«Unsere heutige Gesellschaftsform produziert sehr viele Störungen»
Umwelt, psychische und körperliche Gesundheit hängen stärker zusammen, als man bislang gedacht hat, so Paul Verhaeghe, Professor für Psychodiagnostik an der Universität Gent in Belgien. Ein Gespräch – Teil 2
Wir sehen aber heute in der Psychiatrie – auch durch den Einfluss der pharmazeutischen Industrie –, dass vor allem biologisch auf den Menschen geschaut wird. Und das Biologische wird dann wiederum auf das Pharmakologische reduziert. Dabei ist "biologisch" eigentlich nicht ganz treffend, denn die Biologie ist auch eine ökologische, also eine Umweltwissenschaft, während der pharmakologische Ansatz den Menschen auf Moleküle reduziert. Natürlich wirken solche Mittel irgendwie. Die Erfolgsgeschichten, die darüber erzählt werden, dass damit nämlich alle Probleme gelöst werden, stimmen aber nicht. Dazu kommen noch zahlreiche Nebenwirkungen.
Um etwas konkreter zu werden: Wenn sich jemand in einem akuten psychotischen Zustand befindet (also zum Beispiel unter starken Wahnvorstellungen, Halluzinationen o.ä. leidet, Anm. S. Schleim), dann muss man Neuroleptika verschreiben. Anders wird der oder die Betroffene von Angst verzehrt und begeht am Ende womöglich einen Suizid. Danach muss man im Einzelfall entscheiden: Was kann jemand mit, was ohne Medikamente, wie hoch muss die Dosis sein? Alle Patienten mit solchen psychotischen Problemen, die ich kenne, haben hiermit zu schaffen. Einerseits würden sie gerne ohne die Medikamente leben; andererseits wissen sie, dass sie sie brauchen.
Wenn wir uns aber die angstlösenden Mittel anschauen, dann sehen wir zwar, dass der angstreduzierende Effekt sehr gut funktioniert. Jedoch vor allem kurzfristig. Schon nach ein paar Wochen nimmt die Wirkung wahrscheinlich ab…
…und muss man die Dosis erhöhen?
Dabei hilft es einem Betroffenen mitunter schon sehr, wenn nur einmal jemand für eine Stunde pro Woche zu einem Gespräch vorbeikommt.
Gegen Ende würde ich gerne noch darauf hinaus, wie wir Ihrer Meinung nach den bisher besprochenen Herausforderungen der psychischen Gesundheit begegnen sollten. Welche Lösungsansätze schlagen Sie vor?
Ich denke, dass wir zwei Dinge tun müssen: Einerseits dem individuellen Patienten helfen – dann aber bitte anders, als es heute so oft geschieht.
Wie sieht das aus? Denn Sie haben doch immer noch Einzelgespräche mit den Menschen, oder nicht?
Ich untersuche: Wie und unter welchen Umständen wiederholt sich die Geschichte dieses Menschen immer wieder?
Wenn man beispielsweise immer wieder dieselbe Art von problematischem Partner sucht, wenn man immer wieder in derselben problematischen Arbeitssituation landet, dann ist das nicht gesund. Und für diesen Partner oder diese Arbeitssituation hat man sich oft selbst entschieden.
Vielleicht auch unbewusst?
Sie sind bekannt dafür, die gesellschaftlichen Umstände zu kritisieren. Jetzt haben wir aber doch vor allem über das Individuum gesprochen.
Als Experten für psychische Gesundheit sollten wir dasselbe tun, was diese Ärzte früher getan haben: Darauf hinweisen, welche Umstände gut sind und was wir eher vermeiden sollten. Wir brauchen beispielsweise dringend mehr Investitionen in Kindergärten. Natürlich wollen wir die Möglichkeit erhalten, dass beide Elternteile arbeiten – dann muss für die Kinder aber auch eine hochwertige Betreuung angeboten werden. Wir brauchen uns also nicht zu wundern, wenn heute 20 Prozent der Zehnjährigen Probleme haben.
Das ist unsere doppelte Rolle als Psychologen und Psychiater: Erstens mit den Patienten zu arbeiten. Das ist individuell und dabei hilft es nicht, sie als Opfer hinzustellen. Und zweitens auf organisatorischem Niveau aktiv zu sein, in Ämtern, als Berater, auf der politischen Ebene, um die Lebens- und Arbeitsumstände zu verbessern. So ging das auch vor 150 Jahren. Und auch damals mussten erst Widerstände überwunden werden.
Sie nennen jetzt vor allem Erziehung und das Bildungssystem. Haben diese Ihrer Meinung nach die höchste Priorität?
In einer zunehmend globalisierten Welt kann man wohl davon ausgehen, dass es strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den Ländern gibt. Und was Sie über Traumata und Stress erzählten, scheint mir allgemein zu gelten.
Wir können natürlich nicht jeglichen Lärm vermeiden, aber doch das Eine oder Andere versuchen. Natürlich würden nicht alle psychischen Probleme verschwinden, nur wenn unsere Umgebung ruhiger würde. Es geht aber um solche grundlegenden Dinge. Man kann auch den schon häufig gezogenen Vergleich mit den skandinavischen Ländern bemühen. Dort gibt es viel weniger solcher Probleme und einen anderen Lebensstil.
Mich überrascht, dass Sie bisher noch gar nicht die ökonomischen Verhältnisse angesprochen haben. Auch in Ihren Büchern setzen Sie sich damit immer wieder auseinander.
Das Gesundheits- und das Bildungssystem sind nach ökonomischen Prinzipien organisiert.
In ihrem neuen Buch schreiben Sie, die wichtigste psychische Störung, nämlich die uns gesellschaftlich auferlegte Normalität, stünde nicht in den Diagnosehandbüchern. Wie meinen Sie das?
Donald Trump-Modell: hyperkompetitiv, narzisstisch, "The winner takes it all".
Dabei muss ich an das Beispiel denken, das mir meine Studierenden erzählt haben. In meiner Studienzeit war es noch normal, dass man nicht immer zur Vorlesung ging. Das schien uns nicht immer die Mühe wert. Wir verabredeten dann miteinander, die Mitschriften zu teilen. Jetzt hörte ich aber, dass man das heute nicht mehr macht. Den Vorteil, den man durch die Informationen für sich selbst hat, gibt man nicht mehr an den Anderen weiter. Das finde ich schrecklich.
Oder denken Sie an die Burn-outs bei den Studierenden. Die feilen jetzt schon an ihren Lebensläufen. Dabei denke ich: Ihr seid doch gerade mal 18, 19 Jahre alt. Ihr seid auf der Universität. Genießt das! Das ist so eine schöne Zeit – und ihr sorgt euch um eure Lebensläufe. Das scheint aber die neue Normalität zu sein und das finde ich wirklich nicht gut.
Halten Sie eine Gesellschaft für möglich, deren Vorstellung von Normalität – wie in unserer das ökonomische und kompetitive Denken – in Ihrem Sinne nicht als Störung angesehen werden müsste?
Jede Gesellschaft hat ein Bild davon, was eine ideale Frau, ein idealer Mann oder was die idealen Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind. Das bedeutet aber, dass mit jeder Definition dessen, was eine Gesellschaft als normal ansieht, gleichzeitig auch Abweichungen festgelegt werden. Darum wird es nie eine Gesellschaft ohne Abweichungen geben, das ist unmöglich. Die idealste Gesellschaft ist diejenige, die am wenigsten Störungen produziert – unsere heutige produziert aber wirklich sehr viele!
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