Zementierte Ungleichheit

Unser Leben auf «westlichem Niveau» hat einen hohen Preis. Aber den zahlen andere, in der Regel die Menschen des Globalen Südens. Der Soziologe Stephan Lessenich hat die Mechanismen und Gesetzmässigkeiten dieser Wirtschafts­weise analysiert.

Regine Naeckel: Die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Probleme der Welt basieren Ihrer Ansicht nach auf einem Grundübel – Sie nennen es «Externalisierung». Wie funktioniert sie?


Stephan Lessenich: Externalisierung heisst – in der einfachsten Form gesagt – Auslagerung. Die Grundidee ist, dass die ökologischen und sozialen Kosten der hiesigen Produktions-, Arbeits- und Lebensweise in andere Weltregionen ausgelagert werden. Auch schmutzige, anstrengende oder gefährliche Arbeit wird nicht mehr hier geleistet, sondern von Menschen in anderen Weltregionen.
Nehmen Sie das Beispiel Kohleförderung, die findet in anderen Weltregionen statt. Dort arbeiten Menschen zumeist unter schlechten, gefährlichen Arbeitsbedingungen – weitgehend ohne Sozialschutz. In diesen Ländern fallen dann auch die ökologischen Schäden an, die mit der Rohstoffförderung immer einhergehen. Abwasser oder Abraum werden irgendwo ausgebracht, ohne entsprechende umweltrechtliche Standards. Sie können das auch für die Textilindustrie in Südostasien durchspielen oder für weite Bereiche der Agrarindustrie. Grosse Teile unserer Agrarproduktion sind ausgelagert, viele Rohstoffe, die hierzulande weiterverarbeitet werden, sind in Lateinamerika oder Afrika angebaut worden. All die ökologischen und sozialen Probleme, die damit zusammenhängen, fallen dadurch anderswo an und schlagen bestenfalls indirekt auf uns zurück.

Ist Externalisierung eine Folge der Globalisierung?

Im Grunde kann man sagen, dass Marktwirtschaften – kapitalistische Ökonomien – schon immer auch Auslagerungs-, also Externalisierungsökonomien waren. Rohstoffe für die industrielle Produktion wurden auch früher aus anderen Weltregionen herbeigeschafft. Schon immer haben kapitalistische Ökonomien die Kosten und die Folgeeffekte ihres Wirtschaftens ausgelagert. Die heutige Externalisierungsgesellschaft hat eine lange historische Vorgeschichte, man kann die gesamte Kolonialgeschichte, auch das imperialistische Zeitalter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazurechnen. Auch damals fand, zum Teil unter Anwendung physischer Gewalt, die Ausbeutung von Menschen und Territorien statt – zum Nutzen der sich industrialisierenden Gesellschaften. Eigentlich ist das, was wir heute erleben, eine Weiterführung dieser kolonialen Verhältnisse, was es allerdings auch so schwer macht, sie zu ändern. Heute findet das in der Regel – nicht immer, aber meistens – ohne direkte physische Gewaltanwendung statt. Es ist «rechtlich eingerichtet» worden, was es noch wirksamer macht. Das Welthandelsregime, die WTO, verrechtlicht heute die Beziehungen zwischen Ökonomien auf dem Globus. Damit haben sich die westlichen Industriegesellschaften ihre machtvolle Position gesichert.

Sie sagen, Superreiche seien nicht das ausschliessliche Problem. Wir alle sind das Problem.

Selbstverständlich sind die Superreichen nur Ausdruck dessen, dass die Weltwirtschaft in einer bestimmten Weise eingerichtet ist. Es reicht nicht, auf die Superreichen oder auf die Eliten zu verweisen. Wesentliches Funktionsprinzip der Externalisierungsgesellschaften – auch im Sinne ihrer Veränderung in Zukunft – ist die alltägliche Mitwirkung der Durchschnittsbürger in den reichen, hochentwickelten Gesellschaften. Zum Teil bewusst, zum Teil unbewusst, nicht immer aus freien Stücken oder weil jemand Länder oder Gesellschaften anderswo schädigen möchte. Indem wir in die normalen Formen des industriellen Wirtschaftens hierzulande einbezogen sind, eingespannt sind in die hiesigen gesellschaftlichen Verhältnisse und Konsumweisen, wirken auch alle Bürger – manche mehr, manche weniger – an der Reproduktion dieses Zusammenhanges mit. Externalisierungsgesellschaft funktioniert nur über die Personen, die sie alltäglich auch am Leben erhalten und das sind in mehr oder weniger grossem Masse alle Bewohner der hochentwickelten Gesellschaften.

«Nachhaltigkeit» ist das Zauberwort, wenn es um eine bessere und gerechtere Welt geht. Aber auch da haben Sie Ihre Zweifel.

Wenn die Einsicht besteht, dass diese Verhältnisse geändert werden müssen, kommt die Nachhaltigkeit ins Spiel und die wird erst mal ökologisch gerahmt, doch damit ist die soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit noch nicht gewährleistet. Man wird sich zwar bewusst, dass wir ständig mehr natürliche Ressourcen verbrauchen, als reproduziert werden können. Da das nicht auf ewig so weitergehen kann und vielleicht schon in relativ kurzer Zeit wieder auf uns zurückschlagen wird, gibt es Ansätze wie «grünes Wachstum», «intelligent wachsen» oder «Green Economy». Da werden dann aber wiederum häufig die klassischen Marktmechanismen eingesetzt. Bestes Beispiel sind die Verschmutzungsrechte: Man bepreist die CO2-Belastung der Umwelt und die Verursacher bekommen bestimmte Verschmutzungsrechte zugesprochen. Wenn sie mehr verschmutzen wollen, müssen sie Rechte von anderen kaufen. Das führt aber nicht zu weniger Verschmutzung insgesamt, sondern zu stärkeren Asymmetrien. Diejenigen, die es sich leisten können, mehr Verschmutzungsrechte zu kaufen, sind in der Regel Unternehmen oder Staaten im Globalen Norden. Das wiederum versetzt sie in die Lage, Lebensstil und Produktionsweise aufrechtzuerhalten. Ganz im Gegensatz zu jenen, die Verschmutzungsrechte abtreten müssen. Für sie sind entsprechende Entwicklungsprozesse durch geringere Verschmutzungsrechte erschwert oder unmöglich. Die Marktinstrumente, die im Sinne vermeintlicher ökologischer Nachhaltigkeit eingeführt wurden oder im Gespräch sind, führen weniger zu ökologischer Nachhaltigkeit als vielmehr zu einer weiteren Zementierung der Ungleichheitsverhältnisse.

Irgendwann müssen wir aber die Konsequenzen tragen.

Wenn die Folgen dieser Externalisierung in irgendeiner Weise auf die eigenen Gesellschaften zurückschlagen, sind nicht Einsicht und Umkehr an der Tagesordnung, sondern der Versuch, die Verhältnisse irgendwie zu stabilisieren. Migration nach Europa ist das beste Beispiel. Wir schotten uns gegen diejenigen ab, die hier Zuflucht suchen – entweder vor Kriegen, an denen die westliche Welt auch ihren gerüttelten Anteil hat, oder wegen der Zerstörung von Lebensmöglichkeiten und Lebenschancen in anderen Weltregionen. Die eigenen Grenzen müssen geschlossen werden und diese Flüchtlinge anderswo in Lagern zusammengepfercht oder zurückgeschickt werden – möglichst ausserhalb unseres Blickfeldes. Das ist prototypisch für die Umgangsweise breiter Bevölkerungsmehrheiten mit der Externalisierungsgesellschaft und ihren Folgen. Wir können es uns leisten, die Folgen unseres alltäglichen Handelns auszublenden, wir werden nicht direkt damit konfrontiert.
Das wiederum ist eine Machtressource. Wer wie gewohnt weitermachen kann, obwohl er eigentlich um die Folgen weiss, der ist in einer machtvollen Position. So gesehen sind nicht nur die Herrschenden oder die politischen Eliten diejenigen, die diesen ganzen Zusammenhang mitverantworten, sondern im Grunde genommen auch grosse Teile der Bevölkerung.

Nun können wir nicht per Akklamation das Ende des Kapitalismus beschliessen. Welche Auswege aus dem Dilemma schlagen Sie vor?

Es wäre schon einmal viel wert, wenn man intellektuell übereinkäme, dass wir diese kapitalistische Form des Produzierens und Konsumierens nicht einfach endlos in die Zukunft fortschreiben können, wenn es ein Einvernehmen darüber gäbe, dass sich etwas grundlegend ändern müsste. Ein Problem der Abkehr von diesen Wirtschafts- und Kon­sumweisen ist natürlich, dass die Bürgerinnen und Bürger der hochentwickelten Gesellschaften tief in diesen Zusammenhang verstrickt sind. Grosse Teile der Bessergestellten in den europäischen oder nordamerikanischen Gesellschaften sind Profiteure dieser Form globaler Wirtschaft. Es ist offensichtlich, dass sich unsere Alltagslebensweise radikal ändern müsste, wenn wir tatsächlich an die Strukturen gehen wollten.
Individuell sind die Möglichkeiten beschränkt. Man kann versuchen, ethischen und reduzierten Konsum zu betreiben. Aber letztlich geht es um politische Fragen, die auch kollektiv entschieden werden müssen. Das politische Engagement der Leute ist gefordert. Wenn man angesichts der Situation empört, alarmiert oder zumindest sensibilisiert ist, dann müsste man auch den nächsten Schritt tun und sich in irgendeiner Weise politisch betätigen, um dazu beizutragen, die Sachen in eine andere Richtung zu bewegen.


Prof. Dr. Stephan Lessenich ist Vorsitzender der «Deutschen Gesellschaft für Soziologie» und bekleidet den Lehrstuhl für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.


Sein aktuelles Buch «Neben uns die Sintflut: Die Externalisierungs-
gesellschaft und ihr Preis» ist bei Hanser Berlin erschienen.
CHF 29.90, EUR 20,00


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