Zeit sparen macht die Zeit knapp

Die Alternative zum Geschwindigkeitswahn ist nicht Entschleunigung, sondern Resonanz. Dies ist das Fazit der jahrzentelangen Forschung des Jenaer Soziologen Hartmut Rosa.

Sie haben so viele Termine, dass es schwer war, Sie zu treffen. Leben Sie entschleunigt?
Ich lebe keineswegs die Entschleunigung, sondern den Stress. Aber ich höre viel Musik – ohne die könnte ich nicht leben. Und fahre gern in mein kleines badisches Dorf. Der Blick auf die Schweizer Berge erfreut mich. Als ich 13 war, habe ich mein Zimmer voll Bergbilder gehängt und eine Seilbahn gebaut. Nicht weil ich die Berge bezwingen will, sondern weil sie etwas in mir zum Schwingen bringen.

Sie gelten als «Geschwindigkeitspapst» seit Ihrer Habilitationsschrift «Beschleunigung». Jetzt kommt druckfrisch «Resonanz» hinzu, zusammen über 1300 Seiten. Wie viel Lebenszeit steckt in diesen Büchern?
An der «Beschleunigung» schrieb ich etwa fünf Jahre, an «Resonanz» etwa zehn. Dahinter steht also ein langer Prozess des Nachdenkens. Es begann mit einem Aufsatz über Lebensführung. Ich wollte zeigen, dass an der liberalen Auffassung «Wie wir leben, ist unsere Privatsache» etwas falsch ist. Denn wir werden durch Zeitstrukturen gesteuert – nicht privat, sondern kollektiv.
Plötzlich wurde ich bei Veranstaltungen als «Entschleuniger» angekündigt. Das machte mich nervös. Denn das klingt zwar logisch, ist aber nicht richtig. Einfach einen Gang runterschalten geht ja nicht: Die Zeit ist mit der Wachstumsgesellschaft verknüpft. Und Langsamkeit ist kein Selbstzweck, Geschwindigkeit nicht per se schlecht. Im Buch stelle ich dar, dass Beschleunigung dann zum Problem wird, wenn daraus Entfremdung folgt. Wenn ich durch die Bäume eile oder durch Menschen. Wenn ich die Anverwandlung der Welt nicht mehr erfahre.
Ich suchte also einen Gegenbegriff zur Entfremdung, denn bisher weiss niemand, was «nichtentfremdet» ist. Die wahre Natur des Menschen? Gibt es nicht. Ein authentisches Leben? Ist auch kaum besser. Meine Antwort ist: Resonanz.

Die expansive Moderne – Motto: höher, schneller, weiter – beschleunigt sich in allen Bereichen. Was ich jedoch nicht verstanden habe: Wo schlägt ihr kaltes Herz? In der Finanz­industrie, in den Algorithmen der Londoner Börse, die in Sekundenbruchteilen die Börsenwerte bestimmen?
Das ist das grösste Problem des Buches. Beschleunigung ist nicht ihre eigene Ursache. Die Antwort «Das kalte Herz sitzt im Kapitalismus» ist nicht falsch: Der Selbstverwertungszwang des Kapitals ist ein starker Beschleuniger. Der Zyklus G-W-G, also Geld – Ware – noch mehr Geld, funktioniert nur über Wirtschaftswachstum und Beschleunigung. Die Steigerungslogik wohnt dem Kapitalismus inne. Aber es gibt ein Weiteres: Die Moderne besteht auch aus Welt- und Reichweitenvergrösserung. Dadurch wurde der Kapitalismus erst durchsetzungsfähig. Die Eigenlogik der Wissenschaft funktioniert ähnlich. W-F-W, Wissen – Forschung –mehr Wissen: Auf Wissenschaft folgt Forschung und noch mehr Wissenschaft – ganz anders bei früheren oder indigenen Kulturen. Wissen schafft heute Wissenschaft, und zwar immer mehr. Letztere will ständig ihre Grenzen erweitern, noch weiter ins All vorstossen, noch tiefer in die Gene. Dieses Steigerungsprogramm wird auch durch kulturelle Konfigurationen angetrieben. Die Beschleunigung beschleunigt sich ein wenig doch von selbst: Wenn Menschen an Zeitknappheit leiden, rufen sie nach schnellerer Technologie.

Der westliche Protestantismus glaubt, Zeitverschwendung sei die schlimmste aller Sünden, «Zeit ist Geld».
Ja, Beschleunigung hat auch religiöse Wurzeln, die Max Weber beschrieb. Protestanten müssen immer rastlos tätig sein – Schweizer und Schwaben vornweg.

Seit 1989 erleben wir einen weiteren Beschleunigungsschub. Nach empirischen Studien nehmen sich Menschen seitdem noch weniger Zeit zum Schlafen und Essen.
Ja, das hat mehrere Ursachen: Der Fall der Mauer. Die Neoliberalisierung der Politik. Neue Märkte. Die Veränderung des Produktionsregimes, Stichwort Just-in-Time-Produktion. Die Digitalisierung.
Schon «Momo», die Romanfigur von Michael Ende, wusste: Je mehr Zeit wir sparen, desto weniger haben wir.
Ich habe nach dem Erscheinen von «Beschleunigung» mal öffentlich den Rat gegeben: Verschwenden Sie Ihre Zeit, beschäftigen Sie sich einen Tag mit einem Kind. Und erhielt böse Anrufe: Das ist doch keine Zeitverschwendung! So meinte ich das auch nicht. Mit einem Kind zu spielen, erzeugt das Gefühl von Zeitreichtum. Nach «Momo» hätte ich «Beschleunigung» eigentlich nicht mehr schreiben müssen.
Vieles, wofür wir im 12. Jahrhundert ein Jahr gebraucht hätten, können wir heute in wenigen Minuten erledigen. Damals musste man ein Buch komplett von Hand abschreiben, später konnte man es kopieren, heute in Sekunden herunterladen. Und dennoch wird Zeit immer knapper.

Warum?
Weil sich die Spätmoderne über Beschleunigung und dynamische Steigerung stabilisiert. Und die Steigerung materieller Güterangebote frisst unsere Zeit, weil wir immer mehr Entscheidungsdilemmata zu bewältigen haben.

Die Wahl zwischen 55 Marmeladesorten kostet viel mehr Zeit als die zwischen fünfen?
Entweder wir prüfen alle 55 sorgfältig – unglaublich zeitaufwändig. Oder wir nehmen die erstbeste – die schmeckt dann aber nicht. Oder wir verlassen uns auf den Rat anderer – den es oft nicht gibt. Am Ende gehen wir womöglich frustriert und ohne Marmelade nach Hause.

Menschen aus allen Kulturen verbringen pro Tag ungefähr die gleiche Zeit auf dem Weg zur Arbeit, ob zu Fuss oder mit dem Auto oder gar Flugzeug. Warum?
Der Verkehr macht das Problem überdeutlich: Je schneller die Fahrzeuge, desto weiter weg rutschen die Ziele. Die Reichweitenvergrösserung übertrifft tendenziell sogar noch die Beschleunigung, die linear verläuft. Ein anderes Beispiel ist die E-Mail: Man kann sie doppelt so schnell wie einen Brief schreiben. Weil ich aber dann mehr Mails schreibe, bin ich mit mehr Menschen in Kontakt, die alle zurückschreiben. Und weil ich für deren Mailflut auch mehr Denkzeit brauche, habe ich am Ende weniger Zeit.

Paul Virilio diagnostiziert einen «rasenden Stillstand»: Wir müssen rennen, um auf dem gleichen Platz zu bleiben, so wie wenn wir auf dem Laufband im Fitness-Studio auf der Stelle treten. Wie kann man vom Laufband runterkommen?
Das ist einer der Gründe, warum ich «Resonanz» geschrieben habe. Das Heruntersteigen ist nicht so einfach, wie viele Ratgeber behaupten. Es ist ja kein individuelles Problem, sondern ein kollektives. Die Gesellschaft selbst ist das Laufband oder Hamsterrad. Sogenannte «Coping»-Strategien, etwa Achtsamkeit, können helfen. Man kann sich auch einen Tag im Kalender für «nichts» reservieren. Und wenn dann jemand anruft, sagt man: Tut mir leid, heute habe ich «nichts» vor.

Machen Sie das manchmal?
Ja! Aber Musse kann man heute trotzdem kaum mehr erfahren. Auch «nichts» ist keine Musse. Es gibt dieses wunderschöne Wort «Feierabend»: der Zeitpunkt, an dem das Tagwerk vollbracht ist – das ist Musse. Die hat nichts mit der Menge der Arbeit zu tun. Früher haben Menschen mehr gearbeitet als heute.
Florian Opitz hat in seinem Film «Speed» ein höchst zufriedenes Schweizer Bauernpaar porträtiert. Er glaubte, dass ihr Geheimnis die selbstbestimmte Zeit sei. Aber ihre Kühe wollen gemolken werden, Urlaub am Meer können sie auch nie machen. Ihre Weltreichweite ist radikal beschränkt. Doch wenn sie abends in der Küche sitzen, ist das Tagwerk vollbracht. Musse bedeutet: Es gibt keine legitimen Erwartungen mehr an mich, nach dem Motto: «Eigentlich müsste ich jetzt …» Dieses Gefühl verfolgt uns ja, auch wenn im Kalender «nichts» steht.
Wir sollten also künstliche Musse-Oasen schaffen. In einer Berghütte ohne Strom und Internet gibt es wirklich nichts mehr zu tun, wenn die Sonne untergegangen ist. Früher galt eine solche Lebensweise als extrem rückständig, heute heisst es darüber: «Ich habe mir mal diesen unerhörten Luxus geleistet.»  Und kollektiv sollten wir den ständigen Wettbewerb abschaffen. Auch deutsche Grüne propagieren den, oder sie preisen das Wirtschaftswachstum als «Chance» und rufen gleichzeitig «Zeitwohlstandspolitik» aus. Ich rege mich darüber auf! Wir brauchen keinen Wettbewerb zwischen Universitäten, Schulen, Kindergärten – damit machen wir uns das Leben zur Hölle.

«Beschleunigung» endet mit dem Satz: «Heute aber besteht die Herausforderung darin, jene Gesetze zu überwinden, welche die Erfindung der Flugmaschinen ermöglichten.» «Resonanz» beginnt mit dem Satz: «Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung.» Kann man mit Resonanz die Beschleunigung überwinden?
Hm, an der Stelle krieg ich Ärger. Ich möchte damit ausdrücken: Es kann nicht länger um subjektive und institutionelle Reichweitenvergrösserung gehen, etwa in Wirtschaft und Wissenschaft. Sondern um eine andere Weise, in der Welt zu sein, um Resonanz. Menschen sind resonante Wesen. Ohne dialogische Resonanz mit den Eltern und der Welt können sich schon Babys nicht entwickeln.

Wie definieren Sie Resonanz?
und Welt stehen so miteinander in Kontakt, dass auf beiden Seiten ein transformierender Einfluss entsteht: Etwas berührt, bewegt, erschüttert und verändert mich. Das ist auch Selbstwirksamkeit: Ich erreiche das Andere oder die Anderen. Durch Resonanz werden wir in Schwingung versetzt. In der Moderne glaubt man: Das geht nur zwischen Menschen. Bruno Latour oder Philippe Descola aber weisen nach, dass das eine verkürzte Form der Weltbeziehung ist, die viele Indigene absonderlich finden. Schon Eichendorff reimte: «Schläft ein Lied in allen Dingen …» Das zeigt, dass wir auch mit den Dingen in Resonanz treten wollen.
Nehmen Sie zwei Klangkörper. Wenn eine Geige erklingt, reagiert das Klavier nicht als Echo, sondern in eigener Resonanz. Ein Körper muss also gleichzeitig hinreichend geschlossen und hinreichend offen sein, um eine eigene Stimme zu entwickeln. Wenn die Welt uns hart und starr entgegentritt, gibt es keine Resonanz.

Ihre Resonanztheorie spielt vor allem mit dem Akustischen: die eigene Stimme zum Klingen bringen, auf gleicher Wellenlänge schwingen. Sind Sie Musiker?
Ja, ich habe erst Klavier und dann Keyboard in einer Rockband gespielt. Und wenn ich in meinem badischen Heimatdorf bin, schliesse ich mich in der Kirche ein und spiele Orgel. Aber Resonanz ist nicht nur Einklang und Wohlklang, sondern auch Dissonanz und Widerspruch.

Das optische Pendant zu Resonanz könnte Ansehen sein. Ohne die Blicke der anderen geht jedes Baby ein. Viele Menschen wollen berühmt werden, um Blicke und Ansehen zu akkumulieren.
Ja, auch bei Facebook geht es um möglichst viele Freunde und «Likes». Ich gestehe, dass auch ich bei Amazon nachschaue, wie meine Bücher laufen. Das hat was Suchtförmiges, ist aber ohne jede Nachhaltigkeit. Wie Axel Honneth formuliert, geht es um «Kampf um Anerkennung». Resonanz aber ist prozessuale Verbundenheit, die wir in der Musik, Kunst, am Meer, auch im Gebet erfahren. Resonanz ist mein Versuch einer Antwort, wie nichtentfremdetes, gelingendes Leben aussehen könnte.

Resonanz kann aber auch entstehen, wenn wir kurz auf die Malediven fliegen und dort den Wellen lauschen …
Ja, weil wir verkoppelt sind mit dem Steigerungsregime. Aber wenn wir nur Orte akkumulieren, untergräbt das die Resonanz. Viele glauben ja: Ich baue mir ein tolles Haus, damit ich später, wenn ich endlich Zeit habe, gut lebe. Sie verschieben ihr gutes Leben auf die Rente und sind dann völlig ausgebrannt.
Die Moderne übersetzt unser Beziehungsbegehren in Objektbegehren: Werbung verspricht uns Resonanz, Deos heissen «Passion» oder «Experience». Weil Waren aber nicht halten, was sie versprechen, kaufen wir ständig neue. Und zerstören damit die Natur. Deshalb ist es so wichtig, als Alternative zu Beschleunigung und Entfremdung die gesellschaftlichen Resonanzverhältnisse zu verbessern.

Burnout ist die Krankheit des beziehungslosen Ich-Managers und des ausbrennenden Planeten. Wie können wir diese «Weltbeziehungsstörung» heilen? Charles Eisenstein sagt: «Geh dahin, wo du deine Musik hörst.»
Gefällt mir. «Resonanz» endet mit dem Satz: «Eine bessere Welt ist möglich, und sie lässt sich daran erkennen, dass ihr zentraler Massstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das Hören und Antworten.»

Sie kritisieren die Glücksforschung für ihre Fixierung auf Geld und Ressourcen. 
Ich kritisiere die Art der Umfragen. Wenn mich jemand fragt: «Wenn Sie auf Ihr Leben zurückschauen, sind Sie dann zufrieden?» Dann überlege ich: «Ich hab einen Job, ein Haus, eine Familie … also: Ja.» Das sagt aber nichts aus über meine Art der Weltbeziehung. Es geht nur um Ressourcen. So kommt man nicht aus der Steigerungslogik raus.

Die Glücksforschung bestätigt aber Ihre Resonanztheorie: Am glücklichsten machen gelingende Beziehungen: Liebe, Freundschaften, Nachbarschaften, intakte Natur. Sie schlagen im Buch halbernst einen «Leuchtende-Augen-Index» vor.
Lebensqualität kann man mit Fragen wie «Sind Sie zufrieden?» nicht messen. Deshalb sehe ich leuchtende Augen etwa von Kindern als Resonanzindikator, als Verbundensein mit der Welt. Allerdings gebe ich zu, dass man das nicht mit Augenblicken messen kann. Wir brauchen intensive Momente, aber auch stabile langanhaltende Resonanzachsen.

In der Schweiz wird bald über das bedingungslose Grundeinkommen abgestimmt. Warum ist das für Sie «ein Ausstieg aus der Beschleunigungs- und Entfremdungslogik»?
Das Beschleunigungsspiel ist eher angst- als giergetrieben: Wenn wir uns nicht ständig steigern, rutschen wir zurück und erleiden den sozialen Tod. Unsere Weltbeziehung würde sich mit dem bedingungslosen Grundeinkommen fundamental ändern, weil wir immer aufgefangen würden. Das ist die Pazifizierung unserer Existenz. Wir würden aber sicher nicht aufhören zu arbeiten, weil uns Tätigkeit als Resonanzbedürfnis eingeschrieben ist. Eine deutsche Gewerkschaft forderte neulich wieder: «Wir für mehr!» Ich finde, es müsste heissen: «Wir für genug!»    







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