Vom ganzheitlichen Erleben zum zivilisierten Glauben

Am Anfang der Menschheit war der magische Schamanismus der Jäger und Sammler, dann kamen mit dem Animismus der Ackerbauern Zauberei, Astrologie, Götter und Dämonen, schliesslich zivilisierten die Hochreligionen.

„Die Zivilisation hat den Schamanismus unter sich begraben, die wilde Erde verborgen unter dem Mantel einer künstlichen Umwelt, angefertigt nach den Schnittmustern der Natur- und Rechtswissenschaften, der Religion und Psychologie“, stellt der Schamanismusforscher Carlo Zumstein treffend fest.

Nomaden und Sesshafte
Animismus ist das Weltbild von sesshaften Bauern. Darin zaubert man Kleider, Knüppel aus dem Sack, Drachen oder Schlösser herbei. Schamanismus oder Magie, Erlebniswelt der Nomaden, ist einfacher und arbeitet mit Bann und Segen („Heile, heile Säge“, Alpsegen, Glücksbringer Hufeisen) und Signaturen, in der Volksmedizin zum Beispiel Umschläge mit einem Ei (Stierenauge) bei Augenschmerzen. Rituale rund um Tiermalereien in altsteinzeitlichen Höhlen hatten zum Ziel, sich mit dem Tier, das man zum Überleben erlegen musste, zu verbinden, es anzulocken.

Bekenntnis statt Erlebnis
Bei den Tierdarstellungen spricht der Urner Arzt und Volkskundler Eduard Renner von Signaturen, beim Ritual vom Jagdbann. „Schamanismus ist das Wissen über den heilsamen Umgang mit den Kräften der Wildnis“, definiert Zumstein. „Magie“ umschreibt Renner als Erlebnis und nicht als Bekenntnis. Und: „Die magische Welt ist streng unistisch, das heisst, sie erfasst Leib und Seele als Einheit.“

Dualismus und Astrologie
Bereits der Animismus (und nicht erst der Monotheismus) der sesshaften Bauern ist dualistisch, trennt Körper und Seele. So kommt es, dass zum Beispiel die Kelten den Toten Kopf und Glieder entfernten, damit die Seele entweichen konnte, und dass Nomaden ihre Toten so bestatteten, damit sie sich mit dem Körper wieder erheben und weitergehen können. Durch die Sesshaftigkeit entwickelte sich auch eine engere Beziehung zu den Sternen, die Astrologie.

Personalisierung, Polarisierung
„Die magische Ergriffenheit weicht im Animismus der Hingabe und dem Glauben“, formuliert Renner, „die Naturkräfte werden vergöttlicht.“ Animismus reisst Himmel und Erde auseinander, personalisiert und polarisiert: Schamaninnen und Schamanen verlassen die Menschen und werden zu Göttern in himmlischen Höhen. Animismus schafft Gut und Böse, Götter und Dämonen.

Kriege statt Kampfspiele
Auch die Vorherrschaft der Männer, die Beherrschung von Menschen und Tieren, brutale Kriege und Raubzüge (anstelle von rituellen Kampfspielen) sowie Grund- und Privatbesitz (statt Kollektivbesitz) entwickeln sich erst unter Sesshaften im Animismus, um in den Hochreligionen (vor allem den monotheistischen) zu grösster Blüte zu gelangen. Wenige animistische und viele magische Elemente haben sich im Katholizismus erhalten. Vom magischen Erleben der katholischen Urner Bergler, Hirten und Sennen des 20. Jahrhunderts erzählt Eduard Renner.

Stolze, freie Küher
Die Bewunderung des Philosophen und Pädagogen Jean-Jacques Rousseau für die Hirten und Sennen war keine Schwärmerei eines weltfremden Aufklärers. Im 18. Jahrhundert sei die Landwirtschaft zum grossen Missfallen der Berner Herren markant zurückgegangen, berichtet der Historiker Sergius Golowin. Landlose Bauern hätten von der Pflege von geborgtem Vieh auf gepachteten Alpen und Talwiesen zu leben begonnen. Mit der nomadischen Lebensweise hätten sie die rigide Religion hinter sich gelassen zugunsten von magischem Erleben und Handeln und einer unkonventionellen Lebensweise.

Bauern und Fabrikarbeiter
Die intensivere Nutzung des Bodens im 19. Jahrhundert setzte dann laut Golowin dem Dasein der stolzen, freien Küher ein Ende, „die es wegen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung fertiggebracht hatten, mitten im bernischen Patrizierstaat wie ein fast völlig unabhängiger Stamm zu leben.“ Damit sei auch der Gedanke, dass der Boden eigentlich allen gemeinsam gehören solle, aus dem Bewusstsein verschwunden. Fahrende wurden zu Asozialen gestempelt, Allmenden als Viehweide für Arme verschwanden. Obrigkeit und Unternehmer brauchten beherrschbare Bauern und Fabrikarbeiter.


Zitate aus:

Eduard Renner: Goldener Ring über Uri. Ein Buch vom Erleben und Denken unserer Bergler, von Magie und Geistern und von den ersten und letzten Dingen. 1954, Neuausgabe Ammann Verlag 1991.

Carlo Zumstein: Schamanismus. Begegnungen mit der Kraft. Diederichs 2001.

Sergius Golowin: Lustige Eidgenossen. Die phantastische Geschichte der freien Schweiz. 1972, Neuausgabe Licorne 1998.