Iran: Frau, Leben, Freiheit!

Heute, am 8. Oktober, findet im Iran ein landesweiter Aktionstag statt. «Ich fürchte um die Sicherheit meines Volkes. Aber ich bleibe hoffnungsvoll, dass sie das islamische Regime hinwegfegen und die Träume von Generationen von Iranern, die vor ihnen kamen, verwirklichen werden,» schreibt Nasrin Parvaz, Frauenrechtsaktivistin und Überlebende der Folter im Iran im Guardian.

CC: Solidaritätsproteste für Mahsa Amini in Ottawa

«Frau, Leben, Freiheit»: Diese Worte aus der kurdischen Freiheitsbewegung wurden der Schlachtruf der Protests, die nach dem Mord an der 22-jährigen Mahsa Amini durch die gefürchtete iranische Sittenpolizei ausbrachen. Sie erschüttern das iranische Regime in seinen Grundfesten. Zwar gab es in den letzten Jahren immer wieder erschütternde und auch hoffnungsmachende Proteste. Doch immer wieder wurden sie brutal niedergeworfen und erstickt. «Diesmal ist es anders», glauben Analysten wie Ali Ashtari, Exil-Iraner aus Toronto: «Diesmal steht das Herz von Teheran in Flammen. Gleichzeitig gibt es grosse Demonstrationen in anderen städtischen und ländlichen Gebieten Irans. Diesmal handelt es sich tatsächlich um einen nationalen Aufstand.» 

Weiter sagt Ashtari: «Die Sympathisanten des Regimes im Westen, die wollen, dass die Islamische Republik an der Macht bleibt, sprechen ihren Wunsch nicht wirklich aus. Stattdessen erklären sie, das Überleben des Regimes stehe nicht in Frage. Sie begründen das damit, dass frühere Unruhen gewaltsam niedergeschlagen wurden. Damit suggerieren sie, dass wir uns damit abfinden müssen. Doch dieser Aufstand ist anders.»

Nasrin Parvaz kommt aus ihrer ganz persönlichen Erfahrung zur gleichen Schlussfolgerung: «Die Proteste sind das Ergebnis eines generationenlangen Traumas. Anders als frühere Bewegungen ist dieser Aufstand generations- und schichtenübergreifend. Für junge iranische Frauen hat Aminis Tod eine Explosion aufgestauter Wut über die Unterdrückung der Frauenrechte durch das Regime ausgelöst. Für ältere Aktivistinnen wie mich hat er die Narben früherer Aufstände wieder aufgerissen und dem jahrzehntelangen Kampf um Freiheit neues Leben eingehaucht.»

Es handelt sich nicht nur um einen Wutausbruch einer jungen und idealistischen Generation, sondern um das angesammelte Trauma von Generationen von Iranern, die für die Freiheit kämpfen.

In Teheran begannen die Demonstrationen am 16. September, kurz nachdem die Nachricht von Aminis Ermordung bekannt wurde. Innerhalb weniger Stunden gingen unzählige Frauen auf die Strasse, verbrannten ihre Hijabs und forderten Gerechtigkeit. Innerhalb weniger Tage weiteten sich die Proteste aus. In Städten im ganzen Iran verliessen Schulkinder ihre Klassenzimmer, um sich den Massen anzuschliessen, die sich an Kreuzungen drängten und Strassen blockierten.

Nasrin Parvaz: «Die gewaltsame Reaktion des Regimes war brutal. Hunderte verloren bereits ihr Leben. Am Freitag vergangener Woche wurden in der südöstlichen Stadt Zahedan 91 Menschen getötet, als staatliche Streitkräfte das Feuer eröffneten, darunter fünf Kinder. Ärzte bestätigten, dass sie von hinten erschossen wurden. Obwohl das Regime das Internet landesweit abgeschaltet hat, tauchen immer wieder Videos von Polizeigewalt auf, die die öffentliche Wut weiter anheizen.»

Universitäten, die als Schauplätze für Proteste dienten, werden von Regimekräften angegriffen. Am vergangenen Sonntag schoss die Polizei auf friedliche Demonstranten an der Teheraner Sharif-Universität für Technologie, und mindestens 40 Studenten wurden mit verbundenen Augen in Lieferwagen abtransportiert. Wie viele Eltern im Iran haben auch ihre Familien keine Ahnung, wo sie sind. Nachdem die Polizei den zerschundenen Körper der 16-jährigen Nika Shahkarami, die bei einer Demonstration verschwunden war, an ihre Familie zurückgegeben hat, befürchten viele das Schlimmste.

Nasrin Parvaz: «Die Wurzeln dieses Aufstandes, den die Iraner bereits als Revolution bezeichnen, liegen in einer kollektiven Wut, die ein halbes Jahrhundert lang unterdrückt wurde. Ich wurde politisch aktiv, kurz nachdem das islamische Regime die Macht übernommen und seine Gesetze zur sexuellen Apartheid eingeführt hatte. Im Jahr 1982 wurde ich verhaftet und in das Verhörzentrum des Gemeinsamen Ausschusses gebracht, wo ich gefoltert wurde. Nach stundenlangen Schlägen war ich wochenlang gelähmt und konnte weder duschen noch allein auf die Toilette gehen. Das Gefängnis war so überfüllt, dass ich einen Monat lang mit Dutzenden anderer Gefangener in einem Korridor schlief. Wir hatten 24 Stunden am Tag die Augen verbunden und mussten sogar im Dunkeln essen und schlafen. Später schlug ein Wärter meinen Kopf so heftig gegen die Wand, dass ich einen Gehirntumor bekam, eine Verletzung, die mich bis heute quält.»

Obwohl das Regime Nasrin zum Tode verurteilte, wurde ihre Strafe umgewandelt und sie wurde schliesslich 1990 freigelassen. Bald darauf wurde ihr klar, dass sie nicht mehr sicher war, und sie floh nach Grossbritannien. 

Gemälde von Nasrin

«Seitdem ich mich hier niedergelassen habe, haben mir das Malen und Schreiben viel Erleichterung verschafft, ebenso wie die Therapie der Organisation Freedom from Torture. Aber ich bin nicht ´geheilt`. Ich sehe immer noch die Gesichter meiner Freunde vor mir, die hingerichtet wurden.»

Zehn Jahre, nachdem Nasrin aus dem Iran geflohen war, verwandelte das Regime das Zentrum, in dem sie verhört wurde, in das Ebrat-Museum. Die Folterkammern wurden konserviert, wobei das Regime behauptete, sie seien nur von den Truppen des Schahs benutzt worden, der in der Revolution von 1979 abgesetzt worden war. 

«Doch wie die Proteste im ganzen Land zeigen, haben die Menschen das nicht vergessen. Es handelt sich nicht nur um einen Wutausbruch einer jungen und idealistischen Generation, sondern um das angesammelte Trauma von Generationen von Iranern, die für die Freiheit kämpfen.»

Heute kämpfe das Regime nicht nur um seinen Machterhalt, sondern um sein eigenes Überleben. «Angesichts der Wut aus allen Teilen der Gesellschaft wird es jeden, der sich ihm widersetzt, töten oder ins Gefängnis stecken. Aber die Menschen sind zu weit gekommen, um umzukehren. Wenn sie nachgeben und nach Hause gehen, wird es ein weiteres Massaker geben. Sie kämpfen um ihr Leben.»

Nasrin

Nasrin Parvaz ist eine Frauenrechtsaktivistin und Überlebende der Folter im Iran. Zu ihren Büchern gehören A Prison Memoir: One Woman's Struggle in Iran und der Roman The Secret Letters from X to A

 

 

08. Oktober 2022
von: