Venezuela als Vorbild?

«Prout» (Progressive Utilization Theory) ist eine ganzheitliche ökonomische Theorie, die es sich zur Aufgabe gemacht hat soziale Gerechtigkeit zu schaffen und den Kapitalismus zu ersetzen. In Venezuela unter Präsident Chavez sieht die Organisation wichtige Teile ihrer Vision verwirklicht. (Roland Rottenfußer)

«Prout» wurde von dem indischen Philosophen Prabhat Ranjan Sarkar (1921-1990) begründet. Es handelt sich nicht um eine geschlossene ökonomische Doktrin, sondern um eine Sammlung von Prinzipien, die an die jeweilige konkrete Situation eines Landes angepasst werden sollte. Gebräuchlich ist hierfür auch der Begriff «Neo-Humanismus». Dieser Artikel ist die Zusammenfassung eines interessanten englischsprachigen Beitrags, der mir aus Südamerika zugesandt wurde. Man muss dabei genau genommen zwischen drei Ebenen trennen:


  1. Die ökonomische Theorie von Prout
  2. Die Absichtserklärungen der Regierung Chavez, wie in der Verfassung dargelegt
  3. Die Realität in Venezuela

Positiv zu vermerken ist auf jeden Fall die Tatsache, dass sich die Realität in Venezuela offenbar auf eine Theorie zu bewegt, die man – aus der Perspektive der erstarrten europäischen Verhältnisse – als kühn und innovativ bezeichnen könnte. Spirituelle und ökologische Aspekte sind hier ebenso berücksichtigt wie eine kommunitäre Gestaltung der Wirtschaft und eine Erneuerung der Demokratie.

Ich betrachte das Folgende als anregende Ideensammlung, über die man nachdenken kann – auch im Hinblick auf neue Impulse für ein neues Europa.



Andy Malinalco, der Autor des Basisartikels, auf den ich mich hier beziehe, sieht eine Übereinstimmung von Prout mit der bolivarischen Revolution unter Hugo Chavez vor allem in vier Punkten: Versorgung der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen, Förderung der ökonomischen Unabhängigkeit des Landes wie auch kleinerer Wirtschaftseinheiten, Aufbau eines alternativen Wirtschaftsmodells auf der Basis von Kooperativen und Partizipative Demokratie.



Die Vorschläge im Einzelnen.



Versorgung mit dem Lebensnotwendigen: Essen und Trinkwasser, Bekleidung, Wohnung, Erziehung und Gesundheitsversorgung gehören zu den Essentials. Die venezolanische Verfassung spricht jedem Bürger das Recht zu auf


-         «angemessene, sichere und komfortable, hygienische Unterkunft», was die Möglichkeit zu Begegnungen in Familie, Nachbarschaft und Gemeinde mit einschließt.


-         Kostenlose (!) Erziehung ist ein individuelles Menschenrecht und eine Verpflichtung der Gemeinschaft.


-         Das Recht auf eine angemessene Gesundheitsversorgung ist Teil des Menschenrechts auf Leben. (Auf diesem Gebiet ist – vor allem mit Hilfe kubanischer Ärzte – tatsächlich viel geschehen.)


-         Ein Regierungsprojekt schuf ein Netz von Läden, in denen gerade in den armen Regionen Lebensmittel zu halben, oft sogar Viertel-Preisen abgegeben wurden.



Eigenständige nationale und regionale Entwicklung: Dies ist ein wirkliches Gegenmodell zur Globalisierung, die starke internationale Verstrickungen und Abhängigkeiten schafft. Venezuela soll wirtschaftliche Souveränität erreichen, also so wenig wie möglich von Importen und Exporten abhängig sein. Während in Zeiten der Kolonisation der Kampf um politische Unabhängigkeit im Vordergrund stand, müssen die Nationen nach Ansicht von Chavez heute um ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit streiten. Dies bedeutet vor allem Unabhängigkeit von Ölimporten (was in Venezuela möglich ist, jedoch nicht auf alle Staaten der Welt übertragbar) und eine Stärkung der Landwirtschaft. Ziel ist «Lebensmittel-Souveränität». Gestärkt werden soll auch die Region als ökonomische Einheit. Vieles kann in regionaler Selbstverwaltung entschieden werden.


Der Aspekt von «Nationalgefühl», der hier durchscheint, mag viele Europäer befremden, möglicherweise kann die Dominanz der global vernetzten neoliberalen Bewegung aber zunächst nur durch «nationale Alleingänge» durchbrochen werden. Im Übrigen strebt Chavez ja eine enge Kooperation mit anderen sozialistischen Ländern Südamerikas an, um einen von den USA möglichst unabhängigen Wirtschaftsraum zu schaffen.



Kooperativen als neues ökonomisches Leitbild: Prout lehnt den Profit als Wirtschaftsziel generell ab und schlägt das Prinzip «Kein Profit – kein Verlust» als Leitbild vor. Der ökonomische Fokus wird so auf die Nachfrage gelenkt: Was brauchen die Menschen wirklich (und was nicht)? Konkrete Forderungen sind: Private Unternehmen sollten sich auf eine kleine oder mittlere Größe beschränken, es gibt eine Obergrenze für Konzerne in privaten Händen. Schlüsselindustrien (also solche, an denen ein besonderes öffentliches Interesse besteht) gehören in staatliche Hände. Z.B. Öl, Energie und Bergbau. Gewinne von staatlichen Unternehmen sollten dem Gemeinwohl zugute kommen.


Kooperativen sollen als ökonomische Organisationsform staatlich besonders gefördert werden. Das bedeutet (vereinfacht gesagt): Wer durch seine Arbeit Werte schafft, ist auch (kollektiv) Besitzer der Produktionsmittel und profitiert von den Gewinnen. Er bestimmt auch über die Geschicke seines Unternehmens mit, anstatt den von «oben» verhängten Entscheidungen nur hilflos zusehen zu müssen.


Seit 2003 hat sich die Anzahl der angemeldeten Kooperativen drastisch erhöht. Der Grund: Das Wirtschaftsministerium vergab Kredite zu günstigen Konditionen und startete ein Trainingsprogramm, um Menschen, die sich in der Verwaltung von Kooperativen engagierten, die nötigen Fähigkeiten beizubringen.



Partizipatorische Demokratie: Schweizer Leser/innen werden wissen, was das ist. In Deutschland kennt man es eigentlich nur vom Hörensagen. Menschen dürfen über Fragen, die das allgemeine Wohl betreffen, selbst entscheiden. Und zwar auch und gerade auf nationaler Ebene (denn dort sind die Entscheidungen ja besonders wichtig). In Venezuela durfte das Volk zunächst darüber abstimmen, ob es eine neue Verfassung geben sollte. Dann wurde über den Wortlaut dieser neuen Verfassung mit einem breiten Spektrum von Beratern diskutiert. Schliesslich durfte das Volk nochmals abstimmen, ob es die neue Verfassung überhaupt annehmen wollte.


Auch regional scheint die direkte Demokratie aufzublühen. Es bilden sich Bürgerkommittees, die die regionalen Regierungen beraten. Auch «neue kommunale Räte» (in denen jeweils nur 20 bis 400 Familien repräsentiert sind) kümmern sich um lokale Angelegenheit.


Eine weitere gute Idee (die in einer «repräsentativen Demokratie» wie Deutschland völlig fremdartig anmutet): Politiker sollen verpflichtend darauf festgelegt werden, ihre Wahlversprechen zu halten. In seiner extremsten Form gibt es diesen Vorschlag bisher nur in der Prout-Theorie. Politiker sollen ihre Wahlversprechen bindend auf dem Papier bekräftigen. Haben Bürger das Gefühl, dass ein Versprechen gebrochen wurde, kann es zu einem Prozess kommen, als dessen Ergebnis der Politiker seines Amtes enthoben wird.


Die Venezolanische Verfassung kennt bisher nur eine abgeschwächte Form eines Amtsenthebungsverfahrens. Aber schon dieses könnte eine disziplinierende Wirkung auf Politiker haben, die sich – wie in Europa üblich – «mutig» gegen den Volkswillen stemmen.


Ein ebenfalls erfrischender Ansatz besteht in der Besetzung von Fabriken durch Arbeiter, wenn diese von ihren Besitzern geschlossen werden sollten. Dies soll bis 2007 schon 1200mal vorgekommen sein (bis 2010 vermutlich noch häufiger). Aktionen wie diese werden von der Regierung Chavez eher ermutigt. Anderswo würden sie als Rechtsbruch geahndet werden.




Insgesamt bietet die Venezuela-Analyse von Prout eine Fülle interessanter Vorschläge. Nicht alle wirken, isoliert betrachtet, «originell». Leider sind aber selbst essentielle Rechte (wie das auf Trinkwasser) nicht überall auf der Welt garantiert. Sie müssen immer wieder formuliert und verteidigt werden. In der Summe bilden die Prout-Ideen durchaus etwas wie eine Systemalternative. Diese basiert auf Forderungen, die dem gesunden Menschenverstand ohne weiteres einleuchten und die zugleich (wenigstens in Teilen) schon historisch erprobt sind, jedoch oft durch Machtgruppen unterdrückt wurden.



Es muss hinzugefügt werden, dass Prout-Theorie noch nicht identisch mit der Realität in Venezuela ist. So konnte die Anzahl der Hauhalte unterhalb der Armutsgrenze von 2001 bis 2007 nur um 5 Prozent verringert werden. Nur 6 Prozent der Betriebe waren 2007 Kooperativen. Diese Zahlen mögen frustrierend klingen, festzustellen ist aber, dass eine sehr verheissungsvolle Richtung eingeschlagen wurde. In Europa sind die Ausgangsvoraussetzungen (z.B. was die Versorgung mit Lebensgütern betrifft) ungleich besser. Man wird aber das Gefühl nicht los, dass machvolle Interessengruppen alles tun, um die erreichten Standards zu schleifen und in Europa «Drittwelt-Zustände» zu schaffen. Die wenigen Alternativen, die auf der Ebene staatlichen Handelns global sichtbar sind, müssen deshalb sorgfältig beobachtet und analysiert werden. In Südamerika entstehen in einigen Ländern derzeit «Labors des Neuen». Die Zukunft der westlichen Welt muss gestaltet werden, indem man auf «Best Practices» aus verschiedenen fortschrittlichen Ländern zurückgreift. Venezuela zeigt gute Ansätze, aber das «offizielle Europa» mit seinen politischen und medialen Meinungsmachern weigert sich noch immer, hinzuschauen.



Quelle für diesen Artikel und Infos zu Venezuela: www.venezuelanalysis.com



Internationale Organisation Prout: www.worldproutassembly.org



Über den Begründer von Prout: http://de.wikipedia.org/wiki/Prabhat_Ranjan_Sarkar







23. März 2010
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