Ukraine: Ein Waffenstillstand scheint möglich

Die wichtigten Erkenntnisse aus einem zehnseitigen Papier «Lage in der Ukraine nach fünf Wochen des Kriegs»

Die Karten der USA (26.3.22) und von Russland (28.3.22) zeigen erstmals eine weitgehende Übereinstimmung der militärischen Lage in der Ukraine

Seit einigen Tagen herrscht weitgehend Einigkeit zwischen der russischen Presse und den Pressemitteilungen westlicher Regierungen über das Ausmaß des Gebiets, das sich bereits jetzt unter Kontrolle der russischen Armee (RUAF) befindet.

Im Luftraum über der Ukraine hat die russische Luftwaffe (VKS) offenbar weitgehende Handlungsfreiheit. Eine Gefahr für russische Flugzeuge bilden allenfalls schultergestützte Fliegerfäuste.

Die aktuelle militärische Lage würde der Ukraine das Eingehen eines Waffenstillstands erlauben, bei welchem sie ihr Gesicht wahren kann.

Von der Vertreibung der russischen Truppen aus der Ukraine kann keine Rede sein. Die Regierung Selenskyj kann den Krieg wohl fortführen, aber ohne Aussicht auf entscheidende Veränderungen.

In Mariupol geht die Säuberung der Stadt wohl in ihre letzte Phase. Seit Freitag, 25.03. leistet die Garnison offenbar kaum noch Widerstand mit schweren Waffen, für die möglicherweise einfach keine Munition mehr vorhanden ist.

Russland braucht vorerst einen Waffenstillstand weniger dringend, als die Ukraine und sieht sich am Vorabend von militärischen Erfolgen, die seine Verhandlungsposition verhärten werden. Das weiß bestimmt auch die Delegation aus Kiew.

Im Raum Kiew gingen die russischen Truppen nach dem gescheiterten Versuch, in den ersten Kriegstagen Präsident Selenskyjs habhaft zu werden, in die Verteidigung über. Eine vollständige Blockade von Kiew gelang bislang nicht.

Grundsätzlich besteht in diesem Raum [Donetsk] die Gefahr, dass die ukrainischen Regierungstruppen ein weiteres Mal aufgeteilt und einzeln eingekesselt werden, wie schon die Gruppierung im Raum Mariupol. Das könnte innerhalb von Wochen zur Vernichtung der wichtigsten Kräftegruppierung der UAF überhaupt führen.

Nach Ausgabe der letzten Mittel und vielleicht am Vorabend weiterer Niederlagen steht Präsident Selenskyj vor der Frage nach der Weiterführung des Kriegs.

Dem Westen wäre wohl am liebsten, die Ukraine würde einen lang andauernden Kleinkrieg gegen die russischen Truppen führen, aber viele der aufwändig ausgebildeten ukrainischen Sonderoperationskräfte, die als Jagdkommandos Logistik- und Führungseinrichtungen der Russen angriffen, mussten nach erfolgreichen Schlägen ausweichen.

Wenn die ukrainische Armee die russischen Truppen vertreiben will, dann braucht sie dringend neue Munition für schwere Waffen. … Westliche Munition kann die Mehrzahl der Waffen der ukrainischen Armee nicht verschießen. Die Ukraine brauchte aber nicht nur Munition, sondern auch mehr schwere Waffen als Ersatz für jene, die sie in den letzten Wochen verlor.

Dadurch, dass sie taktische Erfolge gut verkaufte, gewann die Ukraine den Informationskrieg im Westen. Aber der richtige Krieg ist so nicht zu gewinnen.

Präsident Selenskyj kann den Krieg kaum noch weiterführen. Zu gering sind die Erfolgsaussichten und zu hoch die Wahrscheinlichkeit weiterer Niederlagen.

Die Annahme noch verkraftbarer Bedingen seitens von Russland, inklusive Neutralität und Verzicht auf die Stationierung fremder Truppen im Land, ist für Selenskyj wohl der bessere Weg im Vergleich zum Anschluss der Ukraine an die NATO, deren politische Schwäche erneut zu Tage trat.

Nach acht Jahren, in denen die Ukraine, ermutigt durch die USA, die Minsker Abkommen torpedierte, wird man sich auch im Kreml dessen bewusst sein, dass eine Unterschrift Präsident Selenskyjs unter einen Waffenstillstandsvertrag nicht viel bedeuten muss.

Ein Regime-change in Kiew mit der Auswechslung Selenskyjs durch einen willfährigen Politiker hätte den Nachteil, dass der neue Präsident nicht anerkannt werden würde und dass Selenskyj im Ausland eine Exilregierung bilden kann, die den Kampf weiterführt.

Im ganzen Verhandlungsprozess spielen Europa, die NATO und die EU keine Rolle. Russland wird sich auch einer Teilnahme von NATO-Mitgliedländern als Garantiemächte für die zukünftige Sicherheit der Ukraine oder Peacekeeper widersetzen.

Ganzer Bericht von Ralph Bosshard /pdf)

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Ralph Bosshard (lic.phil, Historiker) war Oberstlt. im Generalstab und Ausbildner an der Generalstabsschule der Schweizer Armee. Studierte an der Generalstabsakademie in Moskau und diente als militärischer Sonderberater bei der OSZE und in deren Special Monitoring Mission in der Ukraine.