Schultern eines Riesen setzt«. Und ich habe ihm geantwortet: »Wer sich auf die Schultern eines Riesen setzt, sieht so weit, dass er glaubt, nicht mehr selber wachsen zu müssen. Und wenn dieser Riese dann einmal nicht mehr da ist, merkt man, dass man noch genauso klein ist wie vorher.«
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Genauso mit diesen Seminaren: »Werde, der du bist«. Ich soll da viel Geld hinlegen, um »eine authentische und integere Persönlichkeit zu werden, die von Fremdsuggestionen und gesellschaftlichen Programmierungen unbeeinflusst ihren Weg geht.« Ich sag, ich fühl mich eigentlich authentisch genug. »Kommst doch mit zum Individualismus-Training«, haben da alle meine Freunde auf mich eingeredet. »Alle machen mit, der Frank und die Ines und die Sushita, und gerade du willst dich wieder ausschließen. Find ich echt total unbewusst von dir.« Das Schlimme ist, um all das Geld ranzuschaffen, um der zu werden, der ich bin, müßte ich mich an einen Job verkaufen, in dem ich gezwungen wäre, genau das Gegenteil von dem zu sein, was ich bin.
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Dann jammert mir dieser Seminarleiter vor, wie schwer er es hätte, und dass die Marktlage für seinen Berufsstand ganz schlecht wäre. Die Besucherzahlen sinken kontinuierlich. Daran ist die allgemeine Wirtschaftslage schuld und auch der Generationenwechsel. Die jüngeren Leute sind einfach nicht mehr so bereit, in harten Encounters an ihre Traumata ranzugehen. Kein Vergleich zu den goldenen Zeiten, wo es üblich war, drei Monate lang jeden Morgen die Dynamische zu machen. Ich begriff allmählich, warum es so wichtig ist, Seminare zu besuchen: um Seminarleitern einen Gefallen zu tun. All diese freundlichen Menschen brauchten mich, sie brauchten meine Hilfe. Aber dann sollen sie’s doch gleich ehrlich sagen und mir nicht weismachen, dass sie mir helfen wollen.
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Die Nichtseminarleiterquote in unseren Kreisen war in den letzten Jahren drastisch abgesunken. Fast jeder meiner Bekannten wollte etwas Eigenes auf die Beine stellen, sich aus Bruchstücken traditioneller Verfahren ein Seminarkonzept zusammenmontieren. Frau Meier schuf »Heike Meier’s THE METHOD«, und Herr Huber enwickelte eine neue Variante des Integrativ-transformativen Fokussierens, das »Hubering«, Klingt alles wunderbar. Nur bei all diesen schönen geistigen Höhenflügen haben die Veranstalter vergessen, sich zu fragen: Wer soll all diese Seminare eigentlich besuchen?
Umso größer war natürlich der Run auf Leute wie mich, den kostbarsten Rohstoff der Szene: den einfachen Teilnehmer, der keine Ambitionen hat, selbst zu Lehrer zu sein. Wer selbst nicht Lehrer sein will, so der Trugschluss, müsse doch bereit sein, Geld für das Belehrtwerden locker zu machen. Aber mit jemandem wie mir hat wohl niemand gerechnet: niemands Herr und niemands Knecht, niemands Lehrer und niemands Schüler, niemands Therapeut und niemands Patient – einfach ich, in Harmonie und Frieden mit mir und meiner Umgebung und, wo einmal Störungen dieses Gleichgewichts auftreten, bereit und in der Lage, dies selbst zu steuern und zu beheben.
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Seminare und Therapien sind Versuche, Antworten zu geben, und ich nehme mir die Freiheit, zu entscheiden, ob ich zu der betreffenden Antwort überhaupt eine Frage habe. Im Moment habe ich nur wenige Fragen, nicht weil ich alles wüßte, sondern weil das, was ich weiß, in einem angemessenen Verhältnis steht zu dem, was ich wissen will. Ich respektiere das Geheimnis, das über großen Teilen unserer Existenz und der menschlichen Seele liegt.
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Ich weiß, ich bin der absolute Alptraum – nicht nur der Konsumgesellschaft, darauf war ich immer stolz –, sondern auch der alternativen Seminar- und Psychoszene. Würde die Psycho- und Spiriszene mit ihrem Beratungs- und Therapie-Angebot tatsächlich jenen freien, erfüllten Menschen schaffen, den sie angeblich anstrebt, so wäre das ihr wirtschaftliches Ende. Ich weiß, was ich schreibe, klingt bitter und zynisch. Es kommt vielleicht davon, dass ich mich von meinen spirituellen Freunden nach und nach immer mehr isoliert habe. Wenn es nur solche wie mich gäbe, würde der ganze Markt wegbrechen, und das schmerzt mich, denn ich mag sie doch alle echt gern, unsere (Halb-)Wahrheitslehrer, Therapeuten und Seminarleiter. Das Problem ist nur: Ich habe mir eine Lebensweise angeeignet, in der ich ihre Dienste nicht in Anspruch nehmen muss. Ich falle als zahlender Zu-Therapierender und Zu-Belehrender völlig aus. Leute, die selber gehen können, sind nun mal keine gutes Geschäft für Krücken-Hesteller.
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Was ich nicht bedacht hatte ist: wie viel Kraft es kostet, auf Dauer allein gegen eine überwältigende Mehrheit zu stehen. Ich habe nicht geahnt, wie isoliert man sich fühlen kann, wenn man versucht, so zu leben, wie viele spirituelle Lehren es ja gerade lehren: nicht streben, nicht suchen, sich nicht abstrampeln auf der Suche nach einem immer weiter in die Ferne rückenden Ziel. Einfach sein. Es genügt eben nicht, für sich selbst »rund« zu sein, der Mensch braucht ein soziales Umfeld, in dem er sich über gemeinsame Werte verständigen kann. Ich weiß nicht mehr, wo ich hingehöre. »Der Winter ist noch weit« habe ich gesagt, aber für mich, fürchte ich, ist er ganz nah. Es wird kalt!
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Meine Liebste kümmert sich rührend um mich. Es ist, als würde sie um meine Seele kämpfen. Sie sagt immer, sie habe das Gefühl, ich entgleite ihr. Sie möchte mir die Hand hinstrecken, damit ich nicht versinke, aber sie weiß nicht, ob sie die Kraft hat, mich zu halten. »Ich liebe dich mehr als ich je einen Menschen geliebt habe«, sagt sie. »Und ich liebe dich so wie du bist. Genügt dir das nicht? Vergiss nicht, woran wir beide geglaubt haben. Du hast es doch selber immer gesagt: Nichts und niemand hat das Recht uns einzureden, dass wir anders sein sollten als wir sind.« Sie meint es gut, meine Liebste, aber ich fürchte, sie versteigt sich da in eine blinde Vernarrtheit. Ich weiß gar nicht mehr, ob ich in dieser Weise geliebt werden möchte – ohne klaren Blick für die ernüchternde Wahrheit. Bringt mich das etwa irgendwie weiter?
(...)
Ich kann mich an ihrer unkritischen Liebe nicht mehr so richtig freuen, und auch die Mandelblüte langweilt mich diese Jahr ziemlich. Jedes Jahr das selbe. Keine Entwicklung! Und wie steht es mit meiner Entwicklung? Vielleicht haben die Anderen doch recht: Jemand der nicht bereit ist, sich auf den Weg zu machen, ist noch viel bedauernswerter als jemand, der erst am Anfang des Weges steht. Dann besser aufgeben! Leben heißt doch Entwicklung, und wer sich nicht entwickeln will, ist eigentlich schon tot. Was für ein Unrecht liegt denn darin, jemanden umzubringen, der schon tot ist?
Ich bin der überflüssigste Mensch auf der Welt, und deshalb sehe ich keinen andere Ausweg als diese Welt von meiner nutzlosen Existenz zu befreien. Lebt alle wohl!«
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