«Unsere heutige Gesellschaftsform produziert sehr viele Störungen»

Umwelt, psychische und körperliche Gesundheit hängen stärker zusammen, als man bislang gedacht hat, so Paul Verhaeghe, Professor für Psychodiagnostik an der Universität Gent in Belgien. Ein Gespräch – Teil 2

Stephan Schleim: Sie sprechen Freuds neurologischen Hintergrund an und erwähnen selbst immer wieder, dass wir (auch) Körperwesen sind. Was halten Sie denn von psychopharmakologischen Behandlungen, die ja direkt auf den Körper einwirken?

Paul Verhaeghe: Körper und Geist – das sind für mich keine getrennten Welten. Mit einem Dualismus wie bei Platon oder Descartes kann ich nicht viel anfangen. Wir sind eine Ganzheit. Wahrscheinlich renne ich mit meiner Aussage offene Türen ein, dass der wichtigste Ansatz bei der Behandlung psychischer Störungen das biopsychosoziale Modell ist. Mit diesen drei Aspekten – Körper, Psyche und Umwelt – müssen wir arbeiten.

Wir sehen aber heute in der Psychiatrie – auch durch den Einfluss der pharmazeutischen Industrie –, dass vor allem biologisch auf den Menschen geschaut wird. Und das Biologische wird dann wiederum auf das Pharmakologische reduziert. Dabei ist "biologisch" eigentlich nicht ganz treffend, denn die Biologie ist auch eine ökologische, also eine Umweltwissenschaft, während der pharmakologische Ansatz den Menschen auf Moleküle reduziert. Natürlich wirken solche Mittel irgendwie. Die Erfolgsgeschichten, die darüber erzählt werden, dass damit nämlich alle Probleme gelöst werden, stimmen aber nicht. Dazu kommen noch zahlreiche Nebenwirkungen.

Um etwas konkreter zu werden: Wenn sich jemand in einem akuten psychotischen Zustand befindet (also zum Beispiel unter starken Wahnvorstellungen, Halluzinationen o.ä. leidet, Anm. S. Schleim), dann muss man Neuroleptika verschreiben. Anders wird der oder die Betroffene von Angst verzehrt und begeht am Ende womöglich einen Suizid. Danach muss man im Einzelfall entscheiden: Was kann jemand mit, was ohne Medikamente, wie hoch muss die Dosis sein? Alle Patienten mit solchen psychotischen Problemen, die ich kenne, haben hiermit zu schaffen. Einerseits würden sie gerne ohne die Medikamente leben; andererseits wissen sie, dass sie sie brauchen.

Wenn wir uns aber die angstlösenden Mittel anschauen, dann sehen wir zwar, dass der angstreduzierende Effekt sehr gut funktioniert. Jedoch vor allem kurzfristig. Schon nach ein paar Wochen nimmt die Wirkung wahrscheinlich ab…
 

…und muss man die Dosis erhöhen?

Ja, und dann steigt wiederum das Risiko von sehr unangenehmen Nebenwirkungen. Oft bekomme ich nach Vorlesungen auch die Frage, ob ich meinen Kindern – oder inzwischen schon Enkelkindern – Medikamente geben würde, wenn sie eine ADHS-Diagnose, also eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung bekämen. Das würde ich aber niemals tun. Das sind doch Amphetamine! So etwas gibt man doch keinem Kind, das vielleicht gerade einmal fünf Jahre alt ist.
 
Dabei hilft es einem Betroffenen mitunter schon sehr, wenn nur einmal jemand für eine Stunde pro Woche zu einem Gespräch vorbeikommt.
Bei der richtigen Abwägung lässt sich meiner Meinung nach nichts gegen eine medikamentöse Behandlung sagen. So, wie das heutzutage aber sehr oft passiert, bin ich jedoch strikt dagegen. Und wenn ich dann auf das biopsychosoziale Modell zurückkomme, dann muss man leider feststellen, dass heute sehr wenig auf dem sozialen Niveau gearbeitet wird. Dabei hilft es einem Betroffenen mitunter schon sehr, wenn nur einmal jemand für eine Stunde pro Woche zu einem Gespräch vorbeikommt. Das verbindet, dann fühlt sich jemand wertgeschätzt. Genau das fehlt vielen Patienten, die den Eindruck haben, nur noch auf ihre diagnostizierte Störung reduziert zu werden. Das ist doch furchtbar.
 

Gegen Ende würde ich gerne noch darauf hinaus, wie wir Ihrer Meinung nach den bisher besprochenen Herausforderungen der psychischen Gesundheit begegnen sollten. Welche Lösungsansätze schlagen Sie vor?

Wir dürfen sicher nicht die Fehler der Anti-Psychiatrie aus den 1960er Jahren wiederholen. Damals wurden alle Menschen mit Problemen als Opfer einer schlechten Gesellschaft dargestellt. Die Vertreter dieser kritischen Strömungen stellten sich sozusagen zusammen mit den Patienten vor die Klagemauer. So hilft man aber niemandem.

Ich denke, dass wir zwei Dinge tun müssen: Einerseits dem individuellen Patienten helfen – dann aber bitte anders, als es heute so oft geschieht.
Heute wird zu viel auf die Symptome geschaut und zu wenig nach den Ursachen gesucht. Und diese gehen immer über das Individuum hinaus und haben auch mit der Umgebung zu tun. Andererseits stellt sich die Frage, wie man dem oder der Betroffenen dabei helfen kann, etwas an dieser Umgebung zu verändern. In der Praxis funktioniert das auch. Ich arbeite schon lange nicht mehr nur individuell, sondern kontextuell, aber immer noch aus meiner psychoanalytischen Perspektive heraus.
 

Wie sieht das aus? Denn Sie haben doch immer noch Einzelgespräche mit den Menschen, oder nicht?

Ich untersuche: Wie und unter welchen Umständen wiederholt sich die Geschichte dieses Menschen immer wieder?
Ja. Aber anstatt nur in der individuellen Geschichte von jemandem zu suchen, wie es in der klassischen Psychoanalyse getan wird, untersuche ich das Folgende: Wie und unter welchen Umständen wiederholt sich die Geschichte dieses Menschen immer wieder? Und zwar in Situationen, auf die er oder sie selbst Einfluss hat. Man denke an das Bonmot, dass man seine Geschichte wiederholt, wenn man sie nicht kennt; und dass man sie mit Sicherheit wiederholt, wenn man sie verdrängt. Das ist also nichts, was einem nur widerfährt, sondern worauf man auch aktiv Einfluss hat.

Wenn man beispielsweise immer wieder dieselbe Art von problematischem Partner sucht, wenn man immer wieder in derselben problematischen Arbeitssituation landet, dann ist das nicht gesund. Und für diesen Partner oder diese Arbeitssituation hat man sich oft selbst entschieden.
 

Vielleicht auch unbewusst?

Ja, das stimmt, das geschieht nicht immer bewusst. Es führt aber oft zu einer Kettenreaktion von Problemen, die Stress verursachen.
 

Sie sind bekannt dafür, die gesellschaftlichen Umstände zu kritisieren. Jetzt haben wir aber doch vor allem über das Individuum gesprochen.

Das war das Eine. Ich war noch nicht fertig. Das Andere hat mit der Psychologie, der Psychiatrie und auch dem allgemeinen Fortschritt in der Medizin zu tun. Man denke an die enorme Verbesserung der Lebenserwartung. Diese hängt damit zusammen, dass Ärzte in der Vergangenheit Regierungen dazu gedrängt haben, in die Verbesserung der Lebensumstände zu investieren. Man denke an die Wasserversorgung, die Versorgung von Kindern oder auch die Organisation von Arbeit. Solche Maßnahmen haben dazu geführt, dass viele von uns jetzt älter als 80 werden und länger gesund bleiben. Das hat aber nur wenig mit der Behandlung individueller Patienten zu tun, sondern mit gesellschaftlichen Veränderungen.

Als Experten für psychische Gesundheit sollten wir dasselbe tun, was diese Ärzte früher getan haben: Darauf hinweisen, welche Umstände gut sind und was wir eher vermeiden sollten. Wir brauchen beispielsweise dringend mehr Investitionen in Kindergärten. Natürlich wollen wir die Möglichkeit erhalten, dass beide Elternteile arbeiten – dann muss für die Kinder aber auch eine hochwertige Betreuung angeboten werden. Wir brauchen uns also nicht zu wundern, wenn heute 20 Prozent der Zehnjährigen Probleme haben.

Das ist unsere doppelte Rolle als Psychologen und Psychiater: Erstens mit den Patienten zu arbeiten. Das ist individuell und dabei hilft es nicht, sie als Opfer hinzustellen. Und zweitens auf organisatorischem Niveau aktiv zu sein, in Ämtern, als Berater, auf der politischen Ebene, um die Lebens- und Arbeitsumstände zu verbessern. So ging das auch vor 150 Jahren. Und auch damals mussten erst Widerstände überwunden werden.
 

Sie nennen jetzt vor allem Erziehung und das Bildungssystem. Haben diese Ihrer Meinung nach die höchste Priorität?

Alle psychologischen Schulen sind sich darüber einig, dass Erfahrungen in der Kindheit für die – körperliche wie psychische – Gesundheit im ganzen Leben von großer Bedeutung sind.
 

In einer zunehmend globalisierten Welt kann man wohl davon ausgehen, dass es strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den Ländern gibt. Und was Sie über Traumata und Stress erzählten, scheint mir allgemein zu gelten.

Das ist auch so. Dann ist mir nur wichtig, das Wort "Stress" in einem breiten Sinne zu verstehen. Man denkt dabei oft an Probleme am Arbeitsplatz oder Ähnliches. Dabei ist die Bedeutung viel breiter: Ich war zum Beispiel gerade drei Wochen lang im Urlaub auf den Kapverdischen Inseln. Da ist es einfach still. Sie können sich nicht vorstellen, was für einen beruhigenden Effekt das hat. Nach nur zwei Tagen kamen meine Frau und ich zur Ruhe. Dann ist man gerade einmal eine Nacht zurück und alles ist wieder anders.

Wir können natürlich nicht jeglichen Lärm vermeiden, aber doch das Eine oder Andere versuchen. Natürlich würden nicht alle psychischen Probleme verschwinden, nur wenn unsere Umgebung ruhiger würde. Es geht aber um solche grundlegenden Dinge. Man kann auch den schon häufig gezogenen Vergleich mit den skandinavischen Ländern bemühen. Dort gibt es viel weniger solcher Probleme und einen anderen Lebensstil.
 

Mich überrascht, dass Sie bisher noch gar nicht die ökonomischen Verhältnisse angesprochen haben. Auch in Ihren Büchern setzen Sie sich damit immer wieder auseinander.

Das Gesundheits- und das Bildungssystem sind nach ökonomischen Prinzipien organisiert.
Das Problem ist, dass sich der Neoliberalismus weit über das ökonomische System hinaus ausgebreitet hat. Das Gesundheits- oder das Bildungssystem, um nur zwei Beispiele zu nennen, sind heute nach ökonomischen Prinzipien organisiert. Das lässt sich nicht auf einen Schlag wieder verändern. Aber wenn ich einen Zauberstab hätte, dann würde ich in jedem Fall dafür sorgen, dass das ökonomische Modell auch auf die Ökonomie beschränkt bleibt, denn nur da gehört es hin. Im Gesundheits- oder Bildungssystem hat es aber vor allem negative Auswirkungen.
 
Wenn ich etwa an unsere Universitäten denke, dann drückt sich das in dem alles bestimmenden Wettbewerb und im Wachstumsgedanken aus: Man muss immer mehr forschen, immer mehr publizieren, immer mehr Gelder einwerben. Dabei ist die Idee, dass ein Mehr automatisch mehr Qualität enthält, natürlich Unsinn. Und die Reduktion von allem auf Konkurrenz und Wachstum tut den Menschen nicht gut. Ich bin aber nicht grundsätzlich gegen Wettbewerb, damit wir uns nicht falsch verstehen. Wir sind soziale Wesen und als solche haben wir sowohl eine kompetitive als auch eine altruistische Seite. Das sind zwei Pole in uns. Wir müssen beiden Raum geben.
 
Echte Zusammenarbeit, wenn wir uns nicht vom Anderen bedroht fühlen, ist für uns oft nicht nur angenehmer, sondern führt auch zu besseren Resultaten. Eine Zeit lang war das bei uns an der Universität aber vollständig verschwunden. Nur wer die meisten Publikationen und so weiter hatte, konnte auf eine Professur kommen. Doch so schaffen es nur die "Alphatiere" nach oben – und mit denen ist die Zusammenarbeit nicht sehr angenehm.
 

In ihrem neuen Buch schreiben Sie, die wichtigste psychische Störung, nämlich die uns gesellschaftlich auferlegte Normalität, stünde nicht in den Diagnosehandbüchern. Wie meinen Sie das?

Donald Trump-Modell: hyperkompetitiv, narzisstisch, "The winner takes it all".
Sie ist erstens die wichtigste, weil sie am häufigsten vorkommt. Zweitens geht es um das Normale, wie es gesellschaftlich konstruiert und dann beispielsweise über die Erziehung vermittelt wird. Damit identifizieren sich viele Menschen. Das Bild, das man uns heute vorhält, ist eigentlich das eines Donald Trump: das hyperkompetitive, narzisstische, das "The winner takes it all"-Modell. Man sieht, wie sich immer mehr junge Menschen in diese Richtung entwickeln, und das halte ich für sehr ungesund.

Dabei muss ich an das Beispiel denken, das mir meine Studierenden erzählt haben. In meiner Studienzeit war es noch normal, dass man nicht immer zur Vorlesung ging. Das schien uns nicht immer die Mühe wert. Wir verabredeten dann miteinander, die Mitschriften zu teilen. Jetzt hörte ich aber, dass man das heute nicht mehr macht. Den Vorteil, den man durch die Informationen für sich selbst hat, gibt man nicht mehr an den Anderen weiter. Das finde ich schrecklich.

Oder denken Sie an die Burn-outs bei den Studierenden. Die feilen jetzt schon an ihren Lebensläufen. Dabei denke ich: Ihr seid doch gerade mal 18, 19 Jahre alt. Ihr seid auf der Universität. Genießt das! Das ist so eine schöne Zeit – und ihr sorgt euch um eure Lebensläufe. Das scheint aber die neue Normalität zu sein und das finde ich wirklich nicht gut.
 

Halten Sie eine Gesellschaft für möglich, deren Vorstellung von Normalität – wie in unserer das ökonomische und kompetitive Denken – in Ihrem Sinne nicht als Störung angesehen werden müsste?

Ich muss erst einmal klarstellen, dass jede Gesellschaft psychische Störungen produzieren wird. Das ist unvermeidlich. Wichtig hierfür ist, dass man mit seiner Identität nicht schon geboren wird. Genügend Forschungsergebnisse zeigen, dass wir unsere Identität erwerben – natürlich neben ein paar biologischen Veranlagungen.

Jede Gesellschaft hat ein Bild davon, was eine ideale Frau, ein idealer Mann oder was die idealen Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind. Das bedeutet aber, dass mit jeder Definition dessen, was eine Gesellschaft als normal ansieht, gleichzeitig auch Abweichungen festgelegt werden. Darum wird es nie eine Gesellschaft ohne Abweichungen geben, das ist unmöglich. Die idealste Gesellschaft ist diejenige, die am wenigsten Störungen produziert – unsere heutige produziert aber wirklich sehr viele!
 
Im ersten Teil des Gesprächs geht es darum, dass die Psychologie und Psychiatrie auf soziale Anpassung ausgelegt sind. Und dass jeder Mensch im Innern im Widerstreit mit sich selbst ist.