Wer bin ich – und wenn ja, wie viele waren beteiligt?
Genetische Väter, biologische Mütter, rechtliche Eltern – für Kinder wirds kompliziert.
«Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?» Diese Frage ist nicht nur der Titel eines Buches von Richard David Precht, sondern auch eine philosophische Reise. Die Frage, wer man ist, stellen sich ebenso alle Pubertierenden. Und die Antwort darauf, wird zunehmend schwierig. Die Fortpflanzungsmedizin sorgt dafür, dass aus dem Kinderwunsch Wirklichkeit wird, auch wenn biologische Voraussetzungen dem Steine in den Weg legen. Samenspende, Eizellenspende, Leihmütter – was möglich ist, wird gemacht. In der Schweiz ist zwar nur die Samenspende für verheiratete Paare erlaubt, doch Mütter und Väter mit dem Wunsch nach einem Kind können ins Ausland ausweichen, um ihren Wunsch Realität werden zu lassen. Im Blickpunkt sind gerade Firmen wie die BioTexCom in der Ukraine, ein Center für menschliche Reproduktion.
Leihmütter tragen dort gegen mehr oder weniger Bezahlung Babys für Eltern aus der ganzen Welt aus. Eine Umfrage der NZZ am Sonntag (abrufbar im Abo) ergab, dass in der Schweiz allein letztes Jahr 48 Kinder von Leihmüttern offiziell registriert wurden. Insgesamt zählten die Kantone in den letzten vier Jahren 144 Fälle. Fachleute schätzen die Dunkelziffer auf rund 1000 Kinder.
Geburten nach Samenspenden gibt es in der Schweiz über 4000 seit dem Jahr 2001. Damals trat das Fortpflanzungsmedizingesetz in Kraft, das die Samenspende in der Schweiz legalisierte. Seitdem haben sich 895 Männer als Samenspender registriert.
Es existiert das Recht auf Kenntnis der Abstammung.
Der Wunsch, ein Kind grosszuziehen, ihm ein liebevolles Umfeld zu schaffen und einen guten Start ins Leben zu erlauben, ist verständlich. Doch die neuen Möglichkeiten schaffen neue Probleme. Und das genau für diejenigen, die so sehnsuchtsvoll geplant werden: für die Kinder. Die Schweizer Verfassung und auch das Internationale Übereinkommen für die Rechte der Kinder legt nämlich das Recht auf Kenntnis der Abstammung fest. Die Bundesverfassung schreibt in Artikel 119 über Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich: «Jede Person hat Zugang zu den Daten über ihre Abstammung.» Auch im Fortpflanzungsmedizingesetz ist im Kapitel über die Samenspende dieser Anspruch vermerkt.
Die Schweiz regelt die Reproduktionsmedizin im internationalen Vergleich relativ streng. Erlaubt ist nur die Samenspende und nur für verheiratete Paare. Nach geltender Rechtslage wird die Reproduktionsmedizin streng an die Institution Ehe gebunden. Der Nationalrat hat als Erstrat mit dem Entscheid für die Ehe für alle dieses Recht korrekterweise auch auf gleichgeschlechtliche Paare ausgeweitet – der Ständerat wird als Zweitrat noch darüber beraten.
Profitieren davon können aber aus biologischen Gründen nur lesbische Paare, da die Eizelle zwingend von der Mutter kommen muss und Eizellenspenden in der Schweiz verboten sind. Im Sinne der Gleichstellung schreibt der Bundesrat in seinem 2015 veröffentlichten Bericht zur Modernisierung des Familienrechts denn auch: Das geltende Verbot der Eizellenspende verletze das «Grundrecht der persönlichen Freiheit und verstösst gegen das verfassungsrechtlich verankerte Gebot der Gleichbehandlung. Es scheint deshalb notwendig, über eine Aufhebung des geltenden Verbotes nachzudenken.» Der Bundesrat wollte die Samenspende für lesbische Paare denn auch auf später vertagen. Denn mit der Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe rückt das Gleichheitsgebot auch betreffend der Leihmutterschaft in den Fokus: Verheiratete männliche Partner sind auf eine Leihmutter angewiesen, wollen sie sich den Kinderwunsch erfüllen.
In den USA ist Leihmutterschaft legal.
Michael Braunschweig und sein Partner haben sich den Wunsch nach Kindern erfüllt. Der Sozialethiker und sein Mann haben ihre Zwillinge durch eine Leihmutter in den USA austragen lassen. Er sagt: «Ich bin sehr gespalten, was Leihmutterschaft angeht, denn die Gefahr, dass Frauen dabei ausgenutzt werden, ist nicht tolerierbar.» Die biologische Mutter ihrer Zwillinge sei eine gute Freundin, die er in den USA kennengelernt habe. Sie seien immer noch in Kontakt, die Zwillinge, obwohl noch klein, würden sie schon kennen. Selber habe die Freundin drei Kinder, das Grössere sei jetzt gerade eingeschult worden «und sie hat uns Fotos geschickt.»
Rechtlich hätten sie weder in den USA noch in der Schweiz Probleme gehabt und durch die Stiefkindadoption seien sie beide Väter der Kinder. Er freue sich, dass mit der Ehe für alle die Samenspende für lesbische Paare möglich sein soll, habe aber Zweifel, ob auch die Leihmutterschaft zugelassen werden sollte. «Das ist einfach etwas anderes und wenn schon muss wirklich sichergestellt sein, dass die biologische Mutter geschützt und die Rechte des Kindes respektiert werden.» Der Sozialethiker sagt, dass die Grenzen des Machbaren in einer Gesellschaft immer wieder neu ausgehandelt werden müssten. «Die austragende Mutter und das Kind sind die vulnerabelsten bei der Leihmutterschaft. Ihnen gilt ein ganz besonderer Schutz. Kinder sind keine Ware und Schwangerschaft ist keine Dienstleistung.»
«Um die eigenen Wurzeln zu kennen, müssen die Angaben aber vorhanden sein. Sonst läuft der Rechtsanspruch ins Leere», so Kinderanwalt Christophe Herzig.
Ein Kind kann also einen genetischen, einen biologischen, einen rechtlichen und einen sozialen Elternteil haben. Für ein Kind kann das sehr kompliziert werden und der Drang zu wissen, woher man kommt, kann übermächtig werden. Laut Verfassung und Gesetz hat jedes Kind auch das Recht dazu. Kinderanwalt Christophe Herzig sagt, dass das Bedürfnis in den allermeisten Fällen auftrete. «Um die eigenen Wurzeln zu kennen, müssen die Angaben aber vorhanden sein. Sonst läuft der Rechtsanspruch ins Leere.» Beim Beispiel der Samenspende in der Schweiz wäre das möglich. Artikel 27 des Fortpflanzungsgesetzes (FMedG) postuliert: «Hat das Kind das 18. Lebensjahr vollendet, so kann es beim Amt Auskunft über die äussere Erscheinung und die Personalien des Spenders verlangen.» Kann ein sogenannt «schützenswertes Interesse» nachgewiesen werden, so kann diese Auskunft gar jederzeit verlangt werden (Abs. 2 von Art. 27 FMedG).
Aber: «Es gibt keinen Rechtsanspruch, seinen biologischen Vater zu treffen oder ihn kennenzulernen» präzisiert Kinderanwalt Herzig. Nur Personalien auf Papier seien aber oft nicht genug, die unbeantwortete Frage nach der Abstammung könne auch zu psychischen Problemen führen. Man könne dann versuchen, mit Hilfe der Behörden, eventuell mit einem Brief an den biologischen Vater, einen weitergehenden Kontakt herzustellen. «Das müssen sich alle Elternteile überlegen und dafür Verantwortung übernehmen. Häufig wird zu wenig aus der Sicht des Kindes und seiner Bedürfnisse gedacht.»
Für Herzig ist klar, dass neben dem Recht nach Autonomie der Reproduktion das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung ebenso hoch gewichtet werden müsse. Medizinisch sei vieles möglich, jedes Paar und die Gesellschaft als Ganzes müssten entscheiden, was moralisch und ethisch vertretbar sei. «Vor der Geburt müssen alle Beteiligten bedenken, welche Fragen und Bedürfnisse das Kind haben könnte und wie man seine Rechte wahren kann», so der Kinderanwalt. Das wichtigste seien in jedem Fall liebevolle und fürsorgliche Eltern, die offen und ehrlich zu ihren Kindern seien.
Neues Recht zu Familie und Abstammung ist in Bearbeitung.
Zurzeit arbeitet eine Expertengruppe an der Revision des Abstammungsrechts und soll ihre Resultate bis 2021 vorlegen. Dabei soll den rechtlichen Konsequenzen der neuen Lebensrealitäten und Familienmodelle Rechnung getragen werden. Diskutiert werden sollen auch die verschiedenen Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin und deren Konsequenzen. Dabei werden weder Verteufelung noch reiner Machbarkeitsglaube gute Wegweiser sein: Natürliche Empfängnis ist nicht gleichbedeutend mit Wohl des Kindes – wie viele Kinder mussten und müssen hören, sie seien «ein Unfall», müssen entdecken, dass sie ein sogenanntes «Kuckuckskind» sind, oder werden im schlimmsten Fall misshandelt oder vernachlässigt. Genau so wenig sind alle Eltern, die mit Hilfe der Fortpflanzungsmedizin Kinder haben, gute Eltern – ist der Wunsch mal erfüllt, kommt es oft auch zu Enttäuschung, weil das Kind gar nicht so ist, wie man sich das erhofft hatte.
Ein Kind ist weder ein Projekt noch die Kopie einer Wunschvorstellung und schon gar nicht ein Mittel zur Selbstverwirklichung. Ein Kind ist ein neuer Mensch, der das Recht auf einen liebevollen Lebensstart hat und in eine Gesellschaft hineingeboren wird, die Kinder mit Würde behandelt und deren Rechte achtet – egal woher sie kommen und wohin sie gehen wollen. Oder, wie es der Kinderanwalt sagt: aus der Sicht der Kinder denken.
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