«Wir müssen üben wie im Krieg»

Das sagte Boris Pistorius. Über das «Mindset» in der «Zeitenwende».

Netzfund - Screenshot Bundeswehr

Aufrüstung ist das Gebot der Stunde und «der Faktor Zeit hat erste Priorität», um Deutschland «kriegstüchtig» zu machen, so der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius im Gespräch mit Sandra Maischberger in der ARD am 24. April 2024. Nach Einschätzung des Verteidigungsminister hat Deutschland für die Aufrüstung fünf bis acht Jahre Zeit. Er sei sich ziemlich sicher, dass ein Angriff Russlands nicht unmittelbar bevorstünde. 

In der Rüstungsproduktion «geben wir Gas». Für die «Wiederherstellung der Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr» brauche es dreistellige Milliardenbeträge Steuergeld. Ein «sozialer Kahlschlag» sei jedoch nicht in seinem Sinne, betonte der SPD-Politiker. Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht – möglicherweise auch für Frauen – sei in Planung. 2011 war die allgemeine Wehrpflicht ausgesetzt worden.

Die Abgeordnete Agnes Malczak von Bündnis 90/Die Grünen betonte damals, dass es ihrer Fraktion lieber gewesen wäre, die Wehrpflicht ganz abzuschaffen. Die «Zeitenwende» und das veränderte «Mindset» zeigen sich an diesem Beispiel ganz deutlich. Von der Friedensorientierung der Grünen ist mittlerweile kaum etwas übrig. Pistorius erwähnte das Wort «Frieden» im Gespräch ganze zwei Mal: «Wir tun immer noch so, als wenn wir in Friedenszeiten leben würden.» Und noch einmal in seiner Beurteilung der «Schandfleckfrage» von Rolf Mützenich.

 

Territoriales Führungskommando der Bundeswehr

«Die Aufstellung des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr (TerrFÜKdoBw) im September 2022 ist eines der Ergebnisse der Zeitenwende.» Mit dem TerrFÜKdoBw für die Landesverteidigung will die Bundeswehr auch schneller auf Krisen reagieren können. Es brauche Kräfte, die ggf. schnell für einen nationalen Krisenstab bereitstehen. «Damit werde auch Erkenntnissen aus der Arbeit des Corona-Krisenstabes im Bundeskanzleramt Rechnung getragen, so das BMVg.» Generalmajor Carsten Breuer ist erster Befehlshaber des TerrFÜKdoBW. Er leitete zuletzt den Corona-Krisenstab im Bundeskanzleramt. - Die Bundeswehrreform geht jedoch noch weiter in Richtung Zentralisierung, und es ist bereits von einem «Operativen Führungskommando» die Rede. (Hier und hier.)

Operationsplan Deutschland (OPLAN DEU) 

Seit März 2023 entwickelt das Territoriale Führungskommando den «Operationsplan Deutschland» (OPLAN DEU). Der OPLAN DEU beinhaltet neben militärischen Massnahmen umfassende Schritte zur Militarisierung der deutschen Gesellschaft. 300 Vertreter aus Militär, Politik, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft besprachen den OPLAN DEU im Januar 2024 beim Symposium «Deutschland gemeinsam verteidigen» in Berlin. (hier und hier) Der Deutsche Feuerwehrverband schreibt in seinem Tagungsbericht: «Ministerialdirigentin Dr. Jessica Däbritz (Bundesministerium des Innern), stellte einen erheblichen Nachholbedarf fest: «Deutschland muss unverkrampfter etwa über Krieg sprechen.» Die zivil-militärische Zusammenarbeit spiele eine Schlüsselrolle, etwa auch bei der «Mehrfachverwendung» von Helferinnen und Helfern, meinte Ralph Tiesler, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe.

Innere und äussere Sicherheit sind kaum mehr trennbar

«Am Ende soll der OPLAN DEU das Ergebnis einer übergreifenden Planung der Bundeswehr in den Dimensionen Land, See, Luft, Weltraum sowie Cyber- und Informationsraum unter Beteiligung ziviler Partnerorganisationen und Behörden sowie Länder und Kommunen sein.» «Innere und äussere Sicherheit sind kaum mehr trennbar. Wir werden unsere Aufgaben nur mit der Unterstützung der Länder, den Behörden und der Wirtschaft erfüllen können», sagt Kapitän zur SeeFrank Fähnrich, Abteilungsleiter J5 (Planung von Operationen und Weiterentwicklung) im TerrFüKdoBw. Katastrophenschutz, Zivilschutz und Verteidigung sollen kooperieren. (Quelle) Dazu passt: Gesundheitsminister Karl Lauterbach will auch das Gesundheitswesen «kriegstüchtig» machen.

Netzfund

Deutschland als Drehscheibe im Herzen Europas

Die Bundesrepublik fungiert beim «Operationsplan Deutschland” als logistische Drehscheibe für den NATO-Aufmarsch in Richtung Osten. Mit dem OPLAN DEU soll unter anderem der Durchmarsch von NATO-Grossverbänden durch Deutschland organisiert werden. (hier und hier) Das Grossmanöver Quadriga 2024, Teil des grössten NATO-Manövers (Steadfast Defender 2024) seit Ende des Kalten Krieges mit etwa 90 000 Soldatinnen und Soldaten, zielt bereits auf diese militärische Aufgabe Deutschlands als Transitland und Host Nation Support ab. Quadriga erstreckt sich über einen Zeitraum von rund vier Monaten bis Ende Mai 2024. (hier und hier)

Der Host Nation Support beinhaltet die Sicherung der Verlegungsrouten sowie die Betankung, Versorgung und Unterbringung verbündeter Streitkräfte. Das Szenario der Militärübung ist ein russischer Angriff auf alliiertes Territorium, der zum Ausrufen des sogenannten Bündnisfalls nach Artikel 5 des NATO-Vertrags führt. (hier und hier) Laut Nachrichtenportal german-foreign-policy kommt selbst das Verteidigungsministerium zu der Einschätzung, aus seiner Drehscheibenfunktion für den NATO-Aufmarsch in Richtung Osten erwachse Deutschland «in besonderem Masse eine Bedrohung” – «auch militärisch».

Gesamtgesellschaftliches Gefahrenbewusstsein erhöhen

Beim Symposium in Berlin ging es darum, der «Öffentlichkeit die aktuellen Bedrohungen» zu verdeutlichen und gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass «es einen Plan gebe, um diesen Bedrohungen zu begegnen», so Generalleutnant André Bodemann, Befehlshaber des TerrFüKdoBw.

Die Teilnehmer waren für den Stellvertreter des Bundesvorsitzenden des Deutschen BundeswehrVerbandes, Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert, «Multiplikatoren», die dazu beitragen, «dass sich das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein für die gewandelte sicherheitspolitische Realität weiter erhöht.» (Quelle) Man beachte die Aufrüstungs- und Kriegs-PR. Das Wort «Zeitwende» oder «Zeitenwende» kommt seit den 1920er Jahren gehäuft vor, wie sich unschwer auf Google Books Ngram Viewer erkennen lässt.

Zeitalter der unkontrollierten Aufrüstung

Bedrohungsszenarien erhöhen die Toleranz der Steuerzahler für steigende Rüstungs- und sinkende Sozialausgaben. Sie «normalisieren» die Vorstellung von Krieg in anderen Ländern, aber auch von Krieg im eigenen Land. Niklas Schörnig, Politikwissenschaftler am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt, sieht im Gespräch mit der Deutschen Welle (DW) eine militärische Abrüstung in weiter Ferne. Er fordert ein neues internationales Ziel: «Dass Staaten zumindest wieder kontrolliert aufrüsten, dass man sich also einigt: Wir rüsten insgesamt nicht über ein bestimmtes Niveau auf. Dann wäre da schon einmal eine gewisse Dynamik herausgenommen. Die Rüstungskontrolle könnte durchaus ein Zwischenziel sein, also Rüstung zu kontrollieren und zu stabilisieren, damit nicht jeder völlig wild aufrüstet, wie er gerade möchte.» 

Nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich hat sich Ärger eingehandelt, als er im Bundestag über eine Beendigung des Ukraine-Konflikts sprach: «Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?» 

Markus Deggerich schrieb bereits im Februar 2022 in der Elternkolumne im SPIEGEL, was er seinen Kindern zum Thema Krieg sagt, und was wohl die meisten Menschen in Deutschland bewegt: « … dass die Mütter und Väter in Russland ihre Kinder genauso lieben wie wir hier oder die Menschen in der Ukraine oder wohl einfach überall. Dass die Kräfte, die Konflikte oder Krieg steuern, immer versuchen, den anderen zu dämonisieren und zu entmenschlichen, und dass wir da immer hellhörig sein müssen. 


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