«Infernalisch - und himmlisch zugleich»

Dezember 1972. Wie «Pink Floyd» das Wunder der Quadrophonie ins Hallenstadion brachten – und wie sich Sillo von uns verraten fühlte. Serie «ALS ICH MICH IN DIE WELT VERLIEBTE – Chronik einer Leidenschaft» von Nicolas Lindt #55

Ein erster weiblicher Pink Floyd-Fan macht es sich vor der Bühne gemütlich. / © Roland Stucky, 9.12.1972

Zwei Wochen vor Heiligabend 1972 wartete auf die Rockmusikfans ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk der besonderen Art. Im Rahmen ihrer Europatournee kam eine britische Band nach Zürich, die – ähnlich wie Led Zeppelin – zu den ganz Grossen aufgerückt war: Pink Floyd. Und ganz gross war offenbar auch ihre Bühnenshow.

Nicht zum ersten Mal beehrte die Band unser Land mit ihrem Besuch. Schon vier Jahre vorher hatte sie hier Konzerte gegeben, damals noch in kleineren Lokalitäten: im Zürcher Club «Hazyland», im sanktgallischen Abtwil und im Restaurant «Hammer» in Olten, wo die Musiker von Pink Floyd sogar ohne Instrumente eintrafen, sodass sie sich die fehlenden Gitarren von der lokalen Vorgruppe ausleihen mussten. Das hatten sie jetzt nicht mehr nötig. Und der einzige Auftrittsort, der in Zürich für sie in Frage kam, war das Hallenstadion.

Seit den Monsterkonzerten mit Jimi Hendrix vier Jahre zuvor war dort keine Rockband mehr willkommen gewesen. Die Direktion befürchtete Ausschreitungen wie seinerzeit nach dem Stones-Konzert. Doch aus der Popmusik war ein Business geworden, und die Aussicht auf gute Geschäfte liess auch die Hallenstadion AG ihre Meinung ändern. Schon bald sollte das Oerliker Stadion zum Mekka grosser Konzerte werden. Das Gastspiel von Pink Floyd machte den Anfang, und ich konnte den Tages-Anzeiger davon überzeugen, die zu erwartende Supershow nicht mit einer blossen Konzertkritik abzuhaken, sondern ihr eine Reportage zu widmen. Begleitet von einem Fotografen begab ich mich am späteren Vormittag zum Ort des Geschehens, um auch die Vorbereitungen für das Konzert verfolgen zu können.

«Vor dem Eingang zum Stadion steht schon der Propagandawagen einer Zigarettenfirma, der die allmählich eintreffenden Neugierigen über aufgesetzte Lautsprecher mit ‹progressiver› Musik berieselt. Sie soll das Warten in der Kälte erleichtern, ganz nebenbei auf die Zigarettenmarke aufmerksam machen und vor allem Vorfreude wecken. Schon in wenigen Stunden wird Zürichs imposanteste Sport- und Showhalle von Begeisterungsstürmen erfüllt sein, die der Musik einer vierköpfigen britischen Top-Gruppe gelten: Pink Fioyd, eine der ersten britischen Underground-Bands, inzwischen zur Noblesse der Rock-Szene avanciert. Sie tut sich sogar mit ganzen Symphonieorchestern zusammen und vermag die Konzerthallen nicht nur mit Publikum, sondern vor allem mit eindrücklichen, zukunftsweisenden Klangbildern zu füllen.»

Obwohl ich als abgeklärter Berichterstatter, für den ich mich hielt, mit Superlativen zurückhaltend umging, waren sie hier zweifellos angebracht. Der Band ging ein inzwischen phänomenaler Ruf voraus. Nicht nur das Klangerlebnis musste fantastisch sein, auch der Materialaufwand war gigantisch. Aber ich suchte auch gleich wieder die Menschen hinter den Stars: «Noch schlafen die Musiker in ihren Hotelbetten. Sie sind wohl ziemlich erschöpft von ihrer mehrwöchigen Europatournee, die sie nach ihrem Auftritt in Zürich morgen bereits in die nächste Stadt führt.»

Andere Zeitungsberichterstatter hätten es vielleicht nicht als wichtig erachtet, die Erschöpfung der Musiker zu erwähnen. Mich aber beschäftigten solche unjournalistischen Details schon damals. Ich stellte mir bildhaft vor, wie die Musiker in den Tag hinein schliefen, und ich gönnte ihnen den Schlaf.

«Längst wach und an der Arbeit sind hingegen die Roadies der Band. Gegen Mittag treffen die sehnlichst erwarteten Trucks endlich ein, und die Roadies, mit der Routine und dem Tempo von Zirkusarbeitern, gehen ans Werk. Links und rechts des Bühnenpodests werden die Lautsprechertürme errichtet, ergänzt um zwei weitere Riesenboxen auf beiden Seiten in der Mitte der Halle und einer vierten Tonquelle auf der entgegengesetzten Seite des Stadions. Diese Aufstellung ermöglicht den 360-Grad-Sound nach dem Prinzip der Quadrophonie, was als Verdoppelung des Stereosystems zu verstehen ist. Damit kann ein besonders räumlicher Klang erreicht werden, der den Zuhörer völlig umfängt und umkreist.»

Als technisch Unwissender staune ich, wie verständlich ich die Erfindung der Quadrophonie den Lesern erklären konnte. Wahrscheinlich diktierte sie mir ein Tontechniker direkt ins Notizbuch. Aber soviel begriff auch ich, dass die von Pink Floyd angewandte Technik eine revolutionäre Neuerung war, deren tonale Wucht sich schon bei den Proben entfaltete: «Ein schriller, stetiger Pfeifton, gefolgt von einem gespenstischen Aufheulen, stellt den perfekten Klang in der Halle zum ersten Mal unter Beweis. Der darauffolgende Soundcheck gibt einen Vorgeschmack auf das, was in wenigen Stunden folgen wird. Alle bereits Anwesenden halten beeindruckt den Atem an. In einer Konzerthalle hat man so etwas noch nie gehört. Ist das die Rockmusik der Zukunft?»

«Doch bereits tönt es jetzt aus dem Lautsprecher: ‹Alle Ordnungskräfte an ihre Plätze, in fünf Minuten ist Öffnung der Halle!› Die ungeliebten Hells Angels postieren sich an den acht schmalen Eingängen, und die ersten der 12’000 Zuschauer stürmen den weiten Platz vor der Bühnenabschrankung. Rasch beginnt sich die Halle zu füllen, der Würstchenverkauf läuft schon auf Hochtouren, und der Speaker weist präventiv darauf hin, dass für Drogennotfälle ein Notfallteam anwesend sei.»

Das anschliessende mehrstündige Warten auf den Konzertbeginn wollte kein Ende nehmen. Doch die Geduld der Zuschauer wurde belohnt: «Plötzlich geht ein Licht nach dem andern aus, bis die rauchige Halle in Dunkelheit getaucht ist. Dumpfer, stampfender Rhythmus erfüllt den Raum. Vorn auf der Bühne kreist ein rötlicher Spot, blendet und fasziniert zugleich in seiner unheimlichen Stetigkeit. Die vier Musiker nehmen ihre Plätze auf der Bühne ein, und für Momente wird das stetig wachsende Stampfen durch einen ersten Begeisterungssturm übertroffen.»

«Dann setzt eine unglaublich kraftvolle, alles durchdringende Musik ein, die den Raum total erfüllt: Der symphonische Sound von Pink Floyd kommt ins Rollen und strebt seinem ersten Höhepunkt zu. Einem Orgasmus gleich explodiert die Musik, Flashbomben blenden das Publikum, Rauchsäulen fahren zur Decke: Infernalisch – und himmlisch zugleich.»

Wenn ich meinen Konzertbericht heute, 50 Jahre danach, wieder lese, denke ich mit Verwunderung: Ist wirklich ein halbes Jahrhundert vergangen seither? So anders als das Pink Floyd-Konzert von damals sind die Megarockshows von heute nicht. Sie hinterlassen ein ähnliches Staunen und dieselbe Begeisterung. Geändert haben sich nur die technischen Möglichkeiten. Schon damals jedoch löste das Konzert in mir aus, was ich heute erst recht so empfinden würde: Dass hinter der Faszination einer solchen Show nicht menschliche Schöpfungskraft steht – sondern der Triumph der Technik.

«Während die Band», so beschloss ich meinen Bericht, «ein weiteres Stück in Angriff nimmt, versuche ich der Musik für einen Moment zu entrinnen. Ich ziehe mich in den hintersten Winkel des Stadions zurück, und ich denke, vielleicht im unpassenden Augenblick, daran, dass es auch unverstärkte, natürliche Musik gibt – und dass auch jene Musiker eine Existenzberechtigung haben, die nicht von hochentwickelter Technik abhängig sind.»

***

Einer hatte gefehlt auf der Bühne des Hallenstadions an jenem Abend. Er fehlte schon lange. Syd Barrett, Sänger und Gitarrist, war ein Mitbegründer der Band gewesen – vielleicht sogar die treibende Kraft von Pink Floyd. Fast alle Stücke des ersten Albums stammen von ihm. Doch der Erfolg und die Drogen verwirrten ihn, löcherten seinen Geist, und zuletzt stand er bloss noch untätig auf der Bühne herum. David Gilmour, sein früherer Schulfreund ersetzte ihn. Er tat es mit schlechtem Gewissen, doch Barrett wollte von der Musik und vom Ruhm nichts mehr wissen. Der begnadete, psychotisch gewordene Musiker veröffentlichte noch einige letzte Songs - dann zog er sich zurück in das Haus seiner Mutter, wo er nach ihrem Tod allein und menschenscheu dahinvegetierte.

Einmal noch spazierte er überraschend ins Studio hinein, wo seine frühere Band gerade am Aufnehmen war. Sie erkannten ihn nicht sofort, so verändert hatte er sich. Aber sie widmeten ihm ein paar Jahre später ihr Lied «Wish you were here», weil sie um seinen Weggang immer noch trauerten.

Sillo in der Auffangstation sah aus wie Syd Barrett. Das wird mir erst jetzt bewusst, wo ich im Tagebuch über ihn lese. Eines Abends erschien er, und von da an blieb er, psychotisch auch er, die Haare zerzaust, unberechenbar, ruhelos, verfolgt von den Horror-Trips, in die ihn das LSD trieb. Er belastete unsere Arbeit, manche hatten auch Angst vor ihm, und er wollte sich nicht therapieren, nicht helfen lassen, er kam mir vor wie ein scheues, gefährliches Tier.

Wenige Tage nach dem Pink Floyd Konzert, kurz vor Weihnachten entschieden wir im Team der Auffangstation, dass wir handeln mussten. Sillo war nicht länger tragbar. «Aufgrund der ganzen Situation», schrieb ich im Tagebuch, «kommen wir zum rationalen Schluss, ihn hinauszuwerfen, falls er weiterhin nicht bereit ist, sich im Burghölzli, der Psychiatrischen Klinik, behandeln zu lassen. Doch Sillo akzeptierte weder das eine noch das andere. Er wollte weder zurück auf die Strasse noch freiwillig ins Burghölzli.»

«Damit entwickelte sich das Ganze zum Notfall, der zur gewaltsamen Einweisung in die Klinik berechtigt. Eine Lösung war das nicht – nur der letzte und einzige Ausweg. Um die Einweisung in die Wege zu leiten, mussten wir einen Arzt aufbieten. Ein älteres, total intellektualisiertes Männlein erschien, das seine Mitmenschen nicht als Menschen, sondern als Fälle betrachtete. Sillo, der eigentlich Silvio hiess, merkte sofort, weshalb der Psychiater gekommen war. Als der Arzt bereits die Sanität benachrichtigt hatte, tauchte Sillo im Büro auf und beschimpfte uns, ihn ohne sein Wissen und mit Gewalt in der Klinik versorgen zu wollen. Augenblicke später stand im Aufenthaltsraum das Fenster offen. Sillo war geflüchtet. So schnell wird er nicht wieder auftauchen.» Auch diesmal jedoch ging es mir im Tagebuch nicht bloss darum, das Geschehene zu erzählen, sondern darüber nachzudenken. Denn mit einer solchen Situation war ich das erste Mal konfrontiert.

«Realistisch gesehen», überlegte ich mir, «war es das Beste, was wir tun konnten. Durch das Erscheinen des Arztes und Sillos Flucht sind wir ihn losgeworden. Doch eigentlich ist seine Lage jetzt noch viel dreckiger. Zu uns zurück kann er nicht, weil er die Zwangseinweisung befürchten muss, draussen übernachten kann er um diese Jahreszeit auch nicht, und offenbar gibt es niemanden ausser uns, der ihn aufnehmen würde.»

«Wir fragen uns, ob wir das Thema Verantwortung nicht zu sehr verdrängten. Haben wir nicht allzu schnell eine rationale Entscheidung getroffen? Der Verstand kann unmenschlich sein. Wir dürfen nicht abgebrüht werden und nicht gefühlskalt, sonst wird unser Engagement bürokratisch.» Also doch keine Zwangseinweisung? Also hätten wir tolerieren müssen, dass Sillo bleibt? Dass er uns weiterhin die Arbeit erschwert? - Ich lernte, dass es in einer solchen Situation keine einfachen Antworten gibt. Und doch spürte ich schon, was später für mich zur Gewissheit wurde: «Entscheidend ist, was wir empfinden. Gefühlsmäßige Einwände dürfen wir deshalb nie unterdrücken. Wann immer möglich, müssen wir ihnen den Vorrang geben.»

***

Syd Barrett ist 2006, vereinsamt und knapp 60-jährig, gestorben. Was wohl aus Sillo geworden ist? Ich wünsche ihm, dass er nach seiner panischen Flucht mitten im Winter eine Bleibe gefunden hat. Vielleicht sogar ein Zuhause.

Fortsetzung folgt am Sonntag 20. August

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Soeben erschienen: «Heiraten im Namen der Liebe» - Hochzeit, freie Trauung und Taufe: 121 Fragen und Antworten - Ein Ratgeber und ein Buch über die Liebe - 412 Seiten, gebunden - Erhältlich in jeder Buchhandlung auf Bestellung oder online bei Ex LibrisOrell Füssli oder auch Amazon - Informationen zum Buch

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