Liebe und Vernunft

Im sechsten und letzten Teil der Serie über das Böse geht Charles Eisenstein noch einmal auf die geheime Bruderschaft ein, die in Orwells Roman «1984» erwähnt wird und auf deren Existenz wir alle hoffen. Wer zu dieser Bruderschaft gehört und was die Liebe damit zu tun hat.

Bild von Sage Canelli

Hier sind die Teile 1, 2, 3, 4 und 5 zu finden.


In diesem Essay habe ich dargelegt, warum die Überzeugung, dass man für das Allgemeinwohl handelt, einen noch lange nicht zum Mitglied der Bruderschaft macht. Diese Überzeugung spricht sogar gegen eine Mitgliedschaft. Nach diesem Kriterium wären auch Heinrich Himmler, Joe McCarthy und fast jeder Tyrann, der je gelebt hat, in der Bruderschaft gewesen, und ebenso wären es der Spitzel aus der Nachbarschaft, der Stasi-Informant und der stellvertretende Rektor deiner Schule.

Du kannst jetzt gleich mal deinen CO2-Fussabdruck berechnen. Dann multiplizierst du ihn mit deinem Wahlverhalten und zählst die Gründe hinzu, warum dein Job die Welt zu einem besseren Ort macht oder zumindest nicht allzu viel Schaden in ihr anrichtet. Deine Verstösse gegen das Allgemeinwohl relativierst du mit dem Gedanken, dass man ja schliesslich irgendwie seinen Lebensunterhalt bestreiten muss. Als Ergebnis erhältst du deinen Punktestand, der dir sagt, in welchem Masse du ein guter Mensch bist. Mit solchen Rationalisierungen und mithilfe von Doppeldenk kann jede Handlung gerechtfertigt werden. Und da Doppeldenk seine eigenen Spuren verwischt, ist es schwer zu sagen, in welchem Masse jeder von uns es anwendet.

Wie können wir also sicherstellen, dass wir der Bruder- oder Schwesternschaft einer wahren Revolution angehören, in der nicht nur Rollen und Feinde ausgetauscht wurden? Orwells Roman «1984» beantwortet diese Frage mit seiner Kernaussage darüber, was Verrat bedeutet.

Die vielleicht schmerzhafteste Szene des Buches spielt sich nach Winstons Entlassung aus dem Liebesministerium ab, als Julia und Winston sich auf der Strasse begegnen. Jeder hat den anderen unter Folter verraten. Orwell inszeniert diese Szene meisterhaft:

Eigentlich waren sie sich nur zufällig begegnet. Es war im Park, an einem scheusslichen, schneidend kalten Märztag, als die Erde wie aus Eisen wirkte, alles Gras abgestorben und es nirgends eine Knospe zu geben schien, ausser ein paar Krokussen, die sich hochgekämpft hatten, um vom Wind zerpflückt zu werden.

Das verheisst nichts Gutes. Der Dialog ist nicht weniger trostlos:

«Ich habe dich verraten», sagte sie karg.
«Ich habe dich verraten», sagte er.
Sie blickte ihn erneut voller Abscheu an.

«Manchmal», sagte sie, «da drohen sie einem mit etwas – etwas, dem man sich nicht stellen kann, an das man nicht einmal denken kann. Und dann sagt man: ´Macht das nicht mit mir, macht es mit jemand anders, macht es mit Soundso.` Und dann kann man hinterher vielleicht so tun, als sei es nur ein Trick gewesen und man habe es nur gesagt, damit sie aufhören, man habe es nicht ernst gemeint. Aber das stimmt nicht. In dem Augenblick meint man es ernst. Man sieht keinen anderen Ausweg, um sich zu retten, und ist durchaus bereit, sich auf diese Weise zu retten. Man will, dass es der Andere durchmacht. Es ist einem scheissegal, wie die anderen leiden müssen. Man denkt bloss an sich selbst.»
«Man denkt bloss an sich selbst», wiederholte Winston.
«Und danach empfindet man für die andere Person nicht mehr dasselbe.»
«Nein», sagte er, «man empfindet nicht mehr dasselbe.»

O'Brien sagt, die russischen Kommunisten und die deutschen Nazis seien gescheitert, weil sie sich damit zufriedengegeben hätten, dass ihre Opfer gestanden, sich angepasst und gehorcht hätten. Die Partei, sagt er, wolle, dass die Menschen in ihren Gedanken rein seien, nicht nur in ihren Worten und Taten.

Es reiche nicht aus, dem Grossen Bruder zu gehorchen. Es reiche nicht aus, sich in jeder äusseren Erscheinungsform anzupassen. Man müsse den Grossen Bruder lieben.

Bevor Winston Julia am Ende verriet, hatte er insgeheim Widerstand geleistet. «Mit dem Geist hatte er kapituliert, aber er hatte gehofft, sein Innerstes unversehrt zu bewahren.» Und genau darin scheiterte er. Sein Scheitern lag nicht darin, dass er erwischt wurde, dass er gestand, dass er seine Freunde verriet oder dass er intellektuell kapitulierte.

All das spielte keine Rolle, und O'Brien wusste das. Aber wäre Winston mit einem noch so geheimen, unausgesprochenen Funken von Integrität in seinem Herzen zu Grabe getragen worden, dann wäre der Untergang der Partei nur noch eine Frage der Zeit gewesen.

Der letzte Zufluchtsort in seinem Innersten wurde zerstört, als er in Zimmer 101 mit seinem Alptraum, «dem Schrecklichsten auf der Welt», konfrontiert wurde. O'Brien beschrieb es als etwas, dem man rein physiologisch nicht widerstehen kann. «Mut und Feigheit spielen dabei keine Rolle. Wenn man von einem Gipfel stürzt, ist es nicht feige, sich an ein Seil zu klammern. Wenn man aus der Wassertiefe auftaucht, ist es nicht feige, sich die Lungen aufzupumpen. Es ist nur ein Instinkt, der sich nicht unterdrücken lässt.»

Ich halte dies für eine aussergewöhnliche und unbelegbare Behauptung, die einzige Schwachstelle in der mächtigen Festung der Hoffnungslosigkeit, die das Buch errichtet.

«Macht es mit ihr, nicht mit mir», schrie Winston. Es wird also behauptet, dass wir im Angesicht der schrecklichsten Sache der Welt immer das verraten werden, was wir am meisten lieben, dass die Angst grösser ist als die Liebe, dass wir nur hilflose, von unwiderstehlichen biologischen Kräften gesteuerte Marionetten sind. Und dennoch kommt es vor, dass jemand sich nicht an das Seil klammert, nicht nach Atem schnappt und keine andere Person zwischen sich und das Schlimmste auf der Welt stellt.

Solch extremer Mut und Heldentum sind ungewöhnlich und glücklicherweise kommen wir nur selten in die Lage, sie unter Beweis stellen zu müssen. Orwell ruft uns hier jedoch eine Entscheidung ins Bewusstsein, vor der wir immer stehen, wenn die Stimme des Herzens auf die Angst trifft: «Was ist mit mir? Was wird mit mir geschehen?»

Wir alle werden in abgeschwächter Form mit der schrecklichsten Sache der Welt konfrontiert. Oft erleben wir sie als eine Art undefinierbaren Grauens, als Angst, die keinen Namen hat, denn auf die Frage «Wovor hast du wirklich Angst?» können wir keine klare Antwort geben. Für manche von uns ist es das Schrecklichste auf der Welt, sich in der Öffentlichkeit zu blamieren oder von einer bestimmten Person zurückgewiesen zu werden. Ich kenne Menschen, die lieber jahrzehntelang im Elend leben, als zu riskieren, dass ihnen dergleichen widerfährt.

Und dann, eines Tages, konstruieren wir unbewusst eine Situation, in der wir uns dieser Angst stellen müssen, oder wir entscheiden bewusst, dass es an der Zeit ist, uns ihr zu stellen. Und wir entdecken, dass es doch nicht so schrecklich war. Während wir auf dem Pfad der Revolution ein Ungeheuer nach dem anderen überwinden, wechselt das «Schrecklichste» die Identität.

Orwell war der Meinung, dass jeder Mann und jede Frau von ihm bezwungen wird. Alles andere in seinem Denken baut natürlich auf dieser Idee auf. Wenn die Angst tatsächlich mächtiger ist als die Liebe, dann wird die Welt aus «1984» zur Gewissheit. Wenn uns unser persönlicher Komfort, unsere Sicherheit oder unser Überleben stets wichtiger sind als das zu tun, was wir tief in unserem Herzen als richtig empfinden, dann gibt es keine Hoffnung für unsere Welt.

Genauso wenig gibt es Hoffnung für unsere Welt, wenn wir leugnen, was unser Herz weiss, und stattdessen einem Ideal, einer Organisation oder einem Prinzip den Vorrang geben. Wenn wir dies tun, folgen wir einer Kernideologie der Partei, die unsere Welt beherrscht. Aufgrund dieser Ideologie können Menschen endlos über einen «Ismus» nach dem anderen debattieren.

Ganz gleich, wie lautstark ihre Meinungsverschiedenheiten auch sein mögen, in einem grundlegenden Punkt stimmen sie alle überein: Wir müssen die richtige Antwort herausfinden, andere davon überzeugen und unsere Handlungen danach ausrichten. Diese Einstellung ist mit der reduktionistischen Ideologie verwandt, die besagt, dass wir in der Lage sind, alles zu verstehen und zu kontrollieren, wenn wir aus Grundbegriffen eine Theorie ableiten können.

Wenn wir erst einmal davon überzeugt sind, zu wissen, was das Gute ist, sei es die Diktatur des Proletariats, die Rassenreinheit, die Reduzierung der CO2-Emissionen oder die Rettung der Wale, werden wir wie die Götter – so selbstgerecht, dass wir die wahre Stimme Gottes nicht mehr hören, die durch unsere Herzen spricht.

Winstons endgültige Kapitulation war eigentlich nichts anderes als eine Fortführung der Antworten, die er O'Brien während seiner Rekrutierung gegeben hatte: «Sie sind bereit, Morde zu begehen, Sabotageakte zu verüben, die vielleicht den Tod von Hunderten unschuldiger Menschen herbeiführen? ...» Er hatte sein Herz bereits verraten. Er hatte sich im Geiste bereits der Partei angeschlossen und war bereit, um eines Ideals willen Böses zu tun.

Hier haben wir also den Kern der Lösung für unser Problem, wie wir die Partei bekämpfen können, ohne zu kämpfen, mit anderen Worten: wie wir die Manifestation des Bösen in der Welt kampflos bekämpfen können. Der Kern der Lösung besteht darin, unser Herz tief im Inneren unversehrt zu bewahren. Damit will ich nicht sagen, dass diese Einstellung das Handeln ersetzt, ganz im Gegenteil: Sie ist der Ursprung mutigen Handelns (und nur sie).

Aber wie auch immer dieses Handeln aussehen mag und selbst wenn Gewalt damit verbunden ist, wird es nie darum gehen, gegen das Böse zu kämpfen oder um irgendein anderes abstraktes Prinzip. Denn das wäre, als würde man versuchen, das Herz mit dem Verstand zu steuern, den Diener zum Herrn zu machen. Abstrakte Prinzipien sind so gemacht, dass sie zuerst Feiglinge und dann Monster aus uns machen. Wir werden herzlos, und das gilt für die politische und die persönliche Ebene gleichermassen.

Orwell beschreibt, was mit uns geschieht, wenn wir dem Programm der Partei erliegen, das uns «zu einem von ihnen» machen soll:

Sie werden Dinge erleben, von denen Sie sich in tausend Jahren nicht erholen könnten. Sie werden nie mehr normaler menschlicher Empfindungen fähig sein. Alles in Ihnen wird tot sein. Sie werden nie mehr Liebe, Freundschaft, Lebensfreude, Lachen, Neugier, Mut oder Integrität kennen. Sie werden hohl sein. Wir werden Sie ausquetschen und dann mit unserem Denken füllen.

Vielleicht kennen Sie jemanden, dem es so geht, vielleicht haben Sie es sogar selbst schon erlebt. Es ist tatsächlich so, wie Orwell es beschreibt: «Alles in Ihnen wird tot sein.» Wenn man sein Herz verrät, verursacht das eine innere Trennung, eine Spaltung des Selbst; und das Böse, das erfunden wurde, um uns zu bedrohen, wird zur Realität. Der seelenlose Blick bestimmter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens lässt erahnen, was los ist. Wie Orwell darlegt, ist diese Spaltung sogar noch tiefgreifender als der bei Doppeldenk notwendige Verzicht auf den gesunden Menschenverstand. Was Doppeldenk auf der Ebene des Verstandes bewirkt, bewirkt der Verrat der Liebe auf der Ebene der Seele.

«Sie werden nie mehr Liebe, Freundschaft, Lebensfreude, Lachen, Neugier, Mut oder Integrität kennen». Ein solcher Zustand ist für die Aufrechterhaltung der Macht unentbehrlich. Der Faschismus speist sich aus einer gespaltenen Bevölkerung, deren Mitglieder sich gegenseitig misstrauen und bereit sind, sich zu bespitzeln, zu verraten und vor allem: tatenlos zuzusehen, wenn eine Person oder Gruppe verfolgt wird, denn es geschieht ja schliesslich nicht einem selbst. Ich werde Martin Niemöllers berühmtes Gedicht zu diesem Thema zitieren, auch wenn es fast zu einem Klischee geworden ist, weil es mehr als nur ein ethisches Prinzip illustriert:

Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Juden einsperrten, habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

Wenn Menschen tatenlos zusehen, wie ihre Mitmenschen von der Polizei in Lager abtransportiert werden, liegt das nicht nur an ihrer Angst oder Blindheit. Es liegt an der Abwesenheit von Empathie, Freundschaft und Mut – von eben all den Dingen, die dem Parteimitglied genommen wurden. «Sie werden hohl sein».

Jedes Mal, wenn wir einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen als Untermenschen kategorisieren, werden wir fähig, tatenlos zuzusehen, wenn diese zum Schweigen gebracht, verfolgt, unterdrückt oder abgeschlachtet werden. Die Liebe verwelkt und an ihrer Stelle spriesst eine falsche Liebe – die Liebe zu einer Idee, einer Symbolfigur, dem geliebten Führer, der Partei.

Orwell hat diesen Prozess in einen einzigen verhängnisvollen Verrat verdichtet, doch im wahren Leben entwickelt sich dieser Prozess nach und nach. Jedes Mal, wenn wir unser Herz verraten, stirbt etwas in uns ein wenig mehr. Jedes Mal, wenn wir uns gegen die Liebe entscheiden, öffnen wir einer anderen Macht die Tür.

Bitte denke nun nicht, es gebe zwei Kategorien von Menschen auf der Welt – die, die ihr Herz verraten haben und die, die ihm treu geblieben sind. Nahezu jeder von uns lebt in einer einzigartigen Kombination von Verrat und Treue. In dem Masse, in dem wir uns selbst verraten, (denn wer sein Herz verrät, verrät das Selbst) verfallen wir in genau den Zustand, den Orwell beschreibt. Wir fühlen uns innerlich tot. In dem Masse, in dem wir unserem Herzen folgen, gewinnen wir an Mitgefühl, Freude und Mut.

Auch wenn die Handlungen, die unser Herz uns diktiert, für die Welt nicht sichtbar sind; auch wenn sie dem rationalen Verstand ziemlich sinnlos erscheinen; auch wenn sie darin bestehen, einen Sterbenden zu pflegen, der sowieso bald tot sein wird, oder einen Vogel zu retten, oder einem Kind, das du nie wiedersehen wirst, ein Buch vorzulesen – jede dieser Handlungen ruckelt ein wenig am Universum und zieht auf mysteriöse Weise eine schönere Welt an.

Jede dieser Entscheidungen lädt andere dazu ein, in gleicher Weise zu handeln. Und so wächst die unsichtbare Bruderschaft. Keine Tat ist umsonst. Dein Herz weiss, dass alles zählt.

Religiöse Mystiker drücken diese Erkenntnis mit dem Satz «Gott sieht alles» aus. Wir haben den Grossen Bruder an die Stelle des ewigen Beobachters gesetzt und somit einen neuen Gott ermächtigt, einen kontrollierenden, richtenden und strafenden, hassenden und rächenden Gott; einen Sklaventreiber, gegen den wir ewig rebellieren und von dem wir immer wieder aufs Neue gerichtet werden.

Die «Revolution» ersetzt diesen falschen Gott durch einen wahrhaftigen. Gott ist Liebe. Die Revolution ist unzerstörbar. Keine Macht, nicht einmal die Macht der Partei, kann sie besiegen. Ihr Sieg ist gewiss, solange wir uns alle von ganzem Herzen darauf einigen.

Es gibt also doch eine ausgleichende Kraft, die jeden einzelnen von uns beseelt und in jedem einzelnen von uns lebendig ist, die wir der Bruderschaft und Schwesternschaft der Liebe angehören.

Die Partei behauptet ihre Herrschaft durch endlosen Krieg, endlosen Hass, endloses Streben nach Macht. Wenn wir im Namen des Friedens Krieg führen, im Namen der Liebe hassen und zum Wohl der Allgemeinheit Macht anstreben, schliessen wir uns ihr an, und sollte es uns gelingen, die Partei mit diesen Mitteln zu stürzen, dann werden wir selbst zur Partei.

Aber es gibt einen Weg, die Herrschaft der Partei zu beenden. Es geht nicht darum, sie zu stürzen. Wir müssen sie unterwandern und ihre DNA verändern, und zwar mit einer Macht, die anders ist als die, die O’Brien beschrieben hat. Während die Partei unter Macht die Macht versteht, andere leiden zu lassen, deutet die Revolution sie als eine Macht, Menschen einzuladen, zu ihrer Wahrheit, ihrer Liebe, ihrem Mut und ihrer Bestimmung zurückzufinden. Diese Macht agiert spiegelbildlich zu Doppeldenk.

Während Doppeldenk Geschichte und Wahrheit trennt, führt sein Spiegelbild sie zusammen. Wir sind bemüht, eine schöne und wahre Geschichte über unsere Mitmenschen zu erzählen, und wenn wir an dieser festhalten, wird sie zur Einladung, zu einem Gefäss, das der Eingeladene ausfüllen kann. In dieser Geschichte heisst es: «Ich kenne dich, Bruder. Ich weiss, wer du wirklich bist. Ich weiss, warum du hier bist. Ich kenne dich als jemanden, der das Leben liebt. Ich kenne dich als jemanden, der zu mutigem Handeln fähig ist. Ich kenne dich als jemanden, der es schafft, dem zu dienen, was er liebt, auch wenn er mit dem `Schrecklichsten auf der Welt´ konfrontiert wird.»

Darum geht es in der Bruderschaft. Das ist die Grundidee vom gesunden Menschenverstand – an der Wahrheit dessen festzuhalten, was wir wirklich sind. Das Menschenbild der Partei ist nicht die Wahrheit. Wir sind keine feigen, selbstsüchtigen, getrennten Individuen, deren Wille im Interesse des Fortschritts gebrochen und dem grossen Ganzen untergeordnet werden muss. Diese Möglichkeit besteht, ja, und die Partei macht sie durch ihr Narrativ zur Realität.

Doch noch eine andere Möglichkeit ist im Menschen angelegt, welche die Bruderschaft mit ihrem Narrativ ebenfalls zur Realität macht, indem sie an ihrer Wahrheit festhält. Es ist die Möglichkeit, dass wir Liebe sind – bereit, unsere Gaben einer Sache zu widmen, die grösser ist als wir. Eine Bruderschaft, die an dieser Wahrheit festhält, ist tatsächlich ein Bündnis, denn wir tun es vor allem füreinander. In dem Masse, in dem wir diese Wahrheit hochhalten, sind wir Brüder und Schwestern der Revolution, der Wiedervereinigung, der Wiederkehr.

Indem wir den gesunden Menschenverstand füreinander bewahren und füreinander an der wahren Geschichte festhalten, die erzählt, wer wir sind und warum wir hier sind, lernen wir, dies auch für alle anderen zu tun. Wir lernen, es selbst für diejenigen zu tun, die zu Zielscheiben des «Zwei-Minuten-Hasses» werden und die wir im Namen der Liebe hassen sollen. Wir mögen weiterhin mit ihnen kämpfen, aber nicht, weil wir sie als unverbesserlich abgestempelt haben. Wir werden ihren Sinneswandel stets begrüssen, ihn sogar erwarten. Denn ein Teil der schönen und wahren Geschichte, an der wir festhalten, besagt, dass wir eines Tages alle zurückkehren werden. Diese Revolution kann nur erfolgreich sein, wenn jeder an ihr teilnimmt. Jeder wird eines Tages zu den Reihen der Bruderschaft gehören.

Ja, bis das geschieht, mag in der Tat so viel Zeit vergehen, wie Orwell sagt. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass unsere Eliten – so vergiftet von der Macht, so zynisch, so geübt in Doppeldenk und gewöhnt an das Leid der Welt – kurz vor einem Sinneswandel stehen könnten.

Moment, das nehme ich zurück. Ich BIN so naiv, das zu glauben. Wer bin ich, andere Menschen einfach aufzugeben? Wer bin ich, jemanden für verloren zu erklären? Die Partei hält im Grunde genommen jeden für verloren, denn für sie wird jeder – im Angesicht von Raum 101 – mit Sicherheit das verraten, was er liebt.

Die Bruderschaft sieht das genau umgekehrt: Sie ist der Meinung, dass jede Seele – eines Tages – zu ihrer göttlichen Natur zurückfinden wird – zur Liebe. Diese Möglichkeit halten wir, wenn nötig voller Naivität, für jedermann offen. Auch wenn es nicht zu unseren Lebzeiten und auch nicht in zehntausend Jahren geschieht, halten wir sie dennoch offen. Wir halten sie für jede Person und somit für alle Menschen offen und prophezeien eine Zukunft, die auf einer neuen Geschichte des Menschseins basiert. Diese Möglichkeit verschwindet nur, wenn wir sie aufgeben. Vielleicht werden wir tatsächlich nur als eine Handvoll Staub und Knochensplitter an einer solchen Zukunft teilhaben. Die Zeit spielt kaum eine Rolle, unsere Aufgabe ist dieselbe.

Betrachten wir die Machenschaften der Macht in der heutigen Zeit, so scheint die Revolution der Liebe, die ich beschrieben habe, in weiter Ferne. Doch vielleicht ist sie viel, viel näher, als es scheint. Das Erwachen findet statt, unsichtbar für uns. Das Innere der Partei ist voll von schlummernden Überläufern. Ein neues und uraltes Bewusstsein dringt durch die Erde nach oben. Vielleicht trägt die langwierige, einsame Arbeit unserer Vorfahren, deren Staub und Knochen zu Erde wurden und deren Tränen sie bewässerten, in unserer heutigen Zeit endlich Früchte.


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Übersetzt von Janet Klünder und Kristina Kanders, korrekturgelesen von Vanessa Gross und Christoph Peterseil. Die englische Originalfassung dieses Textes wurde am 14. Dezember 2022 veröffentlicht und ist hier zu finden. Dieser Text ist der sechste und letzte Teil des Essays.

30. April 2023
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