«Wir rennen diesen Pfadfindern doch nicht hinterher!»
Januar 1975: Eine WG von Fleissigen – Lärm ist Gewöhnungssache – Marx und Lenin bei Tagesanbruch. Eine Pfadfinderübung fürs Fernsehen und ihre Folge: Als ich mich in die Welt verliebte. Die Chronik einer Leidenschaft. Folge 82
Es hatte sich abgezeichnet. Ich fühlte mich nicht mehr wohl in der Waldegg. Mit meinem Einstieg beim Fernsehen änderte sich mein Leben. Mehr oder weniger jeden Morgen fuhr ich nun durch die ganze Stadt bis ins Fernstehstudio, um abends auf dem selben Weg wieder heimzukehren. Aber ich hatte schon länger nicht mehr das Gefühl, nach Hause zu kommen. Unsere Wohngemeinschaft, so kam es mir vor, verlotterte immer mehr. Es hatten sich zwei Pole gebildet, die sich gegenseitig vor dem Glück standen: Während die einen aus dem Tag etwas machten, liessen die anderen den Tag auf sich wirken, gönnten sich einen Joint und hatten es mit der Sinnsuche nicht so eilig. Auch der vorübergehend eingehaltene Haushaltplan blieb wieder unerledigt am Küchenschrank hängen. Die Fleissigen nervten sich. Doch es nützte nichts.
Dann quartierten sich neue Bewohner ein, und einer von ihnen brachte auch gleich seine Freundin mit, obwohl das nicht so abgemacht war. Da reichte es mir – und ich zog aus. Pamela, die den Kommunentraum ebenfalls ausgeträumt hatte, schloss sich mir an. Obwohl unser Sommerflirt sich verflüchtigt hatte und wir offenbar doch nicht füreinander bestimmt waren, suchten wir gemeinsam eine neue Bleibe.
Der Glücksfall einer Wohngemeinschaft mitten in Zürich bot sich uns an. Keine Hänger und Kiffer. Eine WG von Fleissigen. Zwei Lehrerinnen und ein Lehrer brauchten zwei weitere Mitbewohner für die 5-Zimmerwohnung, die sie gerade gemietet hatten. Die Wohnung befand sich im obersten Stockwerk eines älteren stattlichen Wohnhauses, das ausser uns nur Büros beherbergte. Noch heute fahre ich immer wieder an dem Haus vorbei, das an der Forchstrasse liegt, und jedesmal blicke ich zum obersten Stock hinauf und sage zu Julia, wenn sie neben mir sitzt: «Da oben habe ich vor 50 Jahren gewohnt.»
Julia hat es schon Hunderte Male gehört. Ich sage es trotzdem. Ich sage es überall in der Stadt, wo ich einmal gewohnt habe. Es sind Häuser, mehr nicht, aber sie stehen noch. Sie machen meine Lebensgeschichte lebendig.
Die Forchstrasse als Einfallachse zur Innenstadt war schon damals sehr stark befahren. Und weil mein Fenster zur Strasse ging, hatte ich in den Stosszeiten das Gefühl, als bewege sich der ganze Verkehr quer durch mein Zimmer.
Das war ich mir nicht gewohnt. Vor meinem Fenster im Haus meiner Kindheit am Zürichsee hatten nur die Vögel gezwitschert. Und den Lärm der Zürcherstrasse auf der Waldegg hatten die Bäume im Garten geschluckt.
Wenige Wochen nach unserem Einzug beschloss ich deshalb, dem Hausbesitzer zu schreiben und mich über den Strassenlärm zu beschweren. Ich besitze leider den Brief nicht mehr, den ich ihm schrieb, aber ich weiss noch, dass der Eigentümer des Hauses selber nicht an einer stark befahrenen Strasse wohnte, sondern an ruhiger, erhöhter Lage im gleichen Küsnacht, das auch mein Zuhause gewesen war.
Ich aber wollte gar kein Küsnachter Vogelgezwitscher mehr hören. Der Verkehrslärm vor meinem Fenster in Zürich kam mir im Grunde gerade recht, denn er gab mir Gelegenheit, dem Häuserbesitzer vom Zürichsee meine politische Einstellung kundzutun. Ich beklagte mich nicht, sondern klagte an und forderte eine Mietreduktion. Die Miete von 1500 Franken – aufgeteilt in fünf Teile – konnten wir ohne Probleme bezahlen, aber ich wollte sie nicht bezahlen. Ich sah mein Schreiben als Mieterkampf: Für gerechte Mieten – und gegen den Lärm des Privatverkehrs!
Meine Forderung wies der Hausbesitzer freundlich zurück – und er legte mir nahe, mich an den Autolärm zu gewöhnen. Wie so vieles im Leben, argumentierte er, sei auch der Lärm «Gewöhnungssache». An das Wort kann ich mich noch erinnern, denn es ärgerte mich. Im Grunde empfahl er mir, nicht zu kämpfen, sondern zu schlucken. Aber ich schrieb ihm nicht mehr zurück – denn was geschah? Ich gewöhnte mich an den Lärm. Der Mann hatte recht gehabt. Ich zitiere ihn gelegentlich heute noch. Vieles, was uns im Leben stört, ist tatsächlich Gewöhnungssache. Und jedesmal geht es darum, ob sich der Kraftaufwand lohnt, gegen die Gewöhnung zu kämpfen – oder ob wir uns ihr ergeben.
*
Obwohl ich nun beim Schweizer Fernsehen fest engagiert war und Ende Monat – wie damals üblich – im Lohnbüro mein Zahltagssäcklein erhielt, galt meine Hauptleidenschaft nicht der Arbeit beim Fernsehen, sondern der Politik. Und sie galt nicht der schweizerischen Realpolitik, die mich wenig bis gar nicht interessierte, sondern der Politik für die Revolution. Nach meinen Aktivitäten beim «focus», für die Soldaten und für die Iren war ich es leid, überall nur für einzelne Forderungen kämpfen. Reformen genügten mir nicht. Es ging um das Ganze. Nur der Sozialismus garantierte eine bessere, gerechtere Zukunft.
Und so beschloss ich am Anfang des Jahres 1975, der «RAZ» beizutreten. Die «Revolutionäre Aufbauorganisation Zürich», die sich als «aufbauende» Vorbereiterin einer neuen sozialistischen Kampfpartei definierte, war eine Folgeerscheinung der 68er-Zeit. Gegründet von den «Fortschrittlichen Studenten», gab es die RAZ schon mehrere Jahre, als ich, durch Empfehlung einer Genossin, an der ersten Versammlung teilnehmen durfte.
Das war ein grosser Moment für mich. Endlich konnte ich direkt für die grosse Sache des Sozialismus einstehen. Endlich gehörte auch ich zur kommenden Avantgarde der Revolution.
Die RAZ war die mit Abstand grösste Gruppierung der Neuen Linken in Zürich. An ihren Versammlungen nahmen in meiner Erinnerung regelmässig bis zu 100 Mitglieder teil. 100 Gleichgesinnte. 100 junge, enthusiastische Menschen, die dasselbe wollten wie ich. Eine völlig neue Szene öffnete sich für mich. Und ich gehörte dazu.
Versammlungsort war das Volkshaus. Wie oft hatte ich Konzerte im Volkshaus besucht! Nun kehrte ich dahin zurück, aber diesmal nicht mehr als Journalist, der seine linke Gesinnung in seine Texte schmuggelt, sondern als werdender Jungkommunist, der nicht schreibt, sondern handelt.
Das Handeln freilich beschränkte sich zunächst auf das Lesen. Wenn ich ein Kommunist werden wollte, musste ich die Klassiker kennen. Ich hatte viel nachzuholen. Und weil ich gewohnt war, das, was ich anpackte, richtig zu machen, wollte ich auch bei der Lektüre gründlich zur Sache gehen.
Frühmorgens um 5 Uhr 30, wenn draussen noch tiefe Dunkelheit herrschte und meine WG-Mitbewohner noch selig schliefen, sass ich schon in der Küche, den ersten Kaffee neben mir auf dem Tisch, um nicht einzuschlafen, und las die Schriften von Marx, Lenin und Mao-tse-tung. Und ich las sie nicht nur, ich unterstrich jeden Satz, den ich wichtig fand. Weil ich aber alle Sätze für wichtig hielt, unterstrich ich sie alle. Das Unterstreichen, so glaubte ich, würde mir jede markierte Zeile in mein Gehirn hinein hämmern.
Zwischendurch fiel der intellektuell gepeinigte Kopf auf das Buch herab. Ich schreckte hoch und zwang mich weiterzulesen. Wenn ich mir heute vorstelle, wie ich in dieser Küche sass, an den Marterpfahl dieser Schriften gefesselt, mit mir selbst und der Müdigkeit ringend, habe ich richtig Mitleid mit mir. Ein Theoretiker war ich nie, und mein Versuch, diese logischen marxistischen Formeln in mein so anders geartetes Hirn zu bekommen, kam einer geistigen Vergewaltigung gleich. Kaum hatte ich einen Satz gelesen, vergass ich ihn wieder.
Gegen 7 Uhr tauchten dann meine Mitbewohner, alle noch etwas verschlafen, nach und nach in der Küche auf und staunten über meine politische Disziplin. «Links» im weitesten Sinn waren auch sie, doch niemals hätten sie ihren Schlaf für ihre Gesinnung geopfert. Ihre Weltanschauung war für sie ein Lebensgefühl, eine innere Haltung, aber keine äussere Konsequenz. Ich selber dagegen hatte das eine vom anderen noch nie trennen können.
*
Doch zurück zum Fernsehen, das mich immerhin fünf Tage pro Woche beanspruchte und, wie sich gleich zeigen wird, nicht von mir unterschätzt werden wollte. Mit dem neuen Jahr 1975 war das Sendegefäss der «antenne» abgeschafft worden. An seine Stelle trat der «Bericht vor acht», der aus einem einzigen, dafür längeren Beitrag bestand, was eine Vertiefung ins Thema erlaubte. Einen ersten Filmbericht über das Phänomen der «Jesus People» produzierte ich noch zusammen mit einem erfahrenen Journalisten. Doch den zweiten Film durfte ich schon allein gestalten.
«Pfadi heute» hiess der spätere Titel. In den Jahren nach 1968 wurde die Pfadfinderei, wie viele andere Institutionen, als nicht mehr zeitgemäss kritisiert. Die Mitgliederzahlen gingen zurück, und es zeichnete sich die Notwendigkeit einer Erneuerung ab. Darüber sollte ich nun berichten.
Das Konzept am Schreibtisch war bald entworfen. Ich vereinbarte Interviews mit dem Bundesfeldmeister der Schweizer Pfadfinder, mit einem Freizeitpädaogen, der Pfadfinderführer ausbildete, und mit dem Leiter einer lokalen Pfadi-Abteilung. Impressionen von einer Pfadfinderübung plante ich zur Illustrierung des Begleitkommentars.
Mit dem obersten Pfadfinder musste ich reden, und auch der Ausbildner musste vorkommen. Doch in der Wahl der Pfadi-Abteilung war ich ganz frei, und ich wählte die Pfadi von Winterthur. Ich wählte sie deshalb, weil sie als progressive, «linke» Abteilung galt und ich einige ihrer jungen Führer sogar schon kannte. Besonders politisiert war eine neugegründete Pfadigruppe innerhalb der Abteilung. Sie nannte sich «C.G. Jung», weil es harmloser tönte, und veranstaltete Übungen für Mädchen und Buben gemeinsam – was damals noch ziemlich ketzerisch war.
Für den immerhin 15 Minuten dauernden Film brauchte ich mehr als nur einen Drehtag. Am letzten Tag, an einem Samstag, wollte ich eine Pfadfinderübung begleiten, um genügend Bildmaterial zu erhalten. Die Übung begann um 14 Uhr an einem Waldrand bei Winterthur. Mit meiner Equipe war ich pünktlich zur Stelle. Die Pfadiführer hatten im Wald einen Schatz versteckt, den die Pfadibuben nun suchen mussten. Unterwegs galt es, Hindernisse zu überwinden und Rätsel zu lösen. Aufgeteilt in zwei Gruppen rannten die Pfadfinder los.
«Und wir?» fragte mich der Kameramann.
«Wir folgen ihnen», erklärte ich. So hatte ich mir das überlegt.
Der Bildgestalter schaute mich zweifelnd an. «Versuchen wir’s», meinte er dann, und wir hängten uns an eine der beiden Gruppen. Hinter ihnen her liefen wir in den Wald hinein. Doch nach kaum hundert Metern blieb der Tonoperateur kopfschüttelnd stehen. «So geht das nicht», meinte er, und der Mann an der Kamera fand dasselbe: «Wir rennen doch nicht den ganzen Nachmittag diesen Pfadfindern hinterher!»
Ratlos und dumm stand ich da. Und es wurde mir klar, was für ein Anfänger ich noch war. Die Regie übernahm jetzt der Kameramann. Er veranlasste, dass die Übung noch einmal von vorn begann. Aber diesmal als Inszenierung. Als Simulation fürs Fernsehen.
Zurück im Studio konnte es sich der langjährige Kameramann nicht verkneifen, gegenüber dem Chefredaktor meine Konzeptlosigkeit zu erwähnen. Er beklagte sich nicht über mich, er stellte nur lächelnd fest, ich müsse wohl noch einiges lernen. Bei der Filmabnahme am Schneidetisch zeigte sich dann, dass ich ein weiteres Grundprinzip nach wie vor nicht begriffen hatte. Meinen Begleitkommerntar bebilderte ich mit den gestellten Szenen der Pfadfinderübung. Auf den Bildern waren wild im Gelände herumspringende Pfadibuben zu sehen. Die Szene war so bewegt, dass sie jede Konzentration auf den Text verunmöglichte. Die Bild-Text-Schere, wie sie noch heute genannt wird, stand weit offen. Ich hätte ruhigere Bilder verwenden müssen, doch dafür war es zu spät, und Peter Schellenberg, der Chefredaktor, erkannte in diesen Momenten, dass er mich in meiner unbekümmerten Selbstsicherheit überschätzt hatte.
«Pfadi heute» - die Reportage über die Pfadfinder im Schweizer Fernsehen 1975
Der Film wurde notdürftig nachgebessert und danach ausgestrahlt, doch Schellenberg kam zum Schluss, dass viertelstündige Filmberichte, mindestens vorläufig noch, eine zu grosse Schuhnummer für mich waren. Er degradierte mich in den «Blickpunkt Region», der nur kurze Nachrichten sendete.
Das war hart. Meine Jungfilmerträume musste ich vorerst auf später verschieben. Schellenberg umstimmen zu wollen, war sinnlos, denn ich wusste, er hatte recht. So selbstkritisch konnte ich manchmal sein. Aber wirklich nur in ganz schwachen Minuten – und so eine Minute war jetzt. Regionalnachrichten zu produzieren mutete wie eine Strafe an.
Doch es gab da eine Option. Ich brauchte nur etwas Geduld.
Nächste Folge am 15. Dezember
Vom Autor soeben erschienen:«Orwells Einsamkeit - sein Leben, ‚1984‘ und mein Weg zu einem persönlichen Denken», lindtbooks 380 Seiten, broschiert. Erhältlich im Buchhandel - zum Beispiel bei Ex Libris oder Orell Füssli
Alle weiteren Informationen: www.nicolaslindt.ch
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