Zurück zur Natur in Neggio

Wie ein früher Aussteiger meine Sehnsüchte schürte. Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #25

Hermanus van der Meijden – ein Hippie vor seiner Zeit – zog sich mit seiner Familie in die Tessiner Wälder zurück (Screenshot)

Diesmal – im Oktober 1970 – war es nicht bloss eine Meldung, sondern ein Porträt, das uns der Deutschlehrer als Aufsatzinspiration vorlegte. Porträtiert in der NZZ wurde der holländische Kunstmaler Hermanus van der Meijden, der bereits 1953 zusammen mit seiner Frau den Weg zurück zur Natur beschritt. Das holländische Paar entschied sich für ein Leben ohne Elektrizität, ohne Telefon, ohne Wasseranschluss und fast ohne Geld. Seit vielen Jahren wohnten sie nun eine ganze Stunde zu Fuss vom Tessiner Dorf Neggio entfernt, in einem ehemaligen Rustico mitten im Wald, das der Kunstmaler nach und nach wiederaufgebaut hatte.

Die beiden Kinder des Paares waren zu Jugendlichen herangewachsen und besuchten das Gymnasium in Lugano. Doch ihr Schulweg war lang und beschwerlich, und zu Hause im Wald hatten sie wenig Ablenkung. Es war ein karges Leben, das der Künstler mit seiner Familie gewählt hatte. Der umgebaute Stall bestand aus einem Wohnraum mit Holzofen und einem Schlafraum, zu dem eine Leiter führte. Mehr Komfort besassen sie nicht.

Sie ernährten sich hauptsächlich von Mais, Brot, Milch, Käse, Waldbeeren, wilden Kirschen und Kastanien im Herbst. Freunde schenkten ihnen ausgetragene Kleider. Der Maler hatte sich immerhin ein Atelier unten im Dorf gemietet, wo er arbeitete. Hin und wieder verkaufte er einige seiner Bilder, doch mehr als einige tausend Franken verdiente er nicht pro Jahr.

Eine Existenzgrundlage für eine Familie war das schon damals nicht, und als Schüler eines Wirtschaftsgymnasiums hätte mich soviel materielle Not beschäftigen müssen. Doch auf mich hatte das Porträt eine andere Wirkung. Anstelle des verlangten Aufsatzes schrieb ich zwei Briefe an meine Eltern. Einleitend erwähnte ich, dass ich diese Briefe als Dreissigjähriger schreiben würde. Ich malte mir darin aus, wie ich mir mein Leben mit 30 vorstellte.

«Liebe Eltern», begann ich den ersten Brief, «was soll ich mehr verlangen als dies: Nun lebe ich hier in Irland, zusammen mit meiner Frau, fern von eurer Zivilisation. Auf der grünen Insel, in der Nähe des weiten Atlantiks, fühle ich mich geborgener als in der Schweiz, in Zürich und unter Landsleuten.

Aber in einer plötzlichen Eingebung liess ich die Koffer fallen, die ich mitgeschleppt hatte, rannte am Haus vorbei den Hügel hinauf.

Unser kleines Haus steht in einer windgeschützten Mulde, eine halbe Meile entfernt vom nächsten Bauernhof. Das nächste kleine Dorf liegt noch weiter weg. Als wir das Haus an Hecken, weidenden Schafen und windzerzausten Bäumen vorbei endlich erreichten, wollte ich als erstes die Haustür öffnen und die ehemalige Schafhirtenhütte betreten. Aber in einer plötzlichen Eingebung liess ich die Koffer fallen, die ich mitgeschleppt hatte, rannte am Haus vorbei den Hügel hinauf, erreichte seine Kuppe und sah hinab: Unter mir lag die Meeresbucht, tief ins Land hinein verlaufend, von kargen, bis zum Wasser reichenden Wiesen umgeben, dazwischen Fels, der gegen das Meer hin immer zerklüfteter wurde.

Und der Atlantik selbst: Unermesslich und unfassbar weit. Ruhelos gegen den Strand rollende Wellen, Steine, grober Sand, Treibgut, das Schreien der Seevögel: Unverkennbare raue Atlantikküste. Liebe Eltern, was ist das für eine Welt, die trotz allem noch eine so ursprüngliche Schönheit offenbart! Glaubt mir, kein Reiseprospekt kann schildern, was ich fühle, seitdem ich hier bin.

Würde ich diese Landschaft wieder verlassen müssen, verliesse ich das Leben. Deshalb werde ich aus Irland erst fortgehen, wenn auch dieses Land ein Opfer der modernen Zivilisation wird.»

Als ich diesen Brief schrieb, kannte ich die grüne Insel noch gar nicht. Ich wusste nur, dass sie landschaftlich Schottland glich. Trotzdem lockte mich dieses Irland wie kein anderes Land. Ein spezielles Bedürfnis nach Städten und Citylife hatte ich nicht. Eigentlich seltsam für einen Sechzehnjährigen, der doch ins pralle Leben eintauchen möchte. Aber ich brauchte schon damals eine Umgebung, die mich in Ruhe liess. Denn ich wollte meine Gedanken ordnen – und vor allem wollte ich schreiben. Deshalb zog es mich in die Harmonie der Natur, ich suchte die Kraft ihrer Ursprünglichkeit. Und eine Insel – nach allen Seiten begrenzt, überschaubar – entsprach mir mehr als das Festland.

Meine Bedürfnisse sind noch heute dieselben. Ich lebe auf dem Land, am Busen der Natur, und auch die Schweiz ist für mich eine Insel inmitten des europäischen Festlands. Offenbar erweist es sich im späteren Leben, dass die Vorstellungen, die man im zarten Teenageralter hegte, immer noch ihre Gültigkeit haben. Mit der Empfindsamkeit des Jugendlichen spürte ich bereits, was mir wichtig war.

Im zweiten Brief antwortete ich meinen Eltern auf ihre besorgte Frage: Wie könnt ihr denn leben, so abgelegen und mittellos?

«Liebe Eltern, ich glaube nicht, dass es uns schwer fallen wird, auf schweizerischen Komfort zu verzichten. Ausserdem haben wir eine Art Vorbild, das uns bestimmt noch manches Mal anspornen wird: Mit 16 habe ich aus der Zeitung einen Artikel ausgeschnitten und bis heute aufbewahrt. Darin wird von einem holländischen Künstler berichtet, der sich lange vor den Hippies mit seiner Frau in ein abgeschiedenes Tal im Tessin zurückzog und dort unter einfachsten Lebensbedingungen eine Existenz aufbaute. Der Bericht gab mir die Gewissheit, dass eine solche Lebensform möglich ist.

Ganz so abgeschnitten und auf uns selber gestellt leben wir hier aber nicht. Denn wollen wir ein Einsiedlerdasein führen? Wir brauchen andere Menschen, und wir finden sie bei den einfachen Iren in der Umgebung. Wir verfügen auch über elektrisches Licht, im Dorf vorne untergebracht ist unser Jeep, und wir haben vier Schafe.»

So radikal wie die Holländer war ich nicht – ich gab es gleich selber zu. Besonders der im Dorf vorn parkierte Jeep lässt darauf schliessen, dass ich jederzeit die Möglichkeit zu einem Abstecher in die Zivilisation haben wollte. Amüsant aus heutiger Sicht finde ich die vier Schafe. Sie deuten wohl an, dass wir uns selber mit Milch und eigenem Käse versorgen wollten. Theoretisch hätte mir das bestimmt zugesagt. Aber die Zeit, die ich für die Schafe hätte aufwenden müssen, hätte mir dann zum Schreiben gefehlt. Daran wäre die Selbstversorgung sehr bald gescheitert.

«Ich könnte nicht mehr unter euch arbeiten», erklärte ich meinen Abschied aus der Komfortzone. «In der Einsamkeit des Tessiner Waldes fand der holländische Künstler die Ruhe für seine Tätigkeit. Hier in Irland kann ich in Ruhe schreiben, lesen, Musik hören, ungestört mit den Kindern spielen und mit meiner Frau sprechen.»

Es ist das Vorrecht der Jugend, die Dinge in einem verklärenden Licht zu sehen. Das galt auch für meine Vorstellung, die ich vom Beruf des Schriftstellers hatte. Entweder ging ich damals in meiner Selbstüberschätzung keck davon aus, dass mein Erfolg mir ermöglichen würde, ohne ökonomische Sorgen «in Ruhe schreiben» zu können – oder aber ich überlegte mir gar nicht, woher das Geld kommen würde. Allein schon der Ausbau der Hütte und die Anschaffung eines Jeeps hätten unser Sparschwein geleert.

Ich machte mir auch keine Gedanken darüber, ob ein junger Autor neben der klösterlichen Ruhe zum Schreiben nicht doch gelegentlich etwas Abwechslung brauchte. Ich sah das nicht als Problem. Wurde es mir zu einsam, konnte ich jederzeit «mit meiner Frau sprechen».

Diesbezüglich muss ich mich aber in Schutz nehmen. Ich hatte zwar noch nicht einmal eine Freundin, doch meine Unerfahrenheit war nicht schuld daran, dass «meine Frau» in meinem Brief nur in Nebensätzen erschien. Schuld daran war der Geist jener Zeit, der Frauen und insbesondere Ehefrauen nur als Statistinnen wahrnahm. Auch die Reportage über den Maler aus Holland erwähnte zwar die Gattin an seiner Seite, fragte aber mit keinem Wort nach ihrem Befinden. Im Unterschied zu ihm, Hermanus, hatte sie nicht einmal einen Namen. Abenteuerlustig und jung war sie dem Künstler in sein Aussteigerleben gefolgt – doch ob sie die Einsamkeit und die Armut in den späteren Jahren als Mutter noch immer so toll fand, bezweifle ich.

Aufgewachsen im Patriarchat, das 1970 noch völlig unangefochten war, dachte auch ich nicht darüber nach, ob «meine Frau» damit glücklich geworden wäre, mir zuzusehen, wie die Muse mich küsste. In der Enge der Schäferhütte wären wir uns jedenfalls bald auf die Nerven gegangen. Dann hätten uns auch die «einfachen Iren» vom nächsten Dorf nichts genützt. Die fehlenden Impulse von aussen hätten sie nicht ersetzen können. Unsere Ehe wäre an der rauen Atlantikküste kläglich zerschellt.

Aber ich träumte weiter und plante auch schon, dass unsere Kinder dereinst denselben Weg gehen könnten wie die Kinder des Malers. Wir würden sie in der «nächsten irischen Stadt» in die höhere Schule schicken. Meinen Eltern versprach ich, im Winter für einige Wochen nach Hause zu kommen. «Bis dahin», beendete ich meinen Brief, «denkt an all die jungen Leute, die bereits vor uns der Zivilisation den Rücken kehrten. Viele von ihnen sind glücklich.»

Viele – aber möglicherweise nicht alle. Ich war immerhin realistisch genug, mir einzugestehen, der Weg zurück zur Natur könnte auch unglücklich machen. Doch meine wachsende Sehnsucht nach dem wahren Leben, das ich in der Schweiz so schmerzlich vermisste, war stärker. Ich glaubte an meine Zukunftsvision mit der Begeisterung eines jungen Menschen, der von Zukunft nichts wissen will, weil er ganz im Rausch des Moments lebt.

Unser Deutschlehrer benotete meine Arbeit mit einer 5-6. Darunter schrieb er: «Sie schwärmen! Lesen Sie Goethe’s Werther!»

Seiner Empfehlung folgte ich nicht. Denn ich wollte nicht lesen müssen, dass Schwärmerei in den Tod führen kann. Ich will es noch heute nicht lesen.

 

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