Warum die Künstlerpartei kein Programm hat

Vor kurzem wurde in Zürich die Künstlerpartei der Schweiz gegründet, eine erfreuliche Bereicherung der schweizerischen Politlandschaft. Als erste Aktion lanciert sie sogleich eine Initiative – «68 Milliarden für soziale Sicherheit». Die Initiative dürfte im Volk sehr gut ankommen – es gibt ja auch keine stichhaltigen Gründe, die wankenden Sozialwerke, die für Millionen von Menschen da sind, mit demselben Betrag zu unterstützen wie die Grossbank UBS, die eine verschwindenden Minderheit aus Profitgier in den Quasi-Ruin getrieben hat. Mehr zur Initiative an dieser Stelle, sobald die Unterschriftensammlung offiziell gestartet wird.
cp


Die Künstlerpartei hat kein Programm. Warum, das begründet sie folgendermassen:

Wozu eine Partei ohne Programm?
Schon vor bald einem halben Jahrhundert wiesen umsichtige Experten auf die nahenden Grenzen des Wachstums hin. Man strafte sie als Sektierer und Nestbeschmutzer, Pessimisten und Spielverderber ab. Das Spiel um immer mehr und immer schneller noch mehr lief ungestört weiter. Es verlangte immer schneller nach immer mehr Ressourcen – das sind Bodenschätze und landwirtschaftliche Produkte, aber auch die Menschen auf der Schattenseite des Planeten. Und dann erreichte das Spiel um immer mehr Wachstum seine Grenzen doch. Der irreversible Schwund der Arbeitsplätze überschattet den technischen Fortschritt. Jetzt stellt sich die Frage nach einem besseren Spiel.Es muss ein Spiel sein, bei dem Alle mitmachen dürfen. Man könnte ja sagen: Mehr Menschen, mehr Umsatz, mehr Gewinn – das passt. Nur klappte es bei der Verteilung nicht. Mehr Gewinne für immer weniger Menschen gingen einher mit mehr Hunger für immer mehr Menschen. Eine saubere Berichterstattung zu diesem Wahnsinn war in den Medien der demokratistischen Gesellschaften verboten. Was ich hier äussere ist übrigens nicht Meinung, sondern Geschichtsschreibung.Hütet Euch, Ihr selbstgerechten Opferlämmer! Keiner soll vergessen sein. Keiner von den Afrikanern, die vor Lampedusa und Gran Canaria ertrinken. Die grosse Wanderung steht noch bevor. Wartet, bis das Wasser knapp wird. Zahl siegt über Kopf. Millionen werden sich an den Rasensprengern laben, die unsere Golfplätze befeuchten. Und sie, die Durstigen, werden siegen mit Kopf und Kragen.Wenn das zynisch triefende Lachen eines Berlusconi, die weggetretene Kampflust eines Steinbrück – kurz: wenn der ganze Wahnsinn dieses Kasperlitheaters strohmannmässiger Protagonisten Euch nicht weckt – was dann?Aber zur Sache: Wie wird man völlig weggetreten? Antwort: Indem man sich einem Programm verschreibt. Was ist das?Jedes Programm baut sich aus situationsunabhängigen Entscheidungen auf: Immer wenn…, dann. Wir ziehen es vor, täglich neu mit Denken anzufangen. Im Hinblick auf die aktuelle Lage, die immer auch ganz Neues umfasst. Das nämlich heisst leben. Das Programm hingegen ist tot.Wer ein Parteiprogramm formuliert, tritt ein in ein Spiel vorgefertigter Meinungen. Die Meinung wurde aber erst im Rahmen der Französischen Revolution erfunden. Bis dahin lebten die Menschen ohne Meinung. Nun wurde sogar ein Fest der Meinung eingerichtet. Und die Feier weitete sich flächenbrandmässig aus zum Grundmuster des öffentlichen Austauschs. Die Diskussion, der Abtausch von Meinungen wurde zum Lebensinhalt und zum Triebbeet, in dem der Demokratismus wucherte – und wuchert bis zum heutigen Tag.Jetzt haben Demokratismus und Meinung, Parteiprogramm und Kasperlitheater ausgedient. Unsere Aufmerksamkeit gilt nicht länger äusserlichen Stellungnahmen, sondern vielmehr dem eigenen Zustand. Denn wer vom Geld- und Machtrausch besessen oder sonstwie Scheisse drauf ist, wird Scheisse handeln. Das kennen wir ja jetzt schon. Kein Zweifel: Es kommt primo auf den eigenen Zustand an. The rest is wisdom.Wir haben kein Programm, weil wir auf jede Frage, die sich stellt, unter neuem Himmel und über neue Erde zugehen wollen – um ihr gerecht zu werden und um am Leben zu bleiben.
27. Mai 2009
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