Vom Meditationskissen auf die Barrikaden

Spirituelle Menschen sollten sich politisch engagieren – nicht trotz, sondern wegen ihrer Weltanschauung. Religiöse Menschen sind schon immer für soziale Gerechtigkeit und gegen Zwangsherrschaft eingetreten. Dietrich Bonhoeffer, Thich Nhat Hanh oder Bernard Glassmann stehen neben vielen anderen für eine engagierte Spiritualität. Damit Menschen aktiv werden, muss aus dem Erlebnis der Einheit das Bewusstsein der Verantwortung entspringen.


Spirituelle Menschen stehen im Ruf, verhuschte «Diesseits-Drückeberger» zu sein. Nicht so der jüdisch-amerikanische Zen-Meister Bernard Glassman. «Sie waren der Meinung, als Zen-Lehrer sollte ich meine Zeit besser darauf verwenden, Menschen zur Erleuchtung zu geleiten. Ich bin jedoch der Meinung, dass man Menschen, die hungern, zuerst einmal etwas zu essen geben sollte.» Glassmann liess eine Karriere als «Berufserleuchteter» seiner Zen-Schule sausen. Berührt vom Schicksal der Obdachlosen in New York gründete er die Greyston Bakery. Die brachte den Wohnungslosen nicht nur Brot, sondern auch Jobs in Herstellung und Verkauf der köstlichen Backwaren. «Bernies» Zen Peacemaker Orden gilt heute als eine der profiliertesten Vereinigungen des engagierten Buddhismus. Glassman: «Zen ist nicht nur der reine oder spirituelle Teil des Lebens, sondern das ganze Leben: die Blumen, die Berge, die Flüsse und Bäche, aber auch die Stadt und die obdachlosen Kinder auf der Strasse.»


Das Unbehagen der politischen Linken an der Spiritualität geht auf Marx zurück. Dessen Reli­gionskritik richtete sich gegen die Kumpanei der Kirchen mit den Mächtigen, gegen die System stabilisierende Wirkung von Religion. In der «Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosohie» bezeichnet Marx die Religionen als «Blumen an der Kette», also als schmückendes Beiwerk der Sklaverei. «Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.» In der Tat haben katholische wie evangelische Kirche ihre Schäflein allzu oft im Sinne eines Paulus-Zitats indoktriniert: «Jedermann sei untertan der Obrigkeit.» Und so mancher fromme Kirchenmann war nicht wählerisch bei der Unterstützung der jeweiligen Machthaber.
In jüngerer Zeit entzündet sich linke Kritik vor allem an der Welle populärer Esoterik. Die Ex-Grüne Jutta Ditfurth wetterte in ihrem Buch «Entspannt in die Barbarei» nicht nur gegen rechte Esoterik (die es gibt), sondern auch gegen Tiefenökologie und den Dalai Lama. Im Zentrum von «Spiritualitäts-Hass» steht oft die Irrationalität selbst. Kult, Mythos und aufgepeitschte Emotionen hatten Europa mit dem Dritten Reich in die Katastrophe geführt. Ist deshalb nur staubtrockenes Vernünfteln legitim? Alte und neue Religionskritik waren wichtig und bieten auch für spirituelle Menschen Stoff zum Nachdenken. Sie offenbaren aber auch Schwächen und Einseitigkeit. Es beginnt mit der Frage: Welche Spiritualität ist eigentlich gemeint? Das staatstreue Verhalten der Kirchenführung ist nicht identisch mit «der Spiritualität» schlechthin. Und die Existenz rassistischer Esoterik schmälert das Verdienst des Sozialaktivisten Bernie Glassmann nicht im Geringsten.
Spiritualität pauschal abzulehnen, ist so unsinnig wie Politikverdrossenheit mit Blick auf einen Wulff oder Berlusconi. Die Schattierungen sind in beiden Fällen so vielfältig, dass sich jede Verallgemeinerung verbietet. Leider gibt es diese Abwehrhaltung auch auf der «Gegenseite». Der spirituelle Therapeut Wilfried Nelles, ein Schüler Bert Hellingers, sagte über politischen Widerstand kategorisch: «Rebellion ist immer unreif. Ein reifer Mensch rebelliert nicht, er handelt.» Typischerweise werten spirituelle Menschen die politische Aktion ab, indem sie die «Psychopathologie» der Aktivisten durchleuchten. Der Revoluzzer bekämpfe nur seinen eigenen Schatten und müsse deshalb nach innen gehen, um geheilt zu werden. Wer aber ständig «Selbstoptimierung» betreibt, dem fehlt die Energie, um an einer besseren Welt mitzuarbeiten.


Stimmt es, dass Religionen vor allem «Weltfluchthelfer» sind? Es gibt ebenso viele Belege für das Gegenteil. Der evangelische Pastor Dietrich Bonhoeffer, der 1945 von den Nazis ermordet wurde, vertrat ein entschieden diesseitiges Christentum: «Der Mensch, der die Erde verlassen will, der heraus will aus der Not der Gegenwart, der verliert die Kraft, die ihn durch ewige geheimnisvolle Kräfte immer noch hält. Die Erde bleibt unsere Mutter, wie Gott unser Vater bleibt.» Im Gefängnis, am 21. April 1944, schrieb Bonhoeffer in einem Brief: «Ich dachte, ich könnte glauben lernen, indem ich so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte. (…) Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt.» Unzählige Christen in karitativen Einrichtungen bezeugen, dass Religiosität Menschen zu konkreter Hilfe motivieren kann.
Von Mohammed ist ein Hadith (ausserkoranisches Prophetenwort) überliefert: «Wenn du glaubst, deinen Schöpfer zu lieben, dann liebe zuerst deine Mitmenschen.» Eine Sufi-Geschichte erzählt von Ali Ibn Muwaffaq, der über 30 Jahre 350 Dirham für eine Pilgerfahrt nach Mekka gespart hatte. Eines Tages nahm er das Geld und schenkte es seiner Nachbarin, als er hörte, dass deren Kinder hungerten. Einem Sufi-Scheich erschienen daraufhin zwei Engel im Traum. Sie verkündeten, Allah habe die Pilgerreisen von 600 000 Muslimen verworfen, weil sie aus unreinen Motiven unternommen wurden. Nur die Mekkafahrt des Ali Ibn Muwaffaq habe Allah anerkannt, obwohl er sie gar nicht angetreten hatte. Praktischer sozialer Ausgleich spielt im Islam eine grosse Rolle. Der pakistanische Sufilehrer Pir Rahman Rahim begründete in den 70er-Jahren eine ethische Bank, die nur ökologische und soziale Projekte unterstützte.
Im Buddhismus ist soziales Engagement u.a. mit dem Namen des vietnamesischen Zen-Mönchs Thich Nhat Hanh verbunden. Im Zentrum seiner Weltanschauung steht das «Inter-Being», die wechselseitige Verbundenheit allen Lebens. 1965 gründete Thich Nhat Hanh die «Schule der Jugend für Soziale Dienste», die während des Vietnamkriegs Krankenhäuser baute und beim Wiederaufbau bombardierter Ortschaften half. Zahlreiche Mönche und Laien kamen bei Bombenangriffen ums Leben. In der «Sutra vom weissgewandeten Schüler», beschrieb der Buddha die Qualitäten seiner Anhänger: «Sie finden ihre Freude in der Grosszügigkeit, ohne Gegenleistungen zu erwarten. Ihr Geist ist nicht von Gier und Sehnsucht getrübt. Sie bewahren stets ihre Ehrlichkeit und beseitigen in sich sämtliche Wurzeln der Absicht, sich zu nehmen, was ihnen nicht gegeben wurde.» Dies ist geradezu der Entwurf einer alternativen Wirtschaftsordnung ohne Ausbeutung.


Spirituelle Menschen sind mehr als Spezialisten für die Jenseitsvorbereitung. Oft wird aber ein zweiter Vorwurf erhoben: In den Religionen werde zwar viel karitative Arbeit geleistet, an der Veränderung des politischen Systems sei man aber nicht interessiert. Alles was das soziale Elend mildert, hielt Marx für gefährlich, weil es die notwendige proletarische Revolution nur verzögere. Daher hat Wohltätigkeit für radikale Sozialisten wie Bertold Brecht einen negativen Beigeschmack.
Unter den engagierten spirituellen Menschen sind jene, die das Wirtschaftssystem als Ganzes umstossen wollen, sicher in der Minderheit. Aber es gibt sie. So war der Führer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung Martin Luther King «überzeugt, dass jede Religion, die angeblich um die Seelen der Menschen besorgt ist, sich aber nicht um die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse kümmert, geistlich gesehen schon vom Tod gezeichnet ist.» Kings grosses Vorbild Gandhi verband politische Durchsetzungsfähigkeit mit grosser spiritueller Überzeugungskraft. Über das Verhältnis von Politik und Religion sagte Gandhi in seiner Autobiografie, es gäbe für ihn «keine Politik, die nicht zugleich Religion wäre. Politik dient der Religion. Politik ohne Religion ist eine Menschenfalle, denn sie tötet die Seele.»


Karitative Hilfe oder Systemveränderung? – «Sowohl als auch», meint Bernard Glassman. In seinem Buch «Es geht ums Tun und nicht ums Siegen» (mit Konstantin Wecker) schreibt er: «Es ist einfach, auf das Leben anderer Menschen zu blicken und festzustellen, was bei ihnen schief läuft. Weit schwieriger ist es, das System zu durchblicken, das die Menschen erst dahin bringt, dass alles im Leben schief läuft, das ihre Wahlmöglichkeiten und ihre Handlungsfreiheit einschränkt, das sie einzwängt und unter Druck setzt und dann, wenn sie gescheitert sind, wie Müll zur Seite wirft.» Glassman fährt fort: «Wenn wir auf jemanden treffen, der hungrig ist, dann müssen wir ihm zu essen geben. Das spricht uns aber nicht davon frei, uns für ein besseres Sozialsystem zu engagieren, in dem niemand mehr hungern muss.»
Dietrich Bonhoeffer sah die Pflicht eines Christen darin, «nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.» Von diesem Geist waren auch die Mönche und Nonnen beseelt, die 2007 friedlich gegen die Militärdiktatur in Myanmar (Birma) und gegen die ärmlichen Lebensbedingungen im Land demonstrierten. Die Buddhisten setzten sich mutig über eine Reihe von Warnungen und Demonstrationsverboten hinweg. Die Polizei knüppelte mit Bambusrohren auf Betende ein. Mönche wurden verhaftet und bewusstlos geschlagen, einige von ihnen erschossen.

Glaube lässt die politische Aktion nicht nur zu, er verleiht oft zusätzliche Kraft. Man hat den Religionen oft vorgeworfen, das Diesseits gering zu schätzen. Andererseits: wer glaubt, es gäbe nur dieses kurze Leben und keine Werte ausser denen der Gesellschaft wird vielleicht nicht den Mut zur Rebellion aufbringen. Sein kleines Leben, seine Bequemlichkeit ist für den «Unspirituellen» übermässig mit Bedeutung aufgeladen. Endet ein solches Leben im Gefängnis oder auf dem Schafott, stirbt damit alles, was für den Betreffenden zählt.
«Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können», sagt Jesus im Mat­thäus-Evangelium. Und Petrus vor dem Hohen Rat: «Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.» (Apostelgeschichte) Nimmt man diese Stellen ernst, so ermutigen sie jeden durch das Gewissen begründeten Widerstand gegen die Obrigkeit. Religion sollte die Bedeutung irdischer Machtverhältnisse relativieren. Sie sollte Menschen mit einem inneren Bezirk in Kontakt bringen, der nicht korrumpierbar ist. Religion sollte eine Perspektive jenseits ökonomischer und physischer Zwänge aufzeigen. Eine Religion, die nicht befreit, ist eine Religion, von der sich die Menschen befreien müssen.


Spiritualität, wie ich sie hier meine, kann man als «mystisch» bezeichnen. Gemeint ist eine unmittelbare Erfahrung der geistigen Kraft, die alles hervorbringt und durchdringt. Man mag diese Kraft «Gott» nennen oder eine andere Bezeichnung wählen. Entscheidend ist: Aus dem Einheitsgefühl erwächst das Verantwortungsgefühl. Ohne das Bewusstsein der Einheit ist ethisches Handeln oft nur Duckmäusertum vor einem imaginären himmlischen Vorgesetzten. Spirituelle Menschen brauchen die Welt. Sie brauchen die Tat, um sich zu erden und nicht im Narzissmus der Selbstoptimierung stecken zu bleiben. Aber umgekehrt gilt auch: Die Politik braucht spirituelle, ethisch sensible Menschen.
Freilich haben spirituelle Menschen in der Realpolitik Seltenheitswert, und genauso sieht unsere Welt auch aus. Der Geschichtsphilosoph Arnold J. Toynbee bedauerte es, dass die meisten integren Menschen die «Beschmutzung» durch Politik fürchten. «Denn die Politik kann nicht erlöst werden, es sei denn, die edelsten Geister widmen sich dieser wenig anziehenden Aufgabe.»

14. Oktober 2012
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