Warschau Fusspferd – oder: Einfach mal weggesegelt
Ich bin in eine andere Welt eingetaucht: eine Woche Ostsee, ein Segeltörn auf einem Traditionssegler. Ich kann diese Erfahrung nur weiterempfehlen. Und zwar allen, die ihre Routinen und Gewohnheiten einmal komplett auf null fahren wollen. Allen, die eine Gemeinschaftserfahrung der besonderen Art suchen. Und allen, die Lust haben, viele neue Dinge zu lernen, die sie höchstwahrscheinlich nie mehr brauchen werden.
Guter Wind auf der Roald Amundsen... Foto: Georg Barthels
Guter Wind auf der Roald Amundsen... Foto: Georg Barthels

Wir erkennen das Schiff schon von weitem im Hafen von Göteborg an den beiden hohen Masten und dem Gewirr an Schnüren, die daran festgezurrt sind. Schon allein der erste Satz entlarvt mich als Landratte. Denn «Schiff» kann alles Mögliche sein, aber dies hier ist eine «Brigg» – ein zweimastiges Traditionssegelschiff mit Rahsegeln (= Quersegel). Und natürlich heisst es nicht Mast, sondern Topp, und auch Schnur ist kein Seemannswort. Für Tauwerk aller Art hat die Seefahrt so viele Wörter wie die Eskimos für den Schnee: Tampen, Zeiser, Schoten, Fall, Geitau, Brasse, Vorleine, Gordinge und sehr viel mehr. 

Für Tauwerk aller Art hat die Seefahrt so viele Wörter wie die Eskimos für den Schnee.

Am besten gefällt mir: «Warschau Fusspferd». Wer das sagt, meint so ungefähr: «Hallo Leute, ich bin jetzt hier zu euch auf den Mast geklettert, habe tierisch Angst, nach unten zu schauen, gleich trete ich auch noch auf das gleiche Seil wie ihr, das könnte zu einer Gewichtsverlagerung führen, die euch zum Wackeln bringt.» Da ist Warschau Fusspferd natürlich handlicher. «Wahrschau» hat dabei nichts mit der polnischen Hauptstadt zu tun, sondern heisst einfach Achtung. 

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Gleich am ersten Tag auf dem Schulungsschiff Roald Amundsen bin ich umgeben von Trainees wie mir, die verbal viel besser mithalten können als ich. Sie wissen, was ein Belegnagel ist (Nägel sind bei mir aus Metall und ausserdem viel kleiner als diese am Schanzkleid ((=Reling)) festgemachten Holzkegel), wo der Baum (komisch, warum ist gerade der liegende Mast ein Baum?), Vor-Topp und Gross-Topp zu finden sind und wofür zumindest ein Teil der über 200 festgemachten Seile an Bord da sind. 

Doch will ich mit meiner Quasselei nur ablenken, denn die Wahrheit ist: Ich habe Angst vor dieser Reise, die mein Liebster sich als gemeinsame Ferien gewünscht hat. Eine Woche bilden wir – zusammen mit anderen 44 Menschen – die Crew dieses imposanten Rahseglers auf der Fahrt von Göteborg nach Rostock. 

Angst habe ich dabei nicht vor Stürmen oder Piraten, nicht mal vor Pipelinesprengungen oder russischen Tankern in der Ostsee – diesem kleinsten, jüngsten und leider auch verschmutztesten aller Meere. Auch nicht so arg vor dem Hochklettern in die Rahen, das traue ich mir zu. Sondern ich fürchte mich schlicht vor Seekrankheit – und davor, als Landratte hier die ungelenke Aussenseiterin zu sein.

Die Roald Amundsen – benannt nach dem einstigen norwegischen Polarreisenden, dessen Hunde den konkurrierenden Motorschlitten gnadenlos überlegen waren – wurde vor über dreissig Jahren im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmassnahme aus einem alten Stahlschiff der Nationalen DDR-Volksmarine in Wolgast nach dem Vorbild eines der letzten traditionellen Kap-Horn-Umsegler umgebaut. Seit damals segelt sie um die Welt – mit Schülergruppen, Segelfreudigen und erfahrenen Steuerleuten und Kapitänen. 

Törn 0879 ist mit 46 Menschen ausgebucht. Die Roald, wie sie von allen liebevoll genannt wird, wird von dem Verein «LebenLernen auf Segelschiffen e.V.», dem wir als Mitreisende alle beigetreten sind, als Schulungsschiff betrieben. Alle an Bord bezahlen für ihre Reise, auch die Stammcrew, selbst der Kapitän, wenn auch weniger als wir «Trainees».

Unser Training beginnt schon im Hafen: Wir werden in Wachen aufgeteilt, die täglich zweimal je vier Stunden reihum für alle Arbeiten verantwortlich sind. Erst von Kapitän (= Kapitän) Torsten, dann von unserem Toppsgast (= so was wie Vorarbeiter) Nina werden wir in das Grund-ABC an Bord eingeführt: Sicherheit, Verhaltenskodex an Bord, erste Knoten, erste Manöver. 

Bald schwirren uns die Köpfe. Dabei können wir entspannen. Denn ab jetzt sind uns alle Entscheidungen abgenommen: Wir werden geweckt, wenn die Wache beginnt, in alle anfallenden Arbeiten eingeteilt, abgelöst, zum Essen, zur Freiwache oder zum Schlafen in die Viererkajüten mit den Stockbetten geschickt. 

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Die Crew bildet ein vielfältiges menschliches Biotop auf engstem Raum. Die Frau mit dem herzhaften Mundwerk ist im realen Leben Marketingleiterin einer Biofirma und verbringt alle Ferien an Bord der Roald, meistens als Steuerfrau, diesmal als Proviantchefin. Der schüchterne junge Mann aus unserer Kajüte wirkt wie der geborene Seemann, arbeitet im realen Leben in einer Brauerei – und hat hier schon auf der zweiten Fahrt die Möglichkeit, uns zu Manövern herum zu kommandieren. (Übung ist dabei vor allem, sich laut und klar auszudrücken, also etwa so: «An die Schoten, klar bei Geitau und Gordingen.» - und wir irren etwas herum, bis wir die richtigen Schnüre gefunden und das richtige Kommando zurückgeben: «Schoten sind klar, Geitau und Gordinge sind klar.») Ein flinker Mann verbringt als Zimmermannsgeselle einen Teil seiner Wanderschaft an Bord, immer mindestens 50 km vom Heimathafen entfernt. Eine Nautik-Studentin aus Rostock sammelt hier praktische Erfahrung. Ein älteres Paar aus Wien liebt die Roald so innig, dass sie zu Hause ein lebensechtes, selbstgebautes Modell im Massstab 1:50 im Wohnzimmer stehen haben. Und der 17-jährigen Schulverweigerin aus Zürich hat der Vater drei Wochen an Bord verordnet – damit ihr Leben nicht in der Handy-Komfortzone steckenbleibt.

Für einige ist die Roald zum zweiten Lebensinhalt geworden: Sie lernen immer weiter, werden Deckshand-Anwärter, Deckshand (=Matrose), Toppsgast, Steuermann – und manche auch Kapitän – und damit Fachkraft in einem Gebiet, das in der Moderne nicht mehr wirklich gebraucht wird. 

Denn hier an Bord geschieht alles mechanisch: Jedes Segel wird von Hand gesetzt und ausgerichtet. Manchmal brauchte es die Kraft von drei, vier Menschen, um es hochzuziehen oder zu holen. Da das moderne Leben fast komplett durch Elektronik geregelt wird, finde ich es sehr beruhigend, einmal wieder durchschaubare Technik zu handhaben – sich etwa mit ganzer Kraft in das Fall zu hängen, vielleicht mit Hilfe einer Talje (=Flaschenzug) die Fock hochzuziehen, die entsprechenden Taue richtig zu belegen (= festknoten) und zu sehen, wie der Wind es füllt, das Schiff sich etwas schräg legt und Fahrt aufnimmt – statt nur einen Befehl einzutippen oder über einen Bildschirm zu wischen.

Ab der zweiten Nacht machen wir richtig Fahrt, bis zu 7 Knoten – das ist schon fast Fahrradtempo!

Wir segeln immer Richtung Süden, durch den Göteborger Schärengarten, das Kattegatt, in den Öresund, zwischen Kopenhagen und Malmö hindurch. Ab der zweiten Nacht machen wir richtig Fahrt, bis zu 7 Knoten – das ist schon fast Fahrradtempo! Schwappelige Wellen bringen das Schiff ins Schaukeln. Breitbeinig wie nur je ein Seemann stehe ich  an Deck, halte  (meistens) das Gleichgewicht, das Gesicht in Wind und Sonne und schaue in die Wellen. Backbord (=links) zieht die schwedische Küste vorbei… gerne würde ich den weiteren Tag mit Schauen verbringen. Doch daraus wird nichts: Ich habe Backschaft (=Küchendienst). 

Die Kombüse ist weiss Gott nicht der richtige Ort für Seekrankheitskandidaten. Während des Spülens streikt mein Magen, und nach meinem Dienst will ich nur noch weg und festen Boden unter den Füssen haben. Ich melde mich statt dessen als Ausguck – vorne am Bug, auf den Horizont schauend, soll ich Tonnen (ich würde fälschlich Bojen sagen) und andere Vorkommnisse melden. Zwischendurch übergebe ich mich diskret über das Schanzkleid. Bald geht es mir wieder gut, und ich geniesse diese Meditation. Und Ablösung, essen, schlafen, geweckt werden.

Jeder einzelne Tag dauert so lange, dass ich mich nachmittags kaum an den Morgen erinnern kann. War es wirklich erst heute morgen, dass ich auf dem Klüverbaum hängend die Vorsegel eingewickelt und festgebunden habe? Dass ich bei Reinschiff die Klos geputzt, als Rudergängerin bei einer Halse (=Wende gegen den Wind) das ganze Schiff gesteuert habe? 

Langsam kommen wir in einen zeitlosen Zustand. Kein Handy. Kein Internet. Kein Platz für Gewohnheiten, die sonst den Alltag und das Zusammensein mit anderen Menschen ausmachen. Einfach mitmachen. Teil einer Crew sein. Nicht zu sehr im Weg stehen. Anpacken, wo es gebraucht wird. Am selben Strang ziehen. Lernen und aufeinander achten. So simpel ist das Gemeinschafts-ABC an Bord. Das tut gut, finde ich.

Nebenbei erfahre ich Neues: Zum Beispiel dass das Meer keineswegs leer und frei ist. Es gibt darauf Schiffshaupt- und Nebenstrecken, sogar Autobahnen und Kreisverkehre, stadtgrosse Windparks, Gegenden, wo unser Tiefgang nicht reicht, und ausgebaggerte Kanäle, die hindurchführen. Wir sind langsamer als die Fähren, Kreuzfahrtschiffe und Tanker, haben als Segelschiff aber Vorfahrt vor ihnen, denn sie können mit ihren Motoren besser ausweichen. Nur Fischkuttern müssten wir ausweichen – aber wir sehen keine auf der recht leergefischten Ostsee. 

Gode Winde, sagt man auf See. Die haben wir. Einen Tag zu früh ist Rostock in Sicht, so fahren wir noch einen Nachmittag und eine Nacht durch die Mecklenburger Bucht. Um Mitternacht sitzt unsere Wachmann- und frauschaft eng zusammen auf der Brücke, in Decken eingewickelt, wir schauen in die Sterne hoch über den Segeln. Das ist einer der Momente, die sich mir eingeprägt haben.

Am Ende, als wir beim feierlichen «All Hands» unsere Zeugnisse mit den geleisteten Seemeilen (es waren 316) und den gelernten Knoten erhalten und wieder den festen Boden des Rostocker Fischereihafens unter die Füsse nehmen, erfahren wir noch das Mantra der Roald: 

Die Brigg ROALD AMUNDSEN ist in besonderer Weise geeignet, um die friedliche Wiedervereinigung der deutschen Staaten eindrucksvoll in Fahrt zu dokumentieren. Von einem Fischereifahrzeug über ein Kriegsschiff zu einem völkerverbindenden Segelschulungsschiff. Schwerter zu Pflugscharen.

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Die Autorin als Rudergängerin

Christa Dregger-Barthels

Christa Dregger-Barthels

Christa Dregger-Barthels (auch unter dem Namen Leila Dregger bekannt). Redaktionsmitglied des Zeitpunkt, Buchautorin, Journalistin und Aktivistin. Sie lebte fast 40 Jahren in Gemeinschaften, davon 18 Jahre in Tamera/Portugal - inzwischen wieder in Deutschland. Ihre Themengebiete sind Frieden, Gemeinschaft, Mann/Frau, Geist, Ökologie.

Weitere Projekte:

Terra Nova Plattform: www.terra-nova.earth

Terra Nova Begegnungsraum: www.terranova-begegnungsraum.de

Gerne empfehle ich Ihnen meine Podcast-Reihe TERRA NOVA:
terra-nova-podcast-1.podigee.io.  
Darin bin ich im Gespräch mit Denkern, Philosophinnen, kreativen Geistern, Kulturschaffenden. Meine wichtigsten Fragen sind: Sind Menschheit und Erde noch heilbar? Welche Gedanken und Erfahrungen helfen dabei? 

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