Zeitpunkt: Du stehst unter grossem Druck wegen des Völkermords von Israel an deinem Volk, während die Regierungen der westlichen Welt ihn unterstützen. Mein Land, Deutschland, liefert weiterhin Waffen. Ich möchte dich angesichts dessen gar nicht fragen, wie es dir geht.
Aida Shibli: Danke dafür, denn ich verliere manchmal die Fähigkeit, zwischen mir als Mensch und dem Mord an meinem Volk unterscheiden. Ich fühle mich bedroht, obwohl ich in Europa lebe und nicht unter Bomben. Und das ist wirklich keine einfache Situation.
Ich lebe seit 20 Jahren mit Deutschen zusammen und habe auch Sterbende begleitet, die selbst oder deren Eltern im Zweiten Weltkrieg aktiv waren. Und sie sagten immer wieder, unsere Eltern und auch wir, wir wussten es nicht. Deshalb haben wir geschwiegen. Ich habe ihnen wirklich geglaubt, dass sie es nicht wussten.
Aber wenn ich heute Deutsche treffe, die sagen, sie wüssten nichts über den Völkermord in Gaza, schäme ich mich für sie. Ich schäme mich, dass man in Zeiten, in denen man rund um die Uhr Zugang zum Internet hat, immer noch nichts weiss, weil man sich auf offizielle Massenmedien verlässt, die einem die Informationen liefern.
Wie kann es sein, dass diese Nation so viele Denker und gleichzeitig so eine radikal unwissende Position hat.
Die Geschichte wird diese Ausreden nicht mehr akzeptieren. Die deutsche Geschichte wird nicht akzeptieren, dass ihr nichts wusstet.
Ja, die deutsche Regierung unterstützt die israelische Regierung. Aber wir sollten zwischen den Menschen und den Regierungen unterscheiden. Wir sollten die Menschen stärken und zeigen, dass die Systeme, die in unserem Namen agieren, nicht unsere sind. Nicht in unserem Namen!
Die Geschichte wird uns immer wieder dieselben Lektionen erteilen, bis wir sie gelernt haben. Vor 80 Jahren haben Ihr Volk, Ihre Eltern, Ihre Grosseltern nicht gehandelt. Jetzt haben Sie die Pflicht zu handeln, insbesondere als Deutsche, denn das ist es, was Sie aus der Geschichte lernen müssen.
Der Holocaust hat uns gelehrt, dass wir für das Leben eintreten müssen, für jede Form von Leben.
Dass wir sagen müssen: Nicht in meinem Namen. Deutsche sagten: Nie wieder. Aber es geschieht wieder. Wie steht ihr dazu? Die Geschichte gibt euch also eine weitere Chance. Ich bin traurig, dass diese nächste Chance, für das Leben einzustehen, auf Kosten meines Volkes geht.
Es gibt so viele Möglichkeiten, den Völkermord zu stoppen. Aber unsere Handlungen müssen in Liebe begründet und verankert sein. Ich habe mehrere Punkte aufgeschrieben (s.u.), die Sie unternehmen können, um aktiv Ihre Solidarität zu zeigen und Stellung zu beziehen. Im Prinzip ist es immer dasselbe: Steht auf, bezieht Stellung, zeigt Solidarität, verstärkt die Stimmen anderer Menschen! Es leben so viele Palästinenser in Deutschland. Sie berichten mir, wie sehr sie sich unterdrückt fühlen.
Laden Sie diese Menschen zu sich nach Hause ein. Setzen Sie sich mit ihnen zusammen, hören Sie sich ihre Geschichten an. Lassen Sie sich davon berühren.
Lassen Sie Ihr Herz nicht akzeptiert, dass Sie erstarren! Tun Sie etwas!
Ich kenne eine Gemeinschaft in Deutschland, die 800 Meter von einer Waffenfabrik entfernt ist, ein Ökodorf, eine spirituelle Gemeinschaft. Ich liebe diese Menschen. Und 800 Meter von ihnen entfernt befindet sich eine Waffenfabrik. Dieser Widerspruch lebt unter euch und in euch. Geht dort hin, zieht euch weiss an, setzt euch hin, sitzt einfach da und sagt: Nicht in meinem Namen. Es gibt so viele Dinge, die man tun kann.
Boykottiert israelische Produkte und Produkte, die aus den Siedlungen kommen. Das ist euer Recht und eure Macht als Kunden. Wir leben im Kapitalismus. Ihr seid das Geld, das ihr habt. Verändert die Welt, verändert sie auf gewaltfreie Weise.
Ich habe das Gefühl, dass das Wichtigste, was in Deutschland und in vielen europäischen Ländern nicht geschehen ist, die Auseinandersetzung mit der Frage ist: Liebt ihr die jüdischen Menschen?
Ich glaube, ihr tut es nicht. Ich hoffe, ich irre mich, aber ich möchte euch sagen, was mich bewegt:
Wenn ich liebe, handle ich. Wenn ich jemanden oder etwas liebe, dann handle ich. Ich unterstütze ihn oder sie, ich schütze es. Und ich gebe auch Orientierung.
Der Zionismus ist zur grössten Gefahr für das jüdische Volk geworden. Wenn ich das jüdische Volk liebe, muss ich alles tun, um es aus dem Zionismus zu erwecken.
Deshalb ermutige ich Sie, sich Wissen anzueignen. Informieren Sie sich über die Unterschiede zwischen Judentum, Israelismus und Zionismus. Die meisten Deutschen, die ich treffe, sind mit diesen drei Begriffen überfordert, weil sie nicht wissen, wie sie sie unterscheiden sollen.
Aber das ist nicht nur Ihre Schuld, es gibt eine Medienmaschinerie, die seit 150 Jahren daran arbeitet, diese drei Begriffe ständig zu vermischen. Es ist also nicht Ihre Schuld, dass Sie diese Begriffe nicht unterscheiden können. Aber in Zeiten des Völkermords ist es Ihre Pflicht, sich mit den Unterschieden zwischen diesen drei Begriffen auseinanderzusetzen. Wenn Sie dann einem Juden, einem Israeli oder einem Zionisten gegenüberstehen, können Sie drei verschiedene Standpunkte einnehmen, aber Sie müssen diese kennen. Sie müssen sie verstehen.
Und wenn ich einen Jugendlichen liebe, der etwas Falsches tut, dann will dieser Jugendliche meine Führung. Also testet er meine Grenzen aus. Aber wenn er sieht, dass ich in Liebe verwurzelt bin und ich sein Handeln sehe und Nein zu seinem Handeln sage und ihn aus meiner Erfahrung als Erzieher korrigiere, dann wird dieser Teenager vielleicht am nächsten Tag mit einem Ausdruck der Liebe zu mir zurückkommen, weil er sieht, dass ich ihn vollständig sehe.
Ich sehe, dass er meine Grenzen austestet. Aber ich werde ihn auch beschützen, ihn vor sich selbst beschützen. Und das ist Orientierung.
Der Westen hat die Juden in den sogenannten Nahen Osten abgeschoben und ihnen keine Orientierung gegeben. Wenn Sie einen Teenager haben, dem Sie Alkohol und Drogen geben und sagen: «Mach, was du willst, das ist deine Freiheit!», dann wird er sich selbst und seine Umgebung verletzen. Er wird sich selbst und seiner Umgebung Schaden zufügen.
Europa hat die Juden in den Nahen Osten gebracht und dann das Herz vor ihnen verschlossen. Die Deutschen lassen sie jetzt aus ihrer deutscher Schuld heraus alles tun, was sie wollen.
Ich habe jetzt selbst einen Fehler gemacht: Es sind nicht die Juden, sondern die Zionisten, die die Israelis und Juden manipuliert haben und nun tun, was sie wollen.
Es ist an der Zeit, dass wir verstehen, dass sie und alle anderen Teil der grossen Familie des Lebens, der Menschenfamilie sind. Und wenn sie sich selbst zerstören, zerstören sie zuerst uns, die Palästinenser.
Und während ein Völkermord geschieht, erleben die westlichen Gesellschaften, die internationale Gemeinschaft etwas, das man moralische Verletzung nennt. (Siehe dazu den Artikel Moral Injury – nur auf englisch.) In diesem Zustand hat man etwas gesehen, das nach dem eigenen Moralmassstab falsch ist.
Denn das menschliche Leben ist heilig. Jedes menschliche Leben ist heilig. Das ist ganz klar, ganz einfach. Jeder Mord an einem Menschen, egal welcher Rasse, Religion oder Hautfarbe, ist falsch.
Wo auch immer eine Waffe auf ein Kind gerichtet ist, dann steht man auf der Seite des Kindes, egal wer das Kind ist und wer die Waffe hat. Das ist das moralische System, das wir als Menschen haben: Menschenrechte, der Schutz von Leben, Umwelt und Natur, die Liebe und Einheit aller Wesen.
Aber wenn wir vor einer Situation stehen, in der dieser moralische Grundsatz nicht angewendet werden kann, wo wir das Leben nicht schützen können, geraten wir in eine innere Ohnmacht, und das verletzt unsere Moral. Wenn sich diese Verletzungen häufen, dann stumpfen wir ab. Dann stehen wir unserem moralischen System, das wir über Jahre hinweg entwickelt haben, im Weg. Und dann sind wir nicht mehr in der Lage, etwas zu tun. Dann müssen wir uns selbst betäuben. Wir verlieren unsere Macht und sind nur noch Konsumenten im Kapitalismus.
Das ist der Grund, warum der Völkermord in Gaza nicht nur die Palästinenser betrifft. Der Völkermord richtet sich gegen uns alle. Wir alle sind Opfer von Völkermord - so lange wir ihn geschehen lassen.

Was wir tun können
von Aida Shibli
Die Lage in Gaza wird von Tag zu Tag katastrophaler. Es gibt keine Worte mehr, um die grenzenlose Entwürdigung der Menschheit zu beschreiben, die der israelische Staat den Palästinensern auferlegt. Israel macht nun ganz offen seine Pläne für die Besetzung des gesamten Gebiets und für eine vollständige ethnische Säuberung aller 2,2 Millionen palästinensischen Einwohner bekannt. Unterdessen gehen Landraub und Siedlerterrorismus im Westjordanland weiter.
Die besorgten Worte einiger westlicher Regierungen bedeuten für die Menschen in Gaza nichts, solange dieselben Regierungen Israel weiterhin mit Waffen, Öl, Geld und politisch unterstützen.
Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, maximalen Druck auf diese Regierungen auszuüben, damit sie ihren Worten Taten folgen lassen.
Ich bitte Sie, sich für die Palästinenser einzusetzen und ein Ende des Völkermords zu fordern – jetzt!
Wenn Sie nicht wissen, was Sie tun können, finden Sie hier einige Vorschläge:
- Rufen Sie Ihren Abgeordneten an oder schreiben Sie ihm: Fordern Sie ihn auf, alles in seiner Macht Stehende zu tun, damit Ihr Land ein Waffenembargo und Sanktionen gegen Israel verhängt und die diplomatischen Beziehungen sowie Handelsabkommen mit Israel aufkündigt.
- Nehmen Sie an Pro-Palästina-Demonstrationen teil und/oder organisieren Sie solche: Je mehr Menschen auf die Strasse gehen, desto wahrscheinlicher ist es, dass Regierungen konkrete Massnahmen ergreifen.
- Spenden Sie für die Soforthilfe der Opfer in Gaza. Wir empfehlen insbesondere Spenden an @heal.palestine, @wckitchen, Save the Children und @seedsofhope.tent, die die hungernden und leidenden Menschen in Gaza direkt unterstützen.
- Boykottieren Sie israelische Produkte und Institutionen: Stellen Sie sicher, dass Sie mit Ihrem Geld keinen Völkermordstaat unterstützen. Nutzen Sie die @boycatapp, um Produkte auf Mittäterschaft zu überprüfen.
- Konfrontieren Sie Menschen in Ihrem Umfeld, die den Völkermord verteidigen. Erklären Sie ihnen, warum Solidarität mit den Palästinensern kein Antisemitismus ist, sondern eine grundlegende Frage der Menschlichkeit. Seien Sie klar, aber vermeiden Sie Beschämung und Schuldzuweisungen. Zeigen Sie Ihre Solidarität: Tragen Sie eine Keffiyeh oder hängen Sie eine palästinensische Flagge aus Ihrem Fenster usw.
- Besuchen Sie Palästina, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen und Ihre Unterstützung anzubieten.
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