Warum führen die Ukrainer einen selbstmörderischen Krieg? Gespräch mit einem Zeitzeugen

In meinem Buch «Wahrheitssuche im Ukraine-Krieg – um was es wirklich geht» habe ich ausführlich geschildert, wie dieser schreckliche Krieg von der NATO und der ukrainischen Regierung durch eine langjährige Politik der Eskalation verursacht wurde. Das diskutierte ich nun mit einem Zeitzeugen aus der Ukraine, der vorab sagte, dass die Wirklichkeit ganz anders sei, als ich es im Buch beschrieben habe.

Ein ukrainischer Soldat an der «Wand der Helden». Foto: Netzfund

Ich war gespannt auf das Gespräch. Ich fasse dieses zusammen, denn es hilft, die Tragödie des Ukraine-Kriegs und die Denkweise und Emotionalität vieler Ukrainer besser zu verstehen.

Normalerweise kommt die Kritik an meinem Buch «Wahrheitssuche im Ukraine-Krieg» von Menschen, die es gar nicht gelesen haben. Das war hier anders. Jean – der Name ist geändert – ist EU-Bürger, lebte lange in der Ukraine und arbeitete dort als Dozent. Er ist ein gebildeter, wacher und internationaler Freigeist. Der Kontakt kam über private Beziehungen zustande.

Jean denkt geopolitisch und sieht die imperialistischen Interessen der USA deutlich. In seinen Augen ist Putin mit den Kriegseintritt in eine bewusste Falle der USA hineingetappt – ein interessanter Ansatz. Gleichzeitig meinte Jean aber, dass Russland die Ukraine bedroht und überfallen habe und dass deshalb die Waffenlieferungen und die Unterstützung der NATO-Staaten nötig seien. Hier haben wir einen Dissens.

Ich meine, mit Waffenlieferungen entsteht kein Frieden, sondern der schreckliche Krieg wird nur verlängert und schlimmer. Ohne die Kriegsbeteiligung der NATO hätte es schon längst einen Friedensvertrag gegeben.

Jean sprach aus persönlicher Erfahrung und kennt dort viele Menschen. Er vermittelte den Standpunkt, den viele Ukrainer haben. Ich schildere seine Ansichten und kommentiere diese dann. Mit meinen Kommentaren war Jean überhaupt nicht einverstanden, wir kamen letztlich nicht zusammen.

Auch die Ukrainer sind gespalten, sehr viele sehen es anders. Es hat eine Abstimmung mit den Füssen stattgefunden. 2001 hatte die Ukraine 48 Millionen Einwohner, heute etwa die Hälfte. Millionen sind geflüchtet, ein grosser Teil nach Russland.

 

Maidan-Umsturz 2014 – eine Demokratiebewegung?

Jean nahm an den Maidan-Demonstrationen in Kiew 2013/2014 teil und kennt persönlich viele Menschen, die dort aktiv waren. Diese Proteste führten zum Sturz des amtierenden Präsidenten und dann in den folgenden Monaten zur Abspaltung der Krim und zum Bürgerkrieg in der Ost-Ukraine. Jean war am 20. Februar 2014 bei der Gewalteskalation auf dem Maidan anwesend, als Scharfschützen aus dem Hotel Ukraine auf Demonstranten und Polizisten gleichzeitig schossen. «In meine Richtung wurde auch geschossen, ich war aber in den hinteren Reihen.»

Jean erlebte die Maidan-Bewegung als eine emanzipierte Bürgerbewegung, die den alten autoritären Ballast der Sowjetvergangenheit und die korrupten, mafiösen Strukturen in der Ukraine loswerden wollten. Den damaligen Präsidenten Janukowitsch sahen die Demonstranten vor allem als korruptes Zentrum einer Günstlingswirtschaft. Das alles wurde mit Russland verbunden. Deshalb sollte Russland möglichst wenig Einfluss auf die Ukraine haben, berichtete Jean. Die Ukraine sei für Russland wirtschaftlich sowieso nur ein Billiglohnland gewesen, das ausgenutzt wurde. Die Hoffnung lag in der EU. Es habe die Angst geherrscht, dass die Ukraine autoritär und von Russland abhängig wie Weissrussland würde.

Jean erzählte, dass die Maidan-Bewegung sehr viel Unterstützung aus der Bevölkerung bekommen habe, bis zu mehreren hunderttausend Menschen waren auf der Strasse. Er wies die Ansicht zurück, dass der Maidan von den USA inszeniert worden sei. Auch wenn die US-Aussenpolitikerin Victoria Nuland und EU-Politiker die Maidan-Proteste offen unterstützten, die Kraft sei aus den Reihen der Bürgerinnen und Bürger gekommen. Das hatte Jean bei der «Orangen Revolution» 2004 ganz anders erlebt: «Diese war viel stärker von den USA gesteuert und ohne so tiefe Verankerung in der Bevölkerung.»

Die Maidan-Proteste begannen, als Janukowitsch am 21. November 2013 die bevorstehende Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens zurückzog. Janukowitsch wäre zuvor bei einem Treffen mit Putin gewesen und sei ganz ausser sich und erschüttert zurückgekommen, erzählte Jean. Über Wochen habe die Kiewer Regierung nicht erklären können, warum sie das EU-Abkommen nicht unterzeichnet habe, sie mussten erst Begründungen finden.

Etwa ein Jahr später sei herausgekommen – durch die Aussage eines Begleiters von Janukowitsch, der bei dem Gespräch im abhörsicheren Bunker dabei gewesen sei – dass Putin mit einem militärischen Einmarsch in der Ukraine gedroht habe, wenn Janukowitsch das Abkommen unterzeichne. Es hätte also starken erpresserischen Druck durch Putin auf die ukrainische Regierung gegeben.

Am 21. Februar 2014 reiste Janukowitsch aus Kiew für immer ab. Die Maidan-Protestler seien überrascht gewesen, dass er plötzlich weg war.

Soweit einige Schilderungen von Jean. Diese bringen die Stimmungslage vieler Ukrainer zum Ausdruck und zeigen, wie die Feindbild-Narrative in der Ukraine funktionierten, die zum Donbass-Krieg ab 2014 führten.

 

Wie war es wirklich? – mein Kommentar dazu

Es ist bekannt, dass die Mehrzahl der Maidan-Demonstranten aus der Mitte der Gesellschaft kamen und gegen die verbreitete Korruption auf die Strasse gingen. Es ist aber auch bekannt, dass die zahlenmässig kleinen faschistischen Gruppen des «Rechten Sektors» eine starke Rolle in der Organisation der Proteste spielten. Diese Nationalisten bekamen durch den Regierungssturz einen überproportional grossen Einfluss in der neuen Regierung und kontrollierten damit die bewaffnete Macht im Staate. Innen- und Verteidigungsminister, Geheimdienstchef und der Vorsitzende des Sicherheitsrates wurden von den Rechtsextremen besetzt. Das war entscheidend für den Beginn des Bürgerkrieges in der Ostukraine. Dieser wurde im April 2014 von der neuen nationalistischen Regierung begonnen und führte zur unumkehrbaren Spaltung des Landes.

Dass eine Einflussnahme der NATO-Geheimdienste von den Maidan-Demonstranten von Jean nicht bemerkt wurde, ist kein Beleg dafür, dass es keine Einflussnahmen gab. Denn es könnte ja auch sein, dass diese geschickt und unauffällig durchgeführt wurden. Das berühmte geleakte Telefonat zwischen Nuland mit dem US-Botschafter in Kiew, in dem sie den neuen ukrainischen Premierminister bestimmte, zeigt deutlich, dass Nuland wohl mehr Einfluss auf den Verlauf des Umsturzes hatte als die Demonstranten selbst.

Die Geschichte von Putins Kriegsdrohung in einem abhörsicheren Bunker halte ich für eine Räuberpistole. Wenn daran etwas gewesen wäre, wäre diese Geschichte von der Putin-feindlichen westlichen Presse stark aufgegriffen und verbreitet worden. Doch ich fand keinen einzigen Artikel darüber. Ich fand in der Medienrecherche nur viele Artikel über den «erpresserischen Druck von Putin», wobei in diesen Artikeln nie stand, worin der Druck überhaupt bestanden haben soll.

 

So geht Feindbildaufbau

Interessant ist, dass die krasse Geschichte der Kriegsdrohung im abhörsicheren Bunker Jean im Gedächtnis blieb. Die Aussage eines Mitarbeiters von Janukowitsch ein Jahr später – wenn es diese überhaupt gegeben hat, was ich nicht überprüfen konnte – ist nicht stichhaltig, denn das könnte einfach eine Propaganda-Erfindung mitten im Donbass-Krieg gewesen sein. Ohne weitere Belege kann man es vergessen. Doch um Wahrheit geht es hier nicht.

Mit solchen einprägsamen und ausgeschmückten Geschichten wird das Feindbild zementiert und emotional verankert: Russland ist der Feind mit den schlimmsten Absichten. Es ist unmöglich, dass Putin etwas Gutes will. Wenn eine solche Geschichte von Millionen Ukrainern erzählt und geglaubt wird, dann ist das eine starke realitätsschaffende Kraft.

Eine weitere Räuberpistole ist die Aussage von Jean, dass die Regierung Janukowitsch über lange Zeit nicht sagen konnte, warum sie die Unterschrift zum EU-Assoziierungsabkommen am 21. November 2013 zurückgezogen hat. Tatsächlich wurde das sofort begründet. Das kann man sogar im Wikipedia-Artikel zum EU-Assoziierungsabkommen nachlesen:

Am 22. November 2013 erläuterte Ministerpräsident Asarow in einer Parlamentsrede die Entscheidung der Regierung. Die EU und die Ukraine sollten die Folgen des Abkommens zunächst gemeinsam mit Russland besprechen, hiess es. Janukowytsch sagte, dass der IWF der Ukraine bereits 2010 610 Millionen Euro technische Hilfe angekündigt habe: «Drei Jahre lang haben sie uns das wie ein Bonbon in einer schönen Verpackung gezeigt». Am Ende hätten sich alle Hoffnungen, dass der IWF dem Land helfe, zerschlagen.
Das sei «erniedrigend» gewesen. Auf dem Osteuropa-Gipfel in Vilnius am 28. November 2013 wiederholte Janukowytsch seine Ablehnung gegenüber einem Kompromissvorschlag der EU. Er forderte Finanz- und Wirtschaftshilfen der EU. Die Ukraine sei mit ihren ernsten Finanz- und Wirtschaftsproblemen zuletzt alleine gelassen worden. Die von der EU angebotenen 600 Millionen Euro an Hilfen bezeichnete Janukowytsch als demütigend. 160 Milliarden Euro benötige sein Land, um sich innerhalb der nächsten Jahre dem EU-Standard anzunähern und reif zu sein für ein EU-Assoziierungsabkommen.

Ein weiterer Grund für die Nichtunterzeichnung des Abkommens war innenpolitischer Art. Das Kiewer Parlament hatte sechs Gesetze abgelehnt, die von Seiten der EU eine Voraussetzung für eine Vertragsunterschrift waren, darunter die Freilassung von Julija Timoschenko. Somit hätte das Abkommen gar nicht unterzeichnet werden können.

Es gab also genügend nachvollziehbare und öffentlich formulierte Gründe für eine Verschiebung der Vertragsunterzeichnung.

An diesem Beispiel sieht man, wie der Feinbildaufbau funktioniert. Emotionale Geschichten gehen von Mund zu Mund. Es ist Unsinn, aber niemand prüft die Wahrheit. Es entsteht ein Leben in einer abgespaltenen «Wirklichkeit», die sich für die Menschen aber sehr real und lebensnah anfühlt. Denn es geht von Mensch zu Mensch und man befindet sich ständig in dieser sich selbst bestätigenden emotional aufgeladenen «Realität».

 

Ukraine als Brückenland zwischen EU und Russland

Die Ukraine war 2014 wirtschaftlich mit Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken verbunden und mit diesen in einer Freihandelszone ohne Zölle. 40 Prozent des Aussenhandels der Ukraine fand in dieser Freihandelszone statt, mehr als mit der EU. Es war deshalb im existentiellen Interesse des Landes, dass diese Wirtschaftsbeziehungen nicht durch das EU-Assoziierungsabkommen abgeschnitten werden. Die Regierung Janukowitsch versuchte, das Beste für das Land zu erreichen.

Die Kommunikation der Regierung war aber schlecht und kam nicht an. Denn für die Maidan-Demonstranten spielten solche Überlegungen keine Rolle. Obwohl das EU-Abkommen niemals abgesagt, sondern weiterverhandelt wurde, hörten die Demonstranten nur, dass es mit der EU nichts wird und die Ukraine wieder ein «Anhängsel des autoritären Russlands» wird. Eine Realitätsverzerrung.

 

Zum «erpresserischen Druck von Putin»

Es ist bekannt, dass Russland der Ukraine ankündigte, dass mit einem EU-Assoziierungsabkommen die Zollfreiheit mit Russland beendet werde. Das ist verständlich, denn Russland verlangt Zölle gegenüber den EU-Staaten. Wenn diese nun zollfrei Waren in die Ukraine exportieren, dann könnten diese Waren zollfrei weiter nach Russland gelangen. Das will Russland natürlich nicht. Entsprechend erhob Russland im Juli 2014 – nach der Unterzeichnung des EU-Abkommens – gegenüber der Ukraine Zölle von bis zu acht Prozent.

Ein weiterer «erpresserischen Druck» bestand darin, dass Putin am 17. Dezember 2013 Janukowytsch Kredite in Höhe von elf Milliarden Euro versprach – von der EU waren 0,6 Milliarden Euro in Aussicht gestellt worden. Ausserdem senkte Russland den Gaspreis für die Ukraine um ein Drittel, anstatt 291 Euro für 1000 Kubikmeter auf 195 Euro. Deutschland zahlte 2014 an Russland für 1000 Kubikmeter ca. 400 Euro. Die Ukraine bekam also einen sehr guten Rabatt und zahlte nur die Hälfte. Das passt überhaupt nicht zur unterstellten wirtschaftlichen Ausbeutung der Ukraine durch Russland.

Aber solche Argumentationen sind viel zu rational. Zahlen kommen nicht gegen das verankerte Gefühl an, dass das grosse Russland die kleine Ukraine unterdrückt.

Verfassungswidrige Absetzung des Präsidenten

Janukowytsch floh am 21. Februar 2014 aus Kiew, nach Presseberichten aufgrund von Gewaltandrohungen seitens radikaler Maidan-Demonstranten. Schon am folgenden Tag setzte ihn das Kiewer Parlament ab. Einen verständlichen Grund für diese Absetzung gab es nicht, denn der Präsident hatte in einer Vereinbarung mit den Demonstranten am 21. Febr. 2014 vorgezogenen Neuwahlen zugestimmt, und durch eine Verfassungsänderung sollte er den Grossteil seiner Befugnisse verlieren.

Bemerkenswert in dem Gespräch mit Jean war, dass er kein Problem darin sah, dass der gewählte Präsident Janukowytsch entgegen den expliziten Regelungen der Ukrainischen Verfassung vom Parlament abgesetzt wurde. Eine verfassungswidrige Absetzung eines Präsidenten ist schlichtweg ein Putsch.

Ich verstand aus dem Gespräch mit Jean, dass für die Ukrainer die Einhaltung von Regeln nicht so wichtig ist. Als Mitteleuropäer denke ich so: Demokratische Verfahren sind das Fundament einer Gesellschaft. Auf Gesetze muss man sich verlassen können, sonst verschwindet das Vertrauen. Das läuft in der Ukraine aber wohl anders, in einer emotionalen Aufwallung kann das Parlament machen, was es will.

Das hatte aber Folgen. Da nach der Absetzung des Präsidenten tags darauf das Kiewer Parlament auch noch Russisch, das von 30 Prozent der Ukrainer als Muttersprache gesprochen wurde, als zweite Amtssprache abschaffte und dann noch Faschisten die wichtigsten Regierungsposten bekamen, nahmen in der Ostukraine und in der Krim die Proteste zu.

Doch dafür hatten die meisten Maidan-Demonstranten kein Verständnis, es fehlte an Empathie. Psychologisch ist das erklärbar. Wenn ein Trauma wirkt, steckt die Seele in diesem fest und kann sich nicht mehr in andere hineinversetzen. Sozial ist es aber verheerend.

Radikale Nationalisten gingen gegen die Föderalisten in der Ostukraine mit massiver Gewalt vor. Am 2. Mai 2014 starben in Odessa 48 Anti-Maidan-Demonstranten beim Massaker im Gewerkschaftshaus. Die Täter wurden nicht verfolgt. Von den Kiewer Maidan-Demonstranten kam kein Protest und keine Solidarität.

Es fehlte den Maidan-Demonstranten auch an Realitätssinn. Die Vorstellung einer besseren heilen Welt durch die EU ist naiv. Die EU braucht Billiglohnländer. In der EU wäre die Ukraine ganz unten, noch hinter Rumänien, Bulgarien, Griechenland oder Portugal. Es ist eine Illusion, dass mit einem EU-Beitritt viel Reichtum in die Ukraine käme. Vielmehr ist zu erwarten, dass die Preise schneller steigen als die Löhne und die Realeinkommen sinken, ähnlich wie in anderen beigetretenen Staaten.

 

Ukraine hat versäumt, sich zu entwickeln

Die Ukraine wurde 1991 unabhängig. Das Land hatte nach 1991 Zeit, sich zu entwickeln, die Korruption und Mafia-Systeme auszufegen, die Oligarchen zu entmachten und Unternehmen, Reichtum, Kultur und Demokratie aufzubauen. Das ist zu wenig passiert.

Daran ist aber nicht Russland schuld. Russland hat nach 1991 nicht in die ukrainische Politik eingegriffen, sondern man hat die Ukraine in die Unabhängigkeit ziehen lassen. Russland hat sich nach Jelzin ab 1999 unter Putin wirtschaftlich erholt und die Oligarchen eingebunden. Das Durchschnittseinkommen wuchs in Russland bis 2014 auf etwa das Dreifache der Ukraine.

Warum geschah das nicht auch in der Ukraine? Die ukrainische Politik und Gesellschaft war offensichtlich nach drei Generationen kommunistischer Diktatur mit einem wirtschaftlichen und politischen Aufbau überfordert. Russland ist daran aber nicht schuld, sondern hat selbst das Problem der autoritären Altlast.

Viele Ukrainer schoben aber die Schuld auf Russland. In meinen Augen fand hier eine kollektive Projektion des eigenen Versagens nach aussen statt, ein bekanntes psychologisches Muster.

 

Der Donbass-Krieg von 2014 bis 2022

Nach Jeans Schilderungen sei 2014 die russische Armee in die Krim und die Ostukraine einmarschiert. Die Proteste vor Ort seien klein gewesen und nicht von einer breiten Bevölkerung getragen. Die Abspaltungen der Krim und des Donbass hätte es auf Einfluss von Russland gegeben.

Jean war selbst nicht in der Ostukraine, hat aber Kontakte. Ein Bekannter sei im Krieg 2014 gestorben, als er gegen Soldaten aus Russland kämpfte. Eine Bekannte in einer südrussischen Stadt hat gesehen, wie eine ganze russische Garnison ausrückte. Für Jean waren das Belege für eine russische Invasion.

Die Geschichte eines Einmarsches Russlands in der Ostukraine ist damit aber nicht belegt. 2014 fand ein grosses russisches Militärmanöver an der ukrainischen Grenze auf russischem Territorium statt, deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn eine Garnison ausrückte. Es ist bekannt, dass es tausende Freiwillige aus Russland gab, die bei den Donbass-Milizen mitkämpften. Darunter waren auch ehemalige Militärs und Geheimdienstleute. Da es sehr viele familiäre Verbindungen zwischen Ukraine und Russland gibt, ist das nicht verwunderlich. Einen offiziellen Einsatz der russischen Armee in der Ostukraine gab es aber nicht. In welchem Umfange es verdeckte Aktionen gab, ist natürlich unbekannt.

Jean argumentierte weiter, dass die Donbass-Milizen keine Waffen hatten, diese könnten nur von der russischen Armee gekommen sein. Offiziell sind mir keine russischen Waffenlieferungen bekannt, verdeckt kann es diese natürlich schon gegeben haben. Bekannt ist aber, dass die Donbass-Milizen Panzer und Waffen von übergelaufenen ukrainischen Einheiten bekommen haben. Auch viele bestehende Waffenlager der ukrainischen Armee in der Ostukraine wurden von den Milizen geleert. Belege dazu habe in meinem Buch «Wahrheitssuche im Ukraine-Krieg» zusammengetragen.

 

Lügen der Kriegspropaganda

Um den Bürgerkrieg gegen die eigene Bevölkerung in der Ostukraine zu rechtfertigen, war die Hauptlinie der ukrainischen Kriegspropaganda, dies als Kampf gegen eine russische Invasion darzustellen. Das war ständig in den ukrainischen Medien. Am 24.04.2014 entlarvte der «Spiegel», der nicht für russische Propaganda verdächtig ist, die Lügen-Propaganda Kiews:

«Ein angeblicher «russischer Agent» soll als Beweis für eine Invasion herhalten und entpuppt sich als fanatischer Freischärler.» Und weiter schrieb der Spiegel: «Mit Fakten nimmt es Kiew mitunter nicht so genau. Als ein ukrainischer Journalist Fotos von einer Einheit der ukrainischen Armee veröffentlichte, die mitsamt ihrer Panzerfahrzeuge zu den Rebellen übergelaufen war, dementierte die Regierung umgehend: Es handele sich in Wahrheit um eine «militärische List». Die Einheit solle unter russischer Flagge vorstossen und die Separatisten dann überwältigen. Als daraus nichts wurde, bezeichnete Kiew die Aufnahmen von ukrainischen Panzern mit russischer Trikolore als Fotomontage. Später dann machte die Meldung die Runde, die Einheit sei von prorussischen Kräften überwältigt geworden. Tatsächlich hatten sich Kiews Anti-Terror-Kräfte bereitwillig ergeben.»

Die Kiewer Kriegspropaganda wurde im Lauf der Zeit natürlich besser und weniger offensichtlich. So wurde das Framing aufgebaut, Russland habe 2014 eine Invasion in der Ostukraine durchgeführt, gegen die sich die Ukraine verteidigen muss.

Der Wille der dortigen Bewohner wurde dabei systematisch ausgeblendet. Dass es 2014 auf der Krim und in den Regionen Donezk und Lugansk Referenden zur Abspaltung von der Ukraine gab, zählte auch für Jean nicht. Die Referenden seien unter Zwang gelaufen. Um das zu belegen, berichtete er von einer Bekannten aus dem Donbass, zu der Soldaten ins Haus gekommen seien und sie zur Abstimmung aufgefordert haben.

Das kann natürlich so gewesen sein. Diese Information reicht aber nicht: Haben die Soldaten über die Abstimmungsmöglichkeit informiert oder haben sie gedrängt? War es ein Einzelfall oder ein Normalfall? Die Referenden im Mai 2014 im Donbass fanden in ungeordneten Zuständen statt. Es gab auch bewaffnete Versuche, die Durchführung des Referendums zu verhindern. Da kann alles Mögliche passiert sein. Ich kenne aber auch Berichte, die ich in meinem Buch dokumentiert habe, die sehr positiv über die Referenden sprachen und verneinten, dass es Druck auf die Abstimmenden gegeben habe. Soldaten seien nur zum Schutz vor den Wahllokalen gewesen. Die Informationslage ist beim Unabhängigkeitsreferendum 2014 auf der Krim besser, da es dort Wahlbeobachter gab, die nichts Negatives feststellten.

Bei allen Unabhängigkeitsreferenden gab es sehr hohe Zustimmungsraten für eine Abspaltung. Diese wurden durch repräsentative Umfragen in gleichen Zeitraum bestätigt. Es war ein Ausdruck des Willens der dortigen Bevölkerung. Das ist das Wesentliche. Wer der Ansicht ist, dass es zu viele Unregelmässigkeiten bei den Referenden gegeben hat, sollte fordern, dass diese unter internationaler Beobachtung wiederholt werden. Das hat aber niemand gefordert. Stattdessen wurde dieser Willensausdruck der Ostukrainer einfach missachtet. Denn es passte nicht in die Kriegspropaganda-Erzählung einer russischen Invasion.

 

Gebrochenes Minsker Abkommen

Beim Minsker Abkommen bohrte ich im Gespräch mit Jean lange nach. Dieses sah nicht nur einen Waffenstillstand vor, sondern der Konflikt sollte grundsätzlich gelöst werden, indem die beiden Donbass-Regionen einen autonomen Status in der Ukrainischen Verfassung erhalten.

Wie Südtirol in Italien sollten die Donbass-Regionen eine kulturelle Autonomie und viele föderale Rechte bekommen. Es wäre so einfach gewesen, Frieden in der Ukraine herzustellen!

Im Minsker Abkommen steht zehnmal, dass die ukrainische Regierung mit den Vertretern der Donbass-Republiken verhandeln müssen. Die Kiewer Regierung hat sich aber immer geweigert, mit diesen überhaupt zu reden, denn das wäre eine Anerkennung der Republiken gewesen. Eine föderale Verfassung gab es auch nicht. Stattdessen wurde das Minsker Abkommen nur dazu benützt, um Zeit zu gewinnen, die Ukraine aufzurüsten und NATO- Waffen zu liefern. Das haben 2022 der ehemalige ukrainische Präsident Poroschenko, Angela Merkel und François Hollande, die alle das Abkommen unterzeichnet hatten, öffentlich zugegeben.

Interessant war hier die wegwischende Reaktion von Jean, die ich als Ausdruck ukrainischer Umgangsformen nehme. Das Abkommen und dessen Wortlaut ist egal. Wenn es nicht passt, dann hält man sich nicht daran. Ausgeblendet wird mit dieser emotionalen Reaktion aber, dass ein ungelöster Konflikt weiter brodelt und zu Schlimmeren führt.

 

Negative Erfahrungen in Russland

Lange Phasen des Gespräches mit Jean gingen um Russland, das er in der Zeit seiner Aufenthalte als autoritär erlebte. An der Uni war der Geheimdienst tätig und befragte Studenten, was der Professor in der Vorlesung gesagt habe. Er wurde bespitzelt, alle wurden bespitzelt, die Kollegen seien eingeschüchtert gewesen. Es gäbe in Russland nur sehr wenige Menschen, die sich gegen die Regierungspolitik äussern. Besser sei es, nach aussen keine Meinung zu haben. Freie kulturelle Initiativen hätten es sehr schwer. Jean zeichnete aus seinen Erfahrungen ein düsteres Bild von Russland.

Für mich ist das aber nicht wichtig im Ukraine-Krieg. Damit müssen die Russen selbst fertig werden. Auch wenn es an Russland etwas zu kritisieren gibt, dann ist das niemals ein Grund, einen Krieg gegen Russland zu führen, wie es die NATO derzeit tut.

 

Verletzte Gefühle machen engstirnig – ein Frieden wäre so einfach gewesen

Für mich war das Gespräch mit Jean ernüchternd. Ich hatte erhofft, dass er neue Gesichtspunkte auf Basis eigener Erfahrungen bringen würde. Stattdessen formulierte er das ukrainische Russlandfeindbild, das festgefügt und resistent gegen widersprüchliche Tatsachen ist.

Ich habe durch das Gespräch aber besser verstanden, dass diesem Feindbild eine starke kollektive Opfertraumatisierung in der ukrainischen Bevölkerung zugrunde liegt. Es gibt viele Verletzungen in den Seelen. Sie fühlen sich als die ewigen Opfer. Gleichzeitig gibt es in der Ukraine Politiker und Medien, die genau mit diesen Traumata spielen und davon profitieren. Auch die USA und die NATO benützen diese Opfertraumatisierung, denn nur so liess sich die Ukraine auf den Wahnsinn ein, einen Stellvertreterkrieg gegen die viel stärkere russische Armee zu führen.

Dabei spielt es keine Rolle, ob es die Unterdrückung durch Russland überhaupt gegeben hat. Die Gefühle sind da und werden als Wirklichkeit erlebt. Es spielt keine Rolle, dass Russland die Ukraine 1991 in die Unabhängigkeit hat ziehen lassen. Es spielt auch keine Rolle, dass Putin immer wieder erklärte, dass er keinerlei Ambitionen hat, Russland territorial zu erweitern. Oder dass er sagte, er habe auch nichts gegen eine EU-Beitritt der Ukraine. Ihm wird sowieso nicht geglaubt. Die Unterdrückungsgefühle sind da. Mit diesen gab es keine Möglichkeit, die Sicherheitsbedürfnisse Russlands zu verstehen, für das ein NATO-Beitritt der Ukraine eine rote Linie ist. Aus diesen Unterdrückungsgefühlen heraus wurden auch die Bedürfnisse der russisch-verbundenen Ukrainer nicht verstanden, sondern diese wurden bekämpft.

Dieser Russland-Hass vor allem in der westukrainischen Bevölkerung führte zum Donbass-Krieg ab 2014. Mit dem Kriegseintritt Russlands 2022 wurden alle Vorurteile vollumfänglich bestätigt. Eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Eine kollektive emotionale Verletzung macht blind und engstirnig. Die Ukraine hätte den Krieg ganz einfach verhindern oder nach der Kriegsausweitung im Februar 2022 schnell beenden können. Sie hätte nur das Vorhaben in die NATO einzutreten aufgeben, die Abspaltung der Krim akzeptieren und den Donbass-Regionen föderale autonome Rechte geben müssen.

Es wäre ziemlich einfach gewesen und hätte auch nicht weh getan. Doch dazu hätten die ukrainische Bevölkerung und Regierung über ihre eigenen Schatten der kollektiven emotionalen Opfertraumatisierung springen und das Russland-Feindbild überwinden müssen.

Stattdessen führte die Ukraine – von der NATO finanziert, beliefert und angefeuert – einen aussichtslosen Krieg gegen das vielfach grössere Russland. Nun sind Hunderttausende gestorben, fast die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung hat das Land verlassen. Ein Wahnsinn. Eine Tragödie im wahrsten Sinne des Wortes.

Nach dem Gespräch mit Jean habe ich den Eindruck, dass diese Tragödie bis zur Katharsis fortgeführt werden muss. Zu fest sind die Positionen. Erst eine Katharsis wird eine innere Reinigung ermöglichen.

Durch die ukrainische Offensive in der russischen Kursk-Region im August 2024 wurden nun von der Kiewer Regierung auch alle Hoffnungen auf Friedensverhandlungen zunichte gemacht. Der Krieg wird wohl bis zum bitteren Ende weitergehen.

 

18. November 2024
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