Kolumbiens neuer Präsident findet bewegende Worte vor der UNO: Beendet den Krieg gegen Drogen!

In Brasilien bleibt es nach der gestrigen Wahl leider spannend. Aber in Kolumbien wurde Gustavo Petro schon im Juli als erster Linker zum Präsidenten gewählt - für das gewalt- und armutgeschüttelte Land, in dem seit über 40 Jahren «Krieg gegen Drogen» und damit gegen die Natur, Kleinbauern und Indigene herrscht, ist er eine neue Hoffnung. Vor der UNO-Generalversammlung nahm der Volkswirt und ehemals der Guerilla nahestehende Politiker kein Blatt vor den Mund: «Nicht unser Regenwald ist schuld an der Drogensucht. Schuld ist Ihre Gesellschaft, die die Menschen zu endlosem Konsum und Konkurrenzdenken erzogen hat.»

CC: Gustavo Petro empfängt Vertreterinnen von Frauengruppen Kolumbiens

Gustavo Petros Wahl im Juli grenzte bereits an ein Wunder. Der erste linke gewählte Präsident Kolumbiens –, wo jahrelang Linke, Gewerkschafter, Andersdenkende verfolgt und umgebracht wurden. Ein Land, in dem der Krieg gegen Drogen eine Gewaltspirale angeheizt hat, der eine ganze Gesellschaft zum Opfer fiel. Petro legte in seinen ersten beiden Monaten im Amt ein immenses Arbeitspensum vor: Er startete eine Steuerreform, die Wohlhabende zur Kasse bittet; er begann eine Landreform, die Kleinbauern, Landlosen und Indigenen Landtitel für mehr als 680.000 Hektar verleiht; er ging auf das Nachbarland Venezuela zu und öffnete die Grenze wieder; er schlug einen «totalen Frieden» im Land vor, dem sich bereits zehn bewaffnete Gruppen anschlossen; er ist dabei, die in unendlich viele Skandale und Vertreibungen verwickelten Streitkräfte zu einer «Armee des Friedens» umzubauen; er hat ein umfassendes Umweltprogramm begonnen. Und am 20. September hielt er eine bemerkenswerte Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Wir haben die Rede übersetzt und leicht gekürzt – so direkte und couragierte Worte hat man noch selten in diesem Gremium gehört.
 

Mein Land ist nicht nur schön, es ist auch gewalttätig.

Ich komme aus einem der schönsten Länder der Erde. Dort explodiert das Leben. Tausende von bunten Lebewesen in den Meeren, am Himmel, auf dem Land. Ich komme aus dem Land der gelben Schmetterlinge und der Magie. Dort, in den Bergen und Tälern voll mit allen Grüntönen, fliesst nicht nur reichlich Wasser herunter. Sondern auch Ströme von Blut. Ich komme aus einem Land von blutiger Schönheit.

Mein Land ist nicht nur schön, es ist auch gewalttätig.

Wie können Schönheit und Tod so verbunden sein? Wie kann die Artenvielfalt des Lebens so zusammengehen mit den Tänzen des Todes und des Grauens? Wer ist schuld daran, dass diese Verzauberung durch Angst und Schrecken gebrochen wird? Wer ist dafür verantwortlich, dass das Leben in den Alltagsentscheidungen von Reichtum und Zinsen ertrinkt? Wer führt uns als Nation und als Volk ins Verderben?

Mein Land ist schön, weil es die Flüsse des Amazonas, die Wälder des Chocó, die Bergketten der Anden und die Ozeane hat. Diese Wälder erzeugen den Sauerstoff, den der Planet braucht, und speichern das CO2 aus der Atmosphäre. Eine dieser CO2-absorbierenden Pflanzen unserer Regenwälder ist eine der am meisten verfolgten Wesen auf der Erde. Um jeden Preis wird ihre Vernichtung angestrebt: Es handelt sich um eine Pflanze aus dem Amazonasgebiet, die Kokapflanze, eine heilige Pflanze der Inkas. 

Wir befinden uns in einem Paradox: Der Dschungel, der uns retten könnte, wird gleichzeitig zerstört. Um die Kokapflanze zu zerstören, wird Gift gesprüht – massenweise Glyphosat, das in die Gewässer fliesst. Die Koka-Bauern werden verhaftet und eingesperrt. Für die Zerstörung oder den Besitz von Koka-Blättern oder Kokain wurden eine Millionen Lateinamerikaner getötet und zwei Millionen Afroamerikaner in Nordamerika ins Gefängnis gesperrt. Der Norden schreit: Zerstört die Pflanze, die tötet. Aber die Koka-Pflanze ist nur eine von Millionen, die der Zerstörung des Regenwaldes zum Opfer fallen. Krieg gegen Drogen – die Zerstörung von Wäldern im Namen der Drogenbekämpfung – ist ein Schlachtruf geworden. Und Staaten und Geschäftsleute folgen. Der Aufschrei der Wissenschaftler, die den Regenwald als eine der grossen Klimasäulen preisen, ist unwichtig.

Die Mächtigen der Welt sehen den Urwald und seine Bewohner schuld an dem Unheil der Drogensucht. (…) Der Regenwald brennt, meine Herren, während Sie Krieg führen. Der Regenwald, die Grundlage unseres Klimas, verschwindet, und all das Leben mit ihm. Der grosse Schwamm, der das CO2 des Planeten absorbiert, verdunstet. Der Regenwald in meinem Land, der unsere Rettung sein könnte, wird als Feind gesehen, der besiegt werden muss. Als Unkraut, das ausgerottet werden muss.

Die Koka-Pflanze und die Bauern, die sie anbauen, weil sie nichts anderes anbauen können, werden verteufelt. An meinem Land interessiert Sie nur, unsere Wälder mit Giften zu besprühen, unsere Männer ins Gefängnis zu bringen und unsere Frauen auszugrenzen. Sie sind nicht an der Bildung unserer Kinder interessiert. Sondern daran, die Wälder unseres Landes zu töten und Kohle und Öl aus seinen Eingeweiden zu gewinnen. (...)

Wir dienen dazu, von der Leere und Einsamkeit Ihrer Gesellschaft abzulenken, in denen die Menschen inmitten von Drogenblasen leben. Wir dienen dazu, Ihre Probleme kaschieren, die Sie nicht anschauen wollen. Statt dessen erklären Sie dem Regenwald, seinen Pflanzen und Menschen den Krieg. Während Sie die Wälder abbrennen, die Pflanzen im grossen Stil vergiften, um von den Katastrophen ihrer eigenen Gesellschaft abzulenken, wollen Sie von uns immer mehr. Mehr Kohle, mehr Öl, um die andere Sucht zu stillen: die nach Konsum, nach Macht, nach Geld.

Was ist giftiger für die Menschheit: Kokain, Kohle oder Öl? Das Diktat der Macht hat angeordnet, dass Kokain das eigentliche Gift ist und verfolgt werden muss. Dabei verursacht die Pflanze selbst nur minimale Todesfälle, wenn dann meist durch verunreinigte Drogenmischungen. Das ist Ihnen aber egal, denn Kohle und Öl müssen geschützt werden. Und das, obwohl ihre Verwendung die gesamte Menschheit auslöschen könnte. Daran sehen wir die Art der Weltmacht, der Ungerechtigkeit, der Irrationalität. Denn die Weltmacht ist irrational geworden. 

Petro

Sie sehen in der Üppigkeit des Regenwaldes, in seiner Vitalität das Lüsterne, das Sündige. Angeblich ist das schuld an der Traurigkeit Ihrer Gesellschaften. Doch in Wahrheit sind diese durchdrungen vom unbegrenzten Zwang zu besitzen und zu konsumieren. Sie sind so durchsetzt mit Konkurrenzdenken, dass sie die Seele in der Einsamkeit gefangen halten. Wie könnte man die Einsamkeit des Herzens, seine Dürre inmitten einer Gesellschaft, die keine Zuneigung kennt, besser verbergen – als dadurch, dass man eine Pflanze und die Menschen, die sie kultivieren, sowie die Freiheit und die Geheimnisse des Regenwaldes dafür verantwortlich macht.

Der irrationalen Macht der Welt zufolge ist nicht der Markt schuld daran, dass unsere Existenz beschnitten wird. Sondern es ist die Schuld des Regenwaldes und derer, die ihn bewohnen. Die Bankkonten sind unbegrenzt geworden. Das Geld, das die Mächtigsten der Erde angespart haben, werden sie nicht einmal in Jahrhunderten ausgeben können. Die Traurigkeit Ihres Daseins, erzeugt durch den künstlichen Aufruf zum Wettbewerb, wird überdeckt von Lärm und Drogen. Es ist die Kehrseite der Sucht nach Geld und Besitz: Die Verlierer des Wettkampfes, zu dem die Menschheit gezwungen wurde, bezahlen es mit ihrer Sucht nach Drogen.

Einsamkeit lässt sich nicht heilen, indem man Glyphosat auf Wälder sprüht. Nicht der Regenwald ist schuld an der Einsamkeit. Schuld ist Ihre Gesellschaft, die die Menschen zu endlosem Konsum erzogen hat. Die dumme Verwechslung von Konsum und Glück füllt die Taschen der Macht mit Geld. Nicht der Regenwald ist schuld an der Drogensucht. Schuld ist die Irrationalität Ihrer Weltmacht. Versuchen Sie doch bitte, Ihre Macht mit etwas Vernunft zu verbinden. Wir sind im 21. Jahrhundert!

Der Krieg gegen die Drogen währt jetzt 40 Jahre. Wenn wir den Kurs nicht korrigieren und er weitere 40 Jahre andauert, werden die Vereinigten Staaten erleben, wie 2.800.000 junge Menschen an einer Überdosis Fentanyl* sterben. Und das ist eine Droge, die nicht in unserem Lateinamerika hergestellt wird. Millionen von Afroamerikanern werden dann in Ihren Privatgefängnissen inhaftiert werden, ein gutes Geschäft der Gefängnisgesellschaften. Eine Million weiterer Lateinamerikaner werden ermordet werden. Unsere Gewässer und unsere grünen Felder werden mit Blut gefüllt sein. Der Traum von Demokratie wird in meinem Amerika ebenso sterben wie im angelsächsischen Amerika. Wenn Sie die Wahrheit verschweigen, werden sie den Regenwald ebenso sterben sehen wie die Demokratien. 

Der Krieg gegen die Drogen ist gescheitert. (…) Der tödliche Drogenkonsum hat noch zugenommen, ob weiche oder harte Drogen. Es ist Völkermord, der auf meinem Kontinent und in meinem Land stattfindet. Millionen von Menschen wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Um Ihre eigene soziale Schuld zu verbergen, haben Sie dem Regenwald und seinen Pflanzen die Schuld gegeben. 

Ich fordere für mein verwundetes Lateinamerika, dass der irrationale Krieg gegen die Drogen beendet wird. Um den Drogenkonsum einzudämmen, brauchen wir keine Kriege. Sondern wir alle müssen eine bessere Gesellschaft aufbauen: eine fürsorglichere, liebevollere Gesellschaft, in der die Intensität des Lebens vor Abhängigkeiten und neuer Sklaverei bewahrt. 

Wollen Sie weniger Drogen? Dann denken Sie an weniger Profit und mehr Liebe. Denken Sie an eine Macht, die sich mit Vernunft verbindet.

Zerstören Sie nicht mit Giften die Schönheit meines Heimatlandes. Helfen Sie uns ohne Heuchelei, den Amazonas-Regenwald zu retten, der das Leben der Menschheit auf dem Planeten retten könnte. Sie haben die Wissenschaftler versammelt. Mit Mathematik und Klimamodellen sagten sie, dass das Ende der menschlichen Spezies nahe sei, dass ihre Zeit nicht mehr Jahrtausende, nicht einmal Jahrhunderte betrage. Die Wissenschaft lässt die Alarmglocken läuten. Aber Sie hören nicht mehr auf sie.

Als Handeln am nötigsten war – als Reden nichts mehr nützte – als es unabdingbar war, Geld zu investieren, um die Menschheit zu retten – als es notwendig war, so schnell wie möglich von Kohle und Öl wegzukommen, da erfand man einen Krieg nach dem anderen.

Kriege dienen als Vorwand, um nicht die notwendigen Massnahmen zu ergreifen. Als Handeln am nötigsten war – als Reden nichts mehr nützte – als es unabdingbar war, Geld zu investieren, um die Menschheit zu retten – als es notwendig war, so schnell wie möglich von Kohle und Öl wegzukommen, da erfand man einen Krieg nach dem anderen. Sie überfielen die Ukraine, aber auch den Irak, Libyen und Syrien. Im Namen von Öl und Gas. Im 21. Jahrhundert sind Sie der schlimmsten Ihrer Süchte gefolgt: der Sucht nach Geld und Öl. Kriege dienen Ihnen als Vorwand, um nicht gegen die Klimakrise vorzugehen. Kriege zeigen Ihnen, wie abhängig Sie von dem sind, was die menschliche Spezies töten wird.

Wenn Sie beobachten, dass Menschen hungern und dürsten und zu Millionen nach Norden wandern – dorthin, wo es Wasser gibt – dann grenzen Sie sie aus. Sie bauen Mauern, setzen Maschinengewehre ein, schiessen auf sie. Sie vertreiben sie, als ob sie keine Menschen wären. Sie reproduzieren damit die Mentalität derer, die die Gaskammern und die Konzentrationslager geschaffen haben. Sie reproduzieren 1933 – aber in planetarischem Massstab. Das ist der Triumph der Gewalt gegen die Vernunft. 

Sehen Sie nicht, dass die Lösung für den grossen Exodus, der über Ihre Länder hereingebrochen ist, darin besteht, die Flüsse wieder mit Wasser zu füllen und die Felder mit Nährstoffen zu versorgen? Die Klimakatastrophe befällt uns mit Viren. Aber Sie machen Geschäfte mit Medikamenten und verwandeln Impfstoffe in Handelsware. Sie sagen im Ernst, dass der Markt uns vor dem retten wird, was der Markt selbst geschaffen hat. Der Frankenstein der Menschheit besteht darin, den Markt und die Gier ohne Planung agieren zu lassen und das Gehirn und die Vernunft auszuschalten. Die menschliche Vernunft wird der Gier geopfert.

Was nützt ein Krieg, wenn es darum geht, die menschliche Spezies zu retten? Was nützen NATO und Imperien, wenn das, was kommt, das Ende der Intelligenz ist? Die Klimakatastrophe wird Hunderte von Millionen von Menschen töten. Und hören Sie gut zu: Sie wird nicht vom Planeten verursacht, sondern vom Kapital.

Die Ursache für die Klimakatastrophe ist das Kapital. Die Logik hinter einer Zusammenarbeit, nur um mehr und mehr zu konsumieren, mehr und mehr zu produzieren und für einige mehr und mehr zu verdienen, erzeugt die Klimakatastrophe. Sie haben sich der Logik verschrieben, immer mehr auf die Energiemaschinen Kohle und Öl zu setzen. Damit haben Sie einen Orkan entfesselt: die immer tiefere und tödlichere chemische Veränderung der Atmosphäre. Die erweiterte Akkumulation des Kapitals ist eine erweiterte Akkumulation des Todes.

Aus den Ländern des Regenwaldes und der Schönheit lade ich Sie – die Sie beschlossen haben, eine Pflanze des Amazonas-Regenwaldes zum Feind zu machen, ihre Erzeuger auszuliefern und zu inhaftieren – ein, den Krieg zu beenden und die Klimakatastrophe zu stoppen. 

Hier, in diesem Amazonas-Regenwald, werden wir Zeugen für das Versagen der Menschheit. Hinter den Feuern, die ihn verbrennen, hinter seiner Vergiftung steht ein ganzheitliches, zivilisatorisches Versagen der Menschheit. Hinter der Sucht nach Kokain und Drogen, hinter der Sucht nach Öl und Kohle steht die eigentliche Sucht des Menschen unserer Zeit: die Sucht nach irrationaler Macht, nach Profit und Geld. Dies ist die gewaltige tödliche Maschinerie, die die Menschheit auslöschen kann.

Als Präsident eines der schönsten Länder der Erde, aber auch eines der blutigsten und am meisten geschändeten Landes, schlage ich Ihnen vor, den Krieg gegen die Drogen zu beenden und unserem Volk ein Leben in Frieden zu ermöglichen. Zu diesem Zweck rufe ich ganz Lateinamerika auf. Ich rufe die Stimme Lateinamerikas auf, sich zu vereinen, um die Unvernunft zu besiegen, die unsere Körper martert. Ich rufe Sie auf, den Amazonas-Regenwald ganzheitlich mit allen Ressourcen zu retten, die weltweit für das Leben gebraucht werden.

Wenn Sie nicht in der Lage sind, in die Wiederbelebung der Wälder zu investieren, wenn es mehr wiegt, Geld für Waffen als für das Leben auszugeben – dann reduzieren Sie die Auslandsverschuldung. Machen Sie damit unsere Haushaltsspielräume weiter. Und erfüllen Sie damit die Aufgabe, die Menschheit und das Leben auf dem Planeten zu retten. Wir können es tun, wenn Sie es nicht tun wollen. Tauschen Sie einfach die Schulden gegen das Leben, gegen die Natur. Ich schlage vor – und dazu rufe ich Lateinamerika auf – einen Dialog zu führen, um den Krieg zu beenden. Zwingen Sie uns nicht den Krieg auf!

Es ist Zeit für FRIEDENLassen Sie die slawischen Völker miteinander reden. Lassen Sie die Völker der Welt miteinander reden. Der Krieg ist eine Falle, die uns dem Ende der Zeit in einer grossen Orgie der Irrationalität näher bringt.

Von Lateinamerika aus rufen wir die Ukraine und Russland auf, Frieden zu schliessen. Nur im Frieden können wir das Leben in diesem unserem Land retten. Es gibt keinen totalen Frieden ohne soziale, wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit. Denn wir befinden uns auch mit unserem Planeten im Krieg. Ohne Frieden mit dem Planeten wird es keinen Frieden zwischen den Nationen geben. Ohne soziale Gerechtigkeit gibt es auch keinen sozialen Frieden.

 

* Fentanyl ist ein synthetisches Opioid mit ca. 80 mal höherer Wirksamkeit als Morphium. Es wird bei akuten und chronischen Schmerzen eingesetzt. Nach offiziellen Angaben starben in den USA von 1999 bis März 2021 fast 841.000 Menschen an einer Überdosis. Die meisten von ihnen waren von Schmerzmitteln wie Fentanyl abhängig.

03. Oktober 2022
von: