Venezuela: Verunglimpfter Förderer der Zivilgesellschaft

Die von der Bevölkerung angenommene Verfassungsänderung erlaubt es Präsident Hugo Chavez, sozialer Umverteiler und Förderer der partizipativen Demokratie, ab 2012 wieder für weitere Amtszeiten von sechs Jahren zu kandidieren.

Die europäischen Medien tun so, als habe sich hier ein machtgieriger Egoman auf Lebenszeit wählen lassen. Sie sprechen verächtlich von „Diktator“ und „Populist“, bei seinen Wählern und den vielen Kooperativen respektlos von „Bodentruppen“ und wie von Verführten und Irregeleiteten. „Er setzt genau das um, was die meisten seiner Vorgänger versprochen haben“, war am Rande dieses Schmähkonzerts ein Experte im französischen Fernsehen zu vernehmen.

Freunde in den Armenvierteln
Die Freunde des Präsidenten leben in den Barrios, den Armenvierteln, und haben durch ihre solidarische Mobilisierung 2002 den Putschversuch der Rechten und der Oberschicht gegen ihren 1998 zum ersten Mal demokratisch gewählten Präsidenten abgewendet.

Wohlhabende Feinde
Zu Hugo Chavez’ Feinden gehören Angehörige der Unterschicht, die den gesellschaftlichen Aufstieg im Sinn haben und deshalb keine soziale Umverteilung wollen. Seine klassischen Feinde leben in den wohlhabenden Vierteln und verzeihen ihm nicht, dass er und seine sozialistische Bewegung die Gewinne der staatlichen Erdölindustrie nicht mehr in die Taschen der Oberschicht fliessen lassen. Der rechtsbürgerlichen, US-treuen Opposition gehören ausser einem staatlichen Fernsehsender alle grossen Medien.

Öffentlichkeit für die sozialen Bewegungen
Der Mehrheit steht ausser dem staatlichen Fernsehen eine Vielfalt von alternativen, nicht kommerziellen Medien zur Verfügung. Diese haben die Funktion der Herstellung von Öffentlichkeit von unten für die sozialen Bewegungen, die Zivilgesellschaft. „Die Entwicklung unter Chavez ist nicht das Ergebnis eines durchgeplanten Projekts“, schreibt Beat Ringger vom „Denknetz“ Zürich in Widerspruch Nr. 55, „sondern wird stark bestimmt durch die Dynamik der sozialen und politischen Kämpfe, wobei die Regierung meist eher vorsichtig als forsch vorgeht.“

Sehr direkte, partizipative Demokratie
Nach langen Jahren neoliberaler Politik war die Volkswirtschaft in einem schlechten Zustand, die nur mässig entwickelte Industrie erlebte ihren Niedergang. Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Strassenhandel und gegenseitige Hilfe waren die Folgen.
Die neue Verfassung Venezuelas enthält neben neoliberalen Artikeln wie der Unabhängigkeit der Nationalbank viele Bestimmungen, welche der praktizierten direkten, partizipativen Demokratie eine rechtliche Grundlage geben. Sie verbietet Diskriminierungen und garantiert soziale Rechte.

Kooperativen und Selbsthilfeprojekte
Die Regierung unterstützt heute aus den Erdöleinnahmen unter Umgehung der tendenziell korrupten Verwaltung Kooperativen und Selbsthilfeprojekte in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Lebensmittelversorgung, ökologische Landwirtschaft, Häuser- und Strassenbau, Wasser- und Energieversorgung, alleinerziehende Frauen, Arbeit mit Süchtigen und den Aufbau der Volksmiliz, welche die korrupte Polizei ersetzen soll.

Selbstorganisation hat Tradition
Würde die Unterstützung die Verwaltung passieren, bliebe wenig für die arme Bevölkerung übrig, deshalb zahlt die Regierung dort aus, wo die Hilfe benötigt wird. Die Begünstigten müssen sich aktiv in Basiskomitees an der Aufbauarbeit beteiligen. Träger der Umverteilung zur sozialen Gerechtigkeit ist also die Bevölkerung. Viele Barrios kennen die Tradition der Selbstorganisation bereits seit 20 Jahren oder länger, heute sind schätzungsweise zwei Drittel des Landes so organisiert.

Selbstverwaltung, Rätedemokratie
Die Bevölkerung konstituiert sich in lokalen Selbstverwaltungs-Räten, Consejos Comunales, deren oberstes Organ die Vollversammlung bildet. Verantwortliche und Kommissionen werden für zwei Jahre gewählt, können wiedergewählt und wenn nötig sofort abgewählt werden. Es sei beeindruckend, hält Ringger fest, mit welchem Engagement und welcher Würde sich die BewohnerInnen der Barrios, insbesondere die Frauen, an den Strukturen der partizipativen Demokratie beteiligten.

Ein weiterer Beitrag im neuen Widerspruch befasst sich mit der realitätsfremden liberalen Definition „Wahlen und freier Markt gleich Demokratie und Freiheit“, ein
anderer mit demokratischen Entwicklungsprozessen in ganz Lateinamerika.

Mehr Informationen:

Beat Ringger: Chavismo und partizipatorische Demokratie in Venezuela.
In: Widerspruch Nr. 55, Demokratie und globale Wirtschaftskrise.
Paperback, 240 Seiten, 25 Franken. Erscheint zwei Mal pro Jahr.
Informationen, Bestellung:
[email protected], www.widerspruch.ch

Ergebnisse des Referendums:
http://www.venezuela-aktuell.de/

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18. Februar 2009
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