Vom Glück, einen Feind zu haben

Warum wir uns Feinde machen, was wir davon haben – und was wir mit kleinen, mittleren und grossen Leuchten anfangen können – das erfuhr unser Autor beim Sandburgbauen an der Adria. Die Samstagskolumne.

Foto: Pichara Bann

Vermutlich im Sommer 1962 oder auch 1963 baute ich mit einem Spielkameraden Sandburgen am Strand der Adria. Den Kameraden will ich einmal Z. nennen. Wir verbrachten viele Stunden miteinander, kämpften mit den Wellen des Mittelmeers, die für uns genau die richtige Grösse hatten, und waren guter Dinge.

Eines Tages, kurz vor Mittag, warf er mich plötzlich in den Sand, nahm mich in den Schwitzkasten und rief vorwurfsvoll böse: «Ich weiss genau, was du grade gedacht hast!» Mit einigen Unterwerfungsgesten und Beteuerungen konnte ich mich ihm entwinden und fliehen. Von da an war unsere Freundschaft beendet.

Feinde sind ein wenig wie die Dunkelheit.

Verblendete Klarsicht

Der mir unvergessliche Vorfall hat mich immer wieder beschäftigt. Lange Zeit hatte ich keine Ahnung, was in ihn gefahren war. Aber allmählich gestaltete sich eine Idee. Z. war erheblich grösser und stärker als ich, vor allem aber besass er meine zweifache Körpermasse. Mir war das egal, ich fand ihn nett, obwohl er Hochdeutsch und ich Bayerisch sprach.

Aber beim Burgenbauen war ich einfallsreicher als er, im Wasser flinker und vor allem: Ich konnte bereits schwimmen, er nicht. Das alles war mir als Kind nicht bewusst, könnte aber in dem grossen, dicken Z. Minderwertigkeitsgefühle ausgelöst haben. Und plötzlich musste er mir zeigen, wer hier der Stärkere, wer der Chef war und wer sein Feind. Plötzlich sah er für sich klar.

Feinde sind ein wenig wie die Dunkelheit. Sie macht uns Angst oder verunsichert uns doch wenigstens. Wenn wir das Licht einschalten oder die Taschenlampe, sehen wir klar und haben die Dunkelheit besiegt. Aber natürlich nicht unsere Angst oder Unsicherheit. Und noch schlimmer: Bei Licht können wir die Dunkelheit nicht wahrnehmen, werden aber selbst angreifbarer für alle, die uns eventuell in der Dunkelheit auflauern. Das Licht macht uns verletzlich. Absurd, nicht wahr?

Scheinwerfer der Verachtung

Um unsere Angst oder Unsicherheit gegenüber Menschen oder Situationen zu vertreiben, stehen uns Lampen in allen Grössen bis hin zum Scheinwerfer zur Verfügung. Und immer vermitteln sie uns den Eindruck von Klarsicht.

Zu den kleinen Lampen zähle ich die Distanzierung und die Verachtung: «Mit der oder dem will ich nichts mehr zu tun haben!» Ich beschimpfe sie oder ihn innerlich als Hornochse, blöde Kuh, dumme Gans, Trottel, Fiesling, Egoistin, Arschloch usw. Das erleichtert mich doch sehr und der Schaden hält sich in Grenzen, solange ich das alles nicht ausspreche.

Auf eine mittlere Lampe schalte ich um, sobald ich das alles laut ausspreche, idealerweise in Gegenwart von Menschen, die sie oder ihn auch kennen. Oder ich äussere hässliche Vermutungen als Gewissheiten, idealerweise hinter ihrem oder seinem Rücken, am besten in den Social Media. Zu den richtig grossen Lampen gehört das Anschwärzen bei Vertrauten, Kollegen oder noch besser beim Chef.

Ich könnte die Beispiele noch ein wenig steigern, will aber nicht damit langweilen und komme deshalb zum grössten Scheinwerfer: Ich bringe den anderen um. Perfekterweise stosse ich ihm einen Dolch in den Rücken, wenn er auf keinen Fall damit rechnet. Dieses ganz grosse Kino des verblendeten Hasses hat uns Hagen von Tronje in der Nibelungensage vorgemacht, als er seinen Kampfgefährten Siegfried an dessen einziger verwundbarer Stelle erstach – hinterrücks, versteht sich. Wie Z. fühlte sich Hagen dem blonden Helden unterlegen. Kaum war Siegfried tot, war Hagen der grösste.

Der Double-Win-Feind

Feinde haben den grossen Vorzug, dass sie uns die Selbstkritik ersparen. Alles Mittelmässige, Miese, Minderwertige, Heimtückische und Böse, das ich in meinem Schatten mit mir herumschleppe, laste ich dem Feind an.

Der Nutzen ist ein unmittelbar doppelter: Erstens geht es mir augenblicklich besser und zweitens fühle ich mich dem Feind überlegen. Im Vergleich zu mir ist er oder sie ein perfide Zwergin, ich hingegen bin ein moralische Riesin. Je nach emotionaler Aufladung der Situation kann ich die Feindin dann auch hassen und sie ob ihrer Minderwertigkeit aktiv bekämpfen.

Irgendwann würde das vereinfachte Freund-Feind-Denken mir dann nahelegen, den Feind zu vernichten, auszulöschen, vom Erdboden zu tilgen, auszuradieren. Ob das nun zwischen zwei Menschen, in einem Bandenkrieg auf Mafia-Ebene oder in einem Krieg zwischen Nationalstaaten geschieht, ist letztlich gleichgültig. Der Mechanismus greift hier wie dort. Und: Je stärker der Feind ist oder zu sein scheint, desto bedrohlicher wirkt er und desto gerechtfertigter, ja geradezu notwendig, kommt uns seine Vernichtung vor.

Eigentlich war Z. ein ganz Lieber

Das Schlimme an der Sache ist, dass wir, mangelnde Selbstkritik vorausgesetzt, nicht zwischen einer tatsächlichen und einer eingebildeten Feindin unterscheiden können. Und noch schlimmer – und leider am häufigsten: War die Feindin nur eine eingebildete Feindin, so verwandelt sie sich durch unser Vorgehen in eine tatsächliche.

Im mindesten Fall wird er uns als geistig gestört empfinden, womit er in gewissem Mass recht hätte. Genauso ging es mir mit meinem Spielkameraden an der Adria. Z. hatte mich zum Feind erklärt und damit auch zum Feind gemacht. Bis heute kann ich nicht verhindern, dass mich diese vor langer Zeit erlittene Demütigung mit Zorn erfüllt. Schade, denn Z. war eigentlich ein ganz Lieber.