«Wegen Geschäftsaufgabe geschlossen»– Erfahrungen auf dem Schulweg
Als ich mich in die Welt verliebte - Chronik einer Leidenschaft # 14
In meinem ersten Jahr im Gymnasium fuhr ich noch mit dem Bus in die Stadt, und die Route des Busses führte auf einer vielbefahrenen Strasse dem See entlang. Hart an der Strasse, auf der Höhe des heutigen Casinos Zürichhorn, standen einige neuerstellte Mehrfamilienhäuser. Sie stehen fast unverändert immer noch dort, und jedesmal, wenn ich an ihnen vorbeikomme, erinnere ich mich an den Tag, als ich aus dem Fenster des Busses blickte und an einem der Balkone ein grosses Schild angebracht sah, auf dem die Hausbewohner mit schlichten Worten über den Strassenlärm klagten.
Den Wortlaut habe ich längst vergessen, aber ich weiss noch, dass es kein eigentlicher Protest war. Er enthielt keine Forderung. Es war ein Appell an die Autofahrer, sich der Immissionen bewusst zu sein, die ihre Autos Morgen für Morgen, Abend für Abend verursachten.
Aus den Worten auf dem Transparent war das Bedauern spürbar, dass die Bewohner des Hauses nicht daran glaubten, mit ihrer Aktion etwas bewirken zu können. Damals wollte jedermann Auto fahren. Und wer in seinem Wagen bequem an den Häusern vorüber glitt und den Text auf dem Plakat zufällig las, staunte höchstens darüber, wie man sich am Automobilverkehr ernsthaft stören konnte.
Mir aber machte die Anklage Eindruck, und ich sehe das Schild mit der gestochen korrekten Schrift sofort wieder vor mir. Ich selber wuchs in einem ruhigen Quartier abseits der Hauptstrasse auf, und so war es das erste Mal in meinem noch jungen Leben, dass ich erkannte: Strassenlärm ist ein Problem. Menschen, die an einer stark befahrenen Strasse wohnen, können darunter leiden. Sie leiden so sehr darunter, dass sie den Mut haben, an ihrem Balkon ein Schild anzubringen und sich öffentlich zu beklagen.
Monate später hing das Transparent immer noch dort. Ein Jahr später noch immer. Die Holzplatte war so stabil installiert, dass ihr Wind und Wetter nichts anhaben konnten. Auch die Schrift verwitterte nicht. Doch die Autos rollten in immer grösserer Zahl an dem Haus vorbei. Niemand interessierte sich für das Anliegen seiner Bewohner. Der Zeitgeist huldigte dem rasanten Fortschritt, und weder die Abgase noch der Lärm konnten der Begeisterung für das Auto etwas anhaben. Das Wort Zeitgeist kannte ich damals noch nicht. Doch ich begriff: Es gab eine Kraft, die stärker als der Einzelne war.
Inzwischen fuhr ich nicht mehr mit dem Bus in die Stadt zur Schule, sondern mit meinem Vélo Solex, eine Art Mofa light, ganz in Schwarz mit bis heute ungebrochenem Kultstatus und so einfach in der Bedienung, dass sogar ich sie begriff. Sein Übername «Hebammentraktor» sagte schon alles über die Leistungsgrenzen des Vélo Solex, doch für mich war das etwas spezielle Gefährt genau richtig.
Mit meinem neuen Fortbewegungsmittel wählte ich eine andere Route nach Zürich. Ich fuhr durch das Seefeld, ein noch heute sympathisches kleines Quartier mit vielen Geschäften entlang der Strasse. Eines dieser Geschäfte zu jener Zeit war die Metzgerei Wörlen. Sie befand sich an der Ecke zur Höschgasse, dort, wo sich heute ein COOP befindet, und sie beschäftigte mich.
In mein Tagebuch schrieb ich über die Metzgerei: «Sie wirkt ziemlich schäbig, unrenoviert und bedürftig, mit Sonnenstoren, die früher einmal rot-weiss gestreift gewesen sein müssen, und einer trüben grauen Fassade. Wenn ich bei meiner Vorbeifahrt durch die Schaufensterscheibe blicke, sieht es im Innern ganz ähnlich aus. Man hat keine Lust, diese Metzgerei zu betreten. Fast nie sah ich mehr als eine einzige Kundin und immer sind es ältere Leute. Auch die Auswahl in der Vitrine und auf den Gestellen ist kümmerlich und sicher nicht frisch.»
«Manchmal lehnt eine Tafel beim Eingang: Ab 17 Uhr Heisser Fleischkäse, steht da zum Beispiel, oder Heute gekochte Rippli. Eine reichere Auswahl wird nicht geboten. Und immer die gleichen Wurstauslagen – es ist bedrückend, das Ende dieses Geschäftes mitansehen zu müssen. Auch für den Metzger Hans Wörlen muss es doch bitter sein, wenn immer mehr Kunden die grössere Metzgerei ein paar Häuser weiter bevorzugen oder sogar in die Migros gehen.»
Ein paar Wochen später dann ergänzte ich meine Schilderung:
«Als ich gestern wieder an der Metzgerei Wörlen vorbeikam, war das Geschäft komplett leer. Es brannte auch kein Licht mehr im Innern. Da stoppte ich meine Fahrt, parkierte den Solex am Strassenrand und begab mich zum Eingang des Ladens. Hinter der Glastür hing eine Tafel, und darauf stand: Geschlossen wegen Geschäftsaufgabe.»
Damit endet der Tagebucheintrag. Wieder hatte das Leben mich konfrontiert mit einer neuen Erfahrung. Ich erlebte das erste Mal, dass ein Ladeninhaber aufgab. Ich erlebte aufs neue den Trend der Zeit, der dazu führte, dass immer mehr Kunden von den kleinen Läden zu den Grossverteilern abwanderten.
Doch obwohl ich das Wirtschaftsgymnasium besuchte, war es nicht die ökonomische Seite, die mich interessierte, sondern der Mensch. Ich hatte den Metzger Hans Wörlen nie zu Gesicht bekommen, aber sein Schicksal berührte mich, weil er gegen den Lauf der Dinge offenbar nichts unternehmen konnte – genau wie die Mieter vorn an der Bellerviestrasse, die dem Autolärm ohnmächtig ausgesetzt waren.
Es gab nicht nur Opfer von Kriegen und Opfer von Armut. Betroffene und in diesem Fall Opfer des Fortschritts gab es auch gleich um die Ecke, auf den Wegen zu meiner Schule. Ich ahnte, dass uns der Name «Fortschritt» eigentlich in die Irre führt. Er gaukelt uns eine Verbesserung vor, obwohl er bloss eine Veränderung ist. Vielleicht hat das Ende der Metzgerei Wörlen meine lebenslängliche Fortschrittsskepsis begründet.
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