Überleben ohne Heizung – ein Erfahrungsbericht

In der Schweiz ist es lange her, dass man sich um die Deckung der Grundbedürfnisse sorgen musste. Die drohende Energiekrise wirft viele Fragen auf – unter anderem zur Fragilität unseres so genannten Fortschritts.

Im peruanischen Hochland verfügen viele Menschen in ländlichen Gebieten über keine Infrastruktur. / © Nicole Maron

Zurzeit werde ich oft um Tipps gebeten, wie man in einer kalten Wohnung überlebt. Der drohende Gas- und Energiemanngel macht in der Schweiz vielen Sorgen. Dass Ressourcen nicht permanent und im Überfluss vorhanden sind, ist für die Bevölkerung von Mitteleuropa neu und schockierend. Die Generation, die während des Zweiten Weltkriegs miterlebt hat, was Knappheit und Sparen bedeutet, ist praktisch ausgestorben. Europa hat sich jahrhundertelang als «der fortschrittliche Kontinent» gesehen, der dem Rest der Welt beibringen muss, wie man besser lebt, besser arbeitet, besser produziert. Doch oft wird nicht darüber nachgedacht, dass es gerade dieses angeblich gute Leben ist, das unseren Planeten an den Rand des Kollaps gebracht hat.

Jetzt ist der Moment gekommen, in dem die «Industrieländer» von der so genannten Dritten Welt lernen müssen: von denen, für die es normal ist, ohne Heizung oder warmes Wasser zu leben.

Ich lebe schon lange einen Teil des Jahres in den Anden, auf fast 4000 Meter über Meer. Auch wenn wir uns in der Nähe des Äquators befinden, können die Temperaturen in der Nacht durchaus auf null Grad fallen – in höher gelegenen ländlichen Gemeinden sogar deutlich unter Null. Heizungen existieren hier nicht. Für uns gehört es zum Alltag, mit Jacke, Mütze, Schal, dicken Socken und Stiefeln am Schreibtisch zu sitzen. Fingerlose Handschuhe ermöglichen das Tippen mehr oder weniger, und eine um die Hüfte gewickelte Wolldecke gehört vor allem bei den Frauen zur Grundausstattung. Ist übrigens ein Geheimtipp: Wenn Nieren, Ohren und Füsse warmgehalten werden, friert man viel weniger schnell. Und doch: Abends gemütlich auf dem Sofa sitzen liegt nicht drin. Im Winter will man spätestens ab neun Uhr nur noch ins Bett und unter mehrere Schichten von Decken aus Alpaca-Wolle. Die sind allerdings so schwer, dass man das Gefühl hat zu ersticken, wenn man mehr als drei der Decken aufeinanderschichtet. Im Bett zu lesen wird dadurch erschwert, dass die Hände oder zumindest die Fingerspitzen der kalten Luft ausgesetzt sind, genauso wie Augen und Nasenspitze. Im Winter ziehe ich meistens die Decke so über den Kopf, dass nur noch ein Luftloch offenbleibt.

Wenn man in dieser Kälte morgens aufsteht, ist der Gedanke an eine heisse Dusche die beste Motivation. Doch Fehlanzeige. In Puno, wo ich zwei Jahre lang gewohnt habe, haben die meisten Menschen höchstens lauwarmes Wasser. Ich hatte Glück, denn wir hatten einige Solarzellen auf dem Dach und im Schnitt an zwei bis drei Tagen pro Woche heisses Wasser. Natürlich nur in der Dusche. Zum Händewaschen oder Abwaschen gibt’s nur eiskaltes Wasser – genauso für die Waschmaschine, wenn man das eine hat.

Womit wir beim Thema wären: Haushaltsgeräte wie Waschmaschine, Tumbler oder Geschirrspüler – in ländlichen Gemeinden auch Kühlschränke – sind hier ein Luxus, den sich nur wenige leisten können – auch wegen der hohen Stromkosten. Deshalb tun sich auch nur wenige Menschen Elektro-Öfeli oder kleine Gasheizungen zu. Abgesehen davon, dass diese nicht viel bringen, da die Fenster von jeglicher Isolation entfernt sind: Man hat Glück, wenn es nicht reinwindet oder -regnet. In meiner jetzigen Wohnung kann ich das Schiebefenster meines Homeoffice-Büros nicht ganz schliessen, weil dort das Internetkabel hereingezogen wurde.

Wenn ich das in der Schweiz erzähle, denken die Leute manchmal, ich übertreibe. Dabei müsste man nur die Grosseltern fragen, wie sie aufgewachsen sind. Doch in den letzten Jahrzehnten haben wir uns an den Komfort gewöhnt. Wäre hätte gedacht, dass zuerst ein Virus unsere gut abgeriegelten Grenzen überqueren könnte, und dann die Auswirkungen eines Krieges? Krankheit und Gewalt sind für uns jahrzehntelang kein Thema gewesen. Dass irgendwo anders auf der Welt zigtausende von Menschen an Dengue, Ebola oder einem Bürgerkrieg starben, spielte für uns keine grosse Rolle – schliesslich fand das alles so weit weg statt, dass es uns nicht gefährlich werden konnte.

Und jetzt müssen wir uns auf einmal darum sorgen, ob wir im Winter die Wohnung heizen und heiss duschen können. Der Bundesrat will, dass wir die Raumtemperaturen auf 19 Grad beschränken, und Simonetta Sommaruga empfiehlt, zu zweit zu duschen, um Wasser zu sparen. Über Nachhaltigkeit geredet wird in der Schweiz viel. Doch jetzt bekommen wir einen kleinen Vorgeschmack davon ab, was nachhaltig leben eigentlich bedeuten würde: den Verzicht auf Waschmaschine, Geschirrspüler, Heizungen oder Kühlschrank – für viele Menschen im Globalen Süden bis heute Realität. Auch wenn wir sie als unterentwickelt und rückständig bezeichnen, sind sie die eigentlichen Klimahelden. Vielleicht denken wir öfter mal darüber nach, während wir das grosse Opfer bringen, den Geschirrspüler nicht halbleer laufen zu lassen oder den Backofen nicht vorzuheizen.

Kommentare

Danke für diese so…

von cld

Danke für diese so plastische Erinnerung daran, dass unser Komfort nicht selbstverständlich ist, sondern auf Raub beruht. Ich  bin gespannt darauf, einige deiner Anden-Tipps im Winter anzuwenden. Ich merke auch immer, dass unser westliches Allein-Sein viel mehr äußere Wärme braucht. Je besser ich mich mit Leuten um mich verstehe, desto näher rücken wir, desto mehr Wärme entsteht unter uns - auch ganz physikalisch. Allein zu leben und für eine Person eine Mehrzimmerwohnung zu heizen - das kostet die wertvollen Ressourcen der Erde. 

Ueberleben ohne Heizung

von Roger Steiner
Danke sehr für den Bericht aus dem peruanischen Hochland. Er erinnert mich an meine frühe Kindheit in den 60'ern als «Verdingbub» im durchaus zivilisierten Dorf am Jurasüdfuss - Hans Meier hat es in seinen Werken ebenfalls beschrieben. Es gab nur einen einzigen Holzofen, der wurde von der alten spartanischen Lehmbodenküche aus eingefeuert und spendete etwas abendliche Wärme in die kleine Stube. Und er enthielt - sofern man nicht vergessen hatte, «es» am Morgen reinzutun - das Chriesisteisäckli. Das war der allabendliche Höhepunkt in den damals noch sehr kalten Wintermonaten mit Eisblumen an den Vorfenstern. Dieser natürliche Wärmespeicher aus dem Ofentürli war damals sehr viel wert! Heute lebe ich in Ungarn, vor allem über die Wintermonate. Eine einfache Holzheizung wärmt die alten Lehmbauten, kuschelig und gemütlich. Wir haben Akazien-Holz aus dem eigenen Wald, eigenes Wasser und kurzum Strom aus der Solaranlage. Die Nahrungsvorräte erzeugen wir fast alle selber - wir fühlen uns enorm privilegiert in dieser Reduktion. Und diese Lebensweise schenkt uns etwas kostbares - Zeit!