«Keiner wagte es, den Rockern mutig entgegenzutreten»

September 1972. Wie die Besucher des «Who»-Konzerts schikaniert wurden und wie ich an den Klippen der Mathematik zu zerschellen drohte. Serie «ALS ICH MICH IN DIE WELT VERLIEBTE – ­Chronik einer Leidenschaft» #51 von Nicolas Lindt.

«The Who» in Wetzikon am 5. 9. 1972. Ein Schweizer «Who»-Fan mit Gitarrist Pete Townshend. / © Keith Moon / A. Kipfer / The Who Archiv Schweiz - thewho.ch

September 1972. Die mündlichen Prüfungen verliefen erwartungsgemäss. Während ich im Fach Deutsch frei drauflos redete, blieb ich in der Mathematik geradezu sprachlos vor Unwissenheit, sodass ich nun wusste: Für die Matur reichte es nicht. Die 2 1/2 in Mathematik war mir sicher. Und keine Note im Maturazeugnis durfte niedriger als eine 3 sein.

Leichtes Spiel hatte ich dafür im Französischen, wo mir der junge 68er, der uns das Fach erteilte, ein Blatt vorlegte, mit dem ich in keiner Weise gerechnet hatte. Seine dicken Brillengläser konnten mir nicht verbergen, wie sehr ihn meine Reaktion amüsierte. Denn das Prüfungsblatt, das ich besprechen sollte, entpuppte sich als Auszug aus einem Asterix-Band. Doch der revolutionäre Akt des Französischlehrers, eine Maturprüfung auf der Grundlage eines Comicstrips durchzuführen, konnte mich wenig trösten. Die Klippen der Mathematik waren mein Untergang.

In den Tagen vor dem Prüfungsbescheid fand in der Wetziker Eishalle, die es damals schon gab, das erste und auf Jahre hinaus einzige Schweizer Konzert von «The Who» statt – jener britischen Rockband, die man im gleichen Atemzug mit den Beatles und den Stones nennen muss. Veranstaltet wurde der Anlass von «Good News». Kaum gegründet, stieg diese bald zur grössten Schweizer Konzertagentur auf. Doch die steile Kurve nach oben zeigte bereits ihre Nebenwirkungen.

Mein Konzertbericht für den Tages-Anzeiger behandelte jedenfalls weniger das Konzert selbst als die Begleitumstände des Abends. Unter dem Titel «Geschäfte mit jugendlichen Rockfans» sparte ich nicht mit deutlichen Worten. Einige fielen dem Rotstift zum Opfer, aber ich möchte dem Tages-Anzeiger nicht Unrecht tun, denn ich neigte schon damals zu unjournalistisch epischer Fülle und Fabulierlust. Der Beitrag war wohl einfach zu lang. Weil ich meinen Befund aber ungekürzt publizieren wollte, doppelte ich in der «Zürichsee-Zeitung» nach. Dort erhielt ich den Platz, den ich brauchte.

«Es ist sieben Uhr», begann ich meinen Bericht. «Zu diesem Zeitpunkt soll das Konzert beginnen, doch die Tore zur Eishalle in Wetzikon sind noch immer geschlossen. Aus der ganzen Schweiz, sogar aus Deutschland kommen junge Leute angereist, ein Strom von Fussgängern bewegt sich in Richtung Halle. Das Gedränge vor den Türen nimmt zu, und die Besucher, die immerhin 20 Franken bezahlen mussten, werden ungeduldig. Einer der Eingänge wird für Augenblicke geöffnet, um zwei Trucks der «Who» herauszulassen. Rücksichtslos bahnen sich die beiden Wagen ihren Weg durch die Menge, halten plötzlich mitten drin an und verpesten während nahezu fünf Minuten die Luft mit ihren Abgasen, bevor sie sich endlich entfernen.»

Abgase, stelle ich fest, störten mich also bereits damals. Mein Umweltbewusstsein tat seine ersten Schritte. Doch weiter in meiner Schilderung: «Rocker in grosser Zahl sorgen dafür, dass sich das Publikum ruhig verhält. Zur Demonstration ihrer Macht fahren sie mit ihren Maschinen mehrmals mitten durch die wartende Menge hindurch. Protestrufe werden laut, aber keiner wagt es, den Motorradhelden mutig entgegenzutreten, denn Rocker wünschen sich ja nichts anderes, als provoziert zu werden.»

Auch «Good News» hatte damit begonnen, Rockergangs wie die «Hell’s Angels» zu engagieren. Als kostengünstige Security eingesetzt, schreckten sie nicht zurück vor Gewalt und Schikane. Am Altamont-Festival an der amerikanischen Westküste, das noch im gleichen Jahr wie das friedliche Woodstock über die Bühne ging, wurde ein Zuschauer von «Hells Angels» sogar erstochen. Das tödlich endende Festival im Dezember 1969 beerdigte den Hippie-Mythos von Woodstock. Und nun erlebten die Schweizer Fans in Wetzikon dieselbe Mentalität. 

«Kurz nach sieben Uhr werden die Türen endlich geöffnet, doch der Konzertbeginn ist mittlerweile auf acht Uhr verschoben worden. Denjenigen, die am Eingang nicht drängelten, bleiben nur noch die hintersten Ränge und die Stehplätze den Gängen entlang. Was beweist, dass die Halle längst überfüllt ist, denn eigentlich müssten die Gänge freibleiben. Es werden aber immer noch Billette verkauft.

Auf der Bühne steht unterdessen alles bereit, und der Ansager bittet um Ruhe. Er könne den Enthusiasmus der Zuschauer nicht verstehen, sagt der Mann. Er selbst habe ihn verloren, nachdem im Gedränge mehrere Mädchen verletzt worden seien. Wir, das Publikum, seien Schuld daran – und das Publikum applaudiert! Es fühlt sich wahrhaftig kollektiv schuldig. Nur vereinzelte Pfiffe geben der Entrüstung Ausdruck über die Arroganz der Veranstalter.»

Dieser letzte Satz war auch für die Zürichsee-Zeitung zu viel. Die «Arroganz» schluckten sie nicht. Aber ich wollte es so formulieren. Die Entwicklung der Rockmusikszene, die zu einem Business geworden war, schürte in mir den Zorn des Enttäuschten. Und als ich mich endlich dem Konzert selbst widmete, musste ich mich schon wieder ärgern. Denn eröffnet wurde der Abend von der holländischen Band «Golden Earring». «Sie «verbesserte die getrübte Stimmung mit Leichtigkeit», lobte ich, «und das Publikum verlangte am Ende des kurzen Auftritts stürmisch nach einer Zugabe. Doch obwohl nun eine fast einstündige Pause folgte, da die «Who» noch nicht eingetroffen waren, wurde die Zugabe nicht gewährt.»

Die Veranstalter konnten sich ihre Willkür leisten, denn die Zuschauer wollten nur eins: «The Who» sehen. Das wollte auch ich, und als sie dann die Bühne betraten, war es Pete Townshend, der Gitarrist und Schöpfer fast aller Kompositionen der Band, der an diesem Abend die einzigen freundlichen Worte zum Publikum sagte. «Er entschuldigte sich für die Verspätung und versicherte, diese durch die Musik wieder wettzumachen.»

Seine Entschuldigung imponierte mir. Erst später erfuhr ich, dass Pete Townshend zu jener Zeit die Spiritualität entdeckt hatte und die Lehren des indischen Mystikers Meher Baba studierte. Er widmete ihm den Song «Baba 0’Reily» und vielleicht spielten die «Who» das Stück auch in Wetzikon. Doch indische Mystik hätte mir damals nichts gesagt. Jede Bewusstseinsstufe im Leben setzt die Gewichte anders.

«Während hundert Minuten», beschrieb ich den Auftritt der «Who», «schöpfte die Band aus ihrem unerschöpflichen Repertoire. Sie kann es sich leisten, jederzeit ihre frühen Stücke zu spielen, ohne abgedroschen zu wirken. Experimente darf man allerdings keine erwarten. Und am Ende des Auftritts hoffen die Zuschauer auf den Moment, wo Pete Townshend seine Gitarre auf dem Boden zerschmettert. Tatsächlich bleibt der Gitarrist auch in Wetzikon seinem Image treu und zerstört sein Instrument, das in seinen Händen unbezähmbare Kraft entfesselte – und offenbar besiegt werden muss.»

Meine Worte lassen erkennen, dass mich die Gitarrenzerstörung nicht sehr beeindruckte. Sie macht mir noch viel weniger Eindruck, wenn ich jetzt lese, dass Townshend sein Ritual mit «Autodestruktiver Kunst» begründete. Über 3’000 Gitarren soll er seit den ersten Konzerten zusammengehauen haben. Jede einzelne, das fand ich schon damals, war eine zu viel.

Natürlich durfte am Auftritt der «Who» auch «My generation» nicht fehlen. Die 1964 entstandene Komposition mit den historischen ersten Zeilen «People try to put us down, just because we get around» wurde, kaum erschienen, zur Hymne. Doch so sehr ich das Stück damals liebte und immer wieder zu Hause    hörte – an diesem Abend in Wetzikon konnte ich mich darüber nicht freuen. 

«My generation ruft die junge Generation dazu auf, ihr eigenes Leben zu leben. Das Konzert in Wetzikon zeigte jedoch erneut, dass ein Grossteil der Jugend längst angepasst ist – während andere junge Leute die Geschäftstüchtigkeit unserer Wirtschaft bedenkenlos übernommen haben. Stehend hat das Publikum die mitreissende Show der Band erlebt und gefeiert. Unter welchen negativen Begleitumständen der Abend begann, hat es vergessen. Wer aber erkannte, welch unfaires Spiel junge Konzertveranstalter mit jungen Konzertbesuchern treiben, ging enttäuscht und ernüchtert nach Hause.»

Zu den Ernüchterten gehörte auch ich. Die Zeilen von «My Generation» wirkten für mich wie ein Hohn. Heute, 50 Jahre danach, kann ich die Hymne der «Who» wieder sehen als das, was sie ist: Ein unvergänglicher Kampfruf gegen die Etablierung und die Resignation. «I hope I die before I get old», singen die «Who». Frei übersetzt: Solange du jung bist im Herzen, musst du nicht sterben.

*

Ich wartete auf das Telefon. Wer nicht bestand, dem telefonierte der Klassenlehrer. Und ich machte mir bereits Gedanken darüber, was ich dann tun würde. Dasselbe, wie wenn ich bestehen würde. Weiterleben. Also spielte es keine Rolle, ob ich bestand oder nicht. Aber ich spürte: So einfach war es nicht. Viereinhalb Jahre für die Katz. Viereinhalb Jahre umsonst verzichtet, gelitten, gekämpft.

Doch der Anruf des Klassenlehrers blieb aus. Ich hatte bestanden. Und als ich ein paar Tage später an der Maturafeier mein Zeugnis aus der Hand des Rektors entgegennahm, bestätigte sich, was im Grunde jeder mathematischen Logik entbehrte: Unser Mathelehrer, Herr Wyss, hatte mir eine 3 gegeben, obwohl ich eigentlich, rein rechnerisch, höchstens eine 2 1/2 verdient hätte. Schuld an der absolut ungerechtfertigten Grosszügigkeit meines Lehrers war die Begegnung mit ihm in der «Öpfelchammer» (> Folge 43). Souverän hatte das Schicksal unsere Schritte zur gleichen Zeit ins gleiche Lokal geleitet, damit er mich dort nicht als Mathematikverweigerer, sondern als jungen, idealistischen Menschen erkennen konnte, dem er den Absturz einer nicht-bestandenen Matura nicht zumuten wollte.

Erst jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, fällt mir das Naheliegendste ein: Ich hätte mich bei Paul Wyss im Grunde bedanken können. Deshalb suche ich ihn im weltweiten Netz - und komme ein Jahr zu spät. Ich finde nur noch seine Todesanzeige. Am ersten Frühlingstag vor einem Jahr hat er im Engadin, 89jährig, «sein reiches Leben am Ende seiner Lebensenergie mit Exit beendet». Im Kopf der Annonce prangt ein Zitat, das den Verstorbenen unverwechselbar als meinen ehemaligen Lehrer kennzeichnet. Es ist das Zitat eines Mathematikers. Der Schweizer Leonhard Euler (1707-1783) sagte einmal: «Die Mathematik ist es, die uns vor dem Trug der Sinne schützt.» Ich erinnere mich, dass Paul Wyss die Mathematik geliebt hat. Schade eigentlich, denke ich jetzt, dass ich den Zugang zu ihr nie gefunden habe.

*

Über das Bangen der letzten Tage, die glücklich bestandene Prüfung und die Maturafeier verlor ich im Tagebuch keine Zeile. Innerlich lag die Schule längst hinter mir. Eine einzige kurze Notiz musste genügen:

«Schnell sind diese letzten Tage verflogen. Heute habe ich zum letzten Mal eine Schulbank gedrückt. Freue ich mich wirklich darüber, dass dies nun der endgültig letzte Tag meiner Schulzeit war? Nach all den geduldig und ungeduldig ertragenen Jahren? Klar freue ich mich – aber die Schule lässt eine Leere in mir zurück, und weder verbrannte ich meine Bücher noch provozierte ich einen Lehrer. Ich habe das Schulhaus einfach verlassen, ohne meiner Genugtuung Ausdruck zu geben. Ich bin einfach hinausgegangen.»

Die nächste Folge erscheint am 25. Juni

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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