Wie halten Sie's mit der Neutralität? (10)

«In all den Kriegen und Konflikten unserer Zeit fehlt die Bereitschaft, eigene Grenzen jeglicher Art zu überwinden.» Wir haben zum Thema Neutralität eine Leserumfrage erstellt. Zehnter Teil der Antworten.

Leserumfrage
Umfrage: Dürfen wir heute noch neutral sein? Oder müssen wir es sogar? Visual: Nicole Maron

Was bedeutet es für Sie heute, neutral zu sein? Was wünschen Sie – oder fordern Sie von der Politik? Dürfen wir uns heraushalten aus Kriegen? Welche politische Haltung finden Sie angebracht – für die Schweiz oder für Deutschland – auch angesichts der ökonomischen Verflechtungen und Bündnisse? Welche Einflussnahme hat ein neutraler Staat heute?

Danke für die vielen, auch kontroversen Antworten, von denen wir auch heute einige veröffentlichen...

Überwindung

«We shall overcome». Wer kennt das Lied nicht? Hymne der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, ursprünglich aufgenommen von Peter Seger, gesungen von Joan Baez in Washington 1963 bei der Rede von Martin Luther King «I have a dream», und auch Thema seiner eindrücklichen Predigt vier Tage vor seiner Ermordung 1968. Es ist mehr als ein Lied. Es gehört nicht in die Schublade des letzten Jahrhunderts, es ist noch lange nicht überholt.

Überwindung, so denke ich, ist die Voraussetzung für jede Veränderung, jeden Prozess, persönlich oder gesellschaftlich, die echt und lebensfähig sein wollen. Überwindung hat nichts mit Gewalt oder Unterdrückung zu tun. Sie ist der Mut, hinzustehen, trotz Angst, Resignation oder Hoffnungslosigkeit. Sie ist die Kraft, umzugehen mit Wut und Hass, den Weg trotzdem gelassen fortzusetzten. Sie ist die Bereitschaft, verstehen zu lernen, anzunehmen, da zu sein, durchzutragen, vielleicht auch etwas zu durchleiden, dranzubleiben. Sie ist die Beharrlichkeit, voller Vertrauen, die Vision vor Augen, einen Weg zu gehen, auch dort, wo keiner sichtbar ist oder wo sich Hindernisse auftürmen. Sie ist der achtsame und wache Wille, ihre Flamme zu hüten, sei es im eigenen Leben, in Beziehungen, zwischen Religionen, Ethnien, Völkern. Überwindung eignet sich nichts an, zwingt niemanden. Sie überschreitet Grenzen, stärkt das Gute, fördert den Frieden und, ist sie gereift, gebärt sie die Liebe. 

Das Lied ist ein Funke, entfacht durch die Taten von Menschen, die es gewagt hatten, eizustehen für Menschlichkeit und eine Freiheit, die nicht durch Krieg erkämpft, nicht mit Waffen erobert wurde, keine Opfer forderte, höchstens die eigenen. Der Funke ist nicht erloschen. Er kann weiterhin Herzen entzünden, wenn wir es zulassen. Überwindung ist kein bequemer Weg. Sie fordert inneres Engagement, Lernbereitschaft.

Ist Überwindung kein Thema mehr in unserer Zeit? Wie soll es je Frieden werden, oder nur Schritte getan in Richtung Frieden, ohne die Überwindung, in uns, zwischen uns? So wie ein Konflikt immer zwei Beteiligte braucht, so benötigt die Überwindung die Bereitschaft beider Parteien. In all den Kriegen und Konflikten unserer Zeit fehlt die Bereitschaft, eigene Grenzen jeglicher Art zu überwinden. 

We shall overcome,
we shall overcome.
Deep in my heart, I do belive,
that we shall overcome – today.

Üben wir uns darin!

Silvia Gabriel

 

Visual

 

Bitte schicken Sie uns Ihre Antworten gerne an [email protected] – wir veröffentlichen sie auf unserem Infoportal und einige auch im Magazin. 

26. Januar 2024
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