«Über Ihre weitere Verwendung sollten wir noch einmal reden»
Dezember 1973. Knochenarbeit in der Sihlpost - Mein erster Kontakt mit der Arbeiterklasse - Ein Leserbrief für den «Blick» - Die Regeln bestimme nicht ich - Als ich mich in die Welt verliebte. Chronik einer Leidenschaft. Folge 70.
Den Temporärjob bei der Sihlpost vermittelte mir mein Mitkommunarde Bruno, der mich schon auf die Waldegg gebracht hatte. Er selber war gelernter Schriftsetzer, arbeitete aber vorwiegend in der Nacht auf der Sihlpost, um vormittags jeweils nachzuschlafen und am Nachmittag Zeit für den «focus» zu haben, wo er vor allem für die Produktion zuständig war. Was er mir von seinem Job bei der Post erzählte, tönte interessant, weil ich selbst die Erfahrung, mit körperlicher Arbeit Geld zu verdienen, noch nie gemacht hatte.
Nur ein einziges Mal, mit ungefähr 14, als ich noch in Küsnacht zur Schule ging, hatte ich während der Ferien in der lokalen Migros-Filiale gearbeitet – und war schon am ersten Tag beinahe wieder gefeuert worden. Als ich auf einem Rolli einen Stapel mit Confitüregläsern zu den Gestellen befördern sollte, schob ich den Stapel so ungeschickt vor mir her, dass er kippte und die Confitüregläser am Boden in tausend Stücke zerbrachen. Ich durfte dann trotzdem bleiben, fand die Arbeit aber schon bald so sinnlos, dass ich nach einer Woche um meine Entlassung bat.
Jetzt aber wollte ich doch wieder werktätig werden. Denn ich war jetzt ein junger Linker und fühlte mich auf der Seite der Arbeiterklasse. Ich wollte die Welt der Arbeiter kennenlernen, und ich wusste von Bruno, dass in der Sihlpost nicht nur Leute wie er, Studenten und andere Aushilfen tätig waren, sondern Festangestellte, richtige «Büezer».
An meinem ersten Arbeitstag war ich zusammen mit Bruno eingeteilt in die Spätschicht. Er führte mich in die grosse Halle, wo der Paketversand stattfand, und stellte mich seinem Chef vor, der an langhaarige junge Leute inzwischen gewohnt schien. Er musterte mich von oben bis unten und verwies mich dann wieder an Bruno, der den Neuling in seine Aufgabe einführen sollte.
Die Halle war riesig, es herrschte ein grosser Lärm, und es lag ein verstaubter, etwas abgestandener Geruch in der Luft, der mich nicht mehr loslassen sollte. In der Mitte der Halle war eine Art Turm aufgebaut, von dem aus diverse metallene Rutschen nach unten führten. Ein Förderband brachte den Aushilfen, die auf der Plattform des Turmes standen, in einem unablässigen Strom neue Pakete, die sie in die Rutschen verteilten. Sie legten sie aber nicht hinein, sondern warfen sie in die Rutschen, und sie taten es ziemlich grob – was besonders bei schweren Paketen den Lärm in der Halle erklärte.
Am unteren Ende der Rutschen waren weitere Aushilfen damit beschäftigt, die heruntergerutschte Paketpost in die Waggons zu werfen, die an der Wand der Halle aufgereiht waren. Das war nun auch meine Aufgabe. Jeder der Wagen besass eine Postleitzahl der Stadt Zürich, sodass alle Pakete mit der Adresse «8031» in den entsprechenden Wagen gehörten. Sorgfältig trug ich jedes Paket an den richtigen Ort und legte es dort hinein. Ich wollte nicht schon am ersten Tag etwas falsch machen. Vielleicht war der Inhalt eines Paketes zerbrechlich.
Aber dann merkte ich, dass ich auf diese Weise viel zu viel Zeit verlor. Pakete mit zerbrechlichem Inhalt mussten ohnehin gekennzeichnet sein, belehrte mich der Typ neben mir, bevor er die nächste Schachtel schwungvoll in einen der Wagen warf. Ich schaute ihm zu und erkannte, dass das Vergnügen darin bestand, den Wagen aus der Distanz zu treffen. Dadurch kam etwas Abwechslung in das immer gleiche Verteilen – doch das Werfen wollte gelernt sein. Schon das zweite Paket, das ich in die Richtung des Wagens warf, verfehlte sein Ziel und landete auf dem Boden. Den anderen Aushilfen war das egal, doch als es mir wieder passierte, beobachtete mich ein Aufseher, ein offenbar langjähriger Postarbeiter im Übergewand. Er kam herbei und schimpfte mit mir, und er tat es sehr ernsthaft, als fühle er sich für die Sihlpost verantwortlich.
Erst später wurde mir klar, dass die Post ein Staatsbetrieb war. Der Aufseher empfand sich deshalb in keiner Weise als ausgebeuteter Proletarier, sondern als Staatsangestellter. Mein erster Kontakt mit der Arbeiterklasse deckte sich deshalb nicht so ganz mit meinen Erwartungen, und ich spürte sehr bald, dass mir die Temporären – Gymnasiasten, werdende Lehrer, Weltenbummler, Studenten – im Grunde viel näher standen. Auch die Pausen in der Kantine verbrachte ich automatisch mit ihnen. Die Büezer sassen an anderen Tischen.
Nach den ersten paar Einsätzen an der Rutsche wurde ich eines Abends neu eingeteilt. Ich durfte hinauf in den Turm. Da oben zu stehen und die Halle zu überblicken, gefiel mir, doch die Arbeit war strenger als unten, denn das Förderband spuckte ununterbrochen neue Pakete aus. Wenn wir uns nicht beeilten, türmte sich die Post auf unserer Plattform höher und höher. Und was uns am meisten zu schaffen machte, waren nicht die privaten Pakete, sondern die Firmenpost. Ich erinnere mich vor allem an die Kleiderpakete des Jelmoli-Versands, den es damals schon gab, und an die Bücher, die der Verlag «Das Beste aus Readers Digest» verschickte. Das waren Sammelbände und Lexika, geografische und geschichtliche Werke, die auch meine Eltern hin und wieder bestellten, um sie bei Nicht Gefallen zurückzusenden.
Die Jelmoli-Pakete, die Bücher und andere Massensendungen machten den grössten Teil des Paketversands aus. Und je näher die Festtage rückten, umso überwältigender wurde die Flut von Paketen, die wir auf dem Turm zu verteilen hatten. Das war Knochenarbeit, wie ich sie vorher noch nie erlebt hatte, und nur ein einziger Spass entlastete uns vom Stress. Für Firmen wie den Jelmoli-Versand, die besonders viele Retouren erhielten, gab es unten spezielle Wagen. Wenn kein Aufseher in der Nähe war, warfen wir deshalb Jelmoli-Pakete nicht in die Rutsche. Stattdessen flogen die Schachteln quer durch die ganze Halle hinab und direkt in den Wagen hinein, der mit «Jelmoli» beschriftet war. Doch auch diese Pakete erreichten nicht alle ihr Ziel. Selbst geübte Werfer trafen manchmal daneben. Und gelegentlich sprang eine Schachtel auf und die Kleider lagen am Boden verstreut.
Das fand auch ich lustig. Gleichzeitig aber forderte die Paketflut meinen kritischen Geist heraus, und nur wenige Wochen nach meinem ersten Arbeitstag bei der Post verfasste ich bereits einen Leserbrief. Ich schickte ihn aber nicht dem «Tages-Anzeiger», sondern dem «Blick», denn ich gehörte nun zum werktätigen Volk, und das werktätige Volk las den «Blick».
«Ich arbeite in Zürich bei der Paketpost», begann ich, «und finde es eine Zumutung, wie viele überflüssige Paketsendungen Tag für Tag von uns bearbeitet werden müssen. Besonders jetzt, vor den Festtagen, verschicken zahlreiche Grossfirmen Werbesendungen an ihre Kunden. Vor kurzem war es beispielsweise ein grosses Druckunternehmen, das an Tausende von Adressen Päckchen mit Süssholz versandte. Die Firma wollte offenbar besonders originell sein mit ihrem Werbegeschenk. Wie viel Mehrarbeit für die Post damit verbunden ist, schien sie nicht zu interessieren. Wenn man alle diese sinnlosen Päckchen mühsam verteilen muss, kommt einem wirklich die Galle hoch.»
Soweit meine Kritik an den herrschenden Zuständen. Aber das reichte mir nicht. Jeden Missstand im Kapitalismus galt es zu nutzen für die Mobilisierung der Werktätigen:
«Man sollte sich endlich gemeinsam wehren», appellierte ich an die Arbeiter bei der Post, «und solche nutzlosen Massensendungen gar nicht mehr weiterleiten. Das wäre die einzige Lösung. Von diesen Firmen kann man keine Vernunft erwarten.»
Ich diskutierte meine militante Idee einer Arbeitsverweigerung auch mit den anderen Aushilfen. Doch meine Agitation hatte keinen Erfolg, denn die Temporären wollten verdienen, nicht streiken. Also half auch ich weiter mit, den Berg abzutragen, der immer wieder von neuem wuchs. Ich sehe die übereinander und untereinander liegenden Schachteln und Päckchen noch heute vor mir, wie sie uns auf dem Laufband entgegenquollen. Und weil ich an zwei Samstagnachmittagen in der Adventszeit nichts Besseres vorhatte, blieb ich über das Ende der Arbeitszeit hinaus in der Sihlpost und arbeitete bis um 18 Uhr weiter. Ich konnte nicht einfach gehen und meine schwer schuftenden neuen Kollegen mit ihrer Sisyphusarbeit alleine lassen. Und in meiner Unbescholtenheit glaubte ich, dass die Post meinen spontanen Einsatz zu schätzen wüsste.
Zwei Tage später erhielt ich Post von der Sihlpost. Der zuständige Aufsichtsbeamte teilte mir mit:
Am 8. Dezember hatten Sie Dienst bis 12:35 Uhr und am 15. Dezember bis 16:25 Uhr. An beiden Samstagen blieben Sie aber ohne diesbezügliche Order an Ihrem Arbeitsplatz und verlängerten Ihren Dienst bis 18:00 Uhr. Ich ersuche Sie daher, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Eine Bezahlung der von Ihnen eigenmächtig geleisteten Überzeit kommt überhaupt nicht in Frage. Über Ihre weitere Verwendung sollten wir daher noch einmal reden. Mit den besten Grüßen PTT Zürich 1 Paketausgabe, gezeichnet Otto Feusi.
Was hätte ich daraus lernen müssen? Dass in der Arbeitswelt nicht meine eigenen Regeln galten, sondern jene des Arbeitgebers. Das war neu für mich und nicht leicht zu verstehen. Hatte ich der Post nicht einen Dienst erwiesen durch meine Überstunden? – Die kleine Lektion des Otto Feusi erweist sich aus heutiger Sicht wie ein Vorgeschmack auf alle späteren Normen und Regeln, die mir die Aussenwelt aufzwingen wollte. Ich habe mich damit immer schwer getan, und mein ganzes Leben seither war geprägt von diesem Konflikt. Denn für mich war immer entscheidend, meiner eigenen Wahrheit die Treue zu halten und mich nicht fremdbestimmen zu lassen. Eine Ordnung, in der ich für mich keinen Sinn sah, konnte ich nicht anerkennen. Aber ich sollte noch vielen Otto Feusis begegnen.
Der Aufsichtsbeamte entliess mich dann doch nicht, weil er mich vor Weihnachten brauchte, und so kämpfte ich weiter mit den Paketen - tagsüber an der Rutsche und nachts im Traum. Glücklicherweise hatte ich nur an drei Tagen Dienst auf der Sihlpost. Denn so sehr ich mich dem Kampf für eine gerechtere Welt verschrieben hatte, so sehr gab es nach wie vor auch meine andere, schöngeistige Seite, die der Nahrung bedurfte. Und im gleichen Monat Dezember 1973, als ich den muffeligen Geruch aus der Sihlpost sogar in den Kleidern mit mir herumtrug, atmete ich eines Abends im Volkshaus einen ganz anderen, geradezu betörenden Duft: Roxy Music gastierten in Zürich. Ein Duft aus Sinnlichkeit, Glamour und Melancholie ging der Band voraus. Ich war hingerissen.
Nächste Folge am 21. April
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Gemeinsamkeit
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Ergänzung
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Chääschüechli
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