In Teil 4 seiner (sechsteiligen) Reihe über das Böse geht Charles Eisenstein auf die Spaltung in unserer Gesellschaft in Gut und Böse ein – und was geschieht, wenn wir bereit sind, für das «Gute» etwas «Böses» zu tun. Wieder dient ihm Orwells Roman «1984» als Quelle.

Gemälde von Anna Kramer

Anmerkung des Autors: Dieser Teil ist das Herzstück des Essays. Wenn du nur einen Teil lesen willst, dann sollte es dieser sein. Hier sind die Teile 1, 2 und 3 zu finden.


Wütend, einsam oder unterdrückt, sehnen wir uns, so wie Winston (im Roman «1984»), nach einer Bruderschaft, nach einer Gegenbewegung, der wir uns anschliessen können und die über die Mittel verfügt, der Machtclique, der Maschinerie, der Matrix oder schlicht dem, was wir als Quelle des Unrechts identifizieren, den Kampf anzusagen. 

Wir sehnen uns nach Gemeinschaft und nach Trost. Wir wünschen uns eine Autorität herbei, die alles wieder zum Guten wendet. Wir sehnen uns nach einer Vaterfigur, einem Gott, der für die Guten eintritt und die Sündhaften bestraft. Wir sehnen uns nach einem Grossen Bruder.

Diese Sehnsucht zeugt davon, dass wir das, was O’Brien über die Natur der Bruderschaft erklärt hat, nicht wirklich verstanden haben. Sie ist keine Organisation im üblichen Sinne. Die Art von Verbundenheit, die wir suchen, kann man nicht unter den Mitgliedern irgendeiner Organisation finden. 

Wir wollen an etwas teilhaben, das grösser ist, als jede Organisation es sein könnte. Personen oder Organisationen können nur in dem Masse Teil der Bruderschaft sein, wie sie sich der Liebe, der Wahrheit und der Schönheit verschreiben – und zwar als Mittel und nicht als Zweck. Auf diesem Prinzip basiert die Mitgliedschaft in dieser unsichtbaren Organisation. Man erkennt den anderen an seiner Hingabe. Alle anderen revolutionären Bruderschaften sind Fälschungen.

Je absurder diese Meinung, desto stärker wirkt sie als Loyalitätsbeweis.

Konzepte wie Gut und Böse entspringen sozialen Dynamiken von Zugehörigkeit und Ausgrenzung. Eine Möglichkeit, seine Zugehörigkeit zur «anständigen Gesellschaft» zu signalisieren, besteht darin, sich zur vorherrschenden Meinung zu bekennen und somit seine Loyalität zur Gruppe unter Beweis zu stellen. 

Je absurder diese Meinung, desto stärker wirkt sie als Loyalitätsbeweis. Einfacher ausgedrückt: Man stellt seine Tugendhaftigkeit unter Beweis, indem man sich an die in der Gruppe geltenden Tabus und Rituale hält. Diese grundlegende Tendenz zum Gruppenzusammenhalt machen sich totalitäre Regime gerne zu Nutze. Wer regeltreu ist, macht mit. Wer mitmacht, ist gut. Wer widerspricht oder rebelliert, ist dementsprechend böse.

Darum suchen wir Andersdenkenden uns unsere Subkulturen, in denen wir uns dank unseres Berufes oder unserer Meinung wieder als die Guten erfahren können. Diese Gemeinschaften mögen uns zwar helfen, ein systemkritisches Glaubenssystem beizubehalten. Doch bergen sie Gefahren.

Sie vermitteln uns nämlich stillschweigend das Gefühl, dass wir die Guten sind, und agieren somit wie ein Schatten der Partei selbst, die ja dieselben psychosozialen Kräfte einsetzt, um das Volk zu gefügigen Marionetten zu machen. Sobald wir in der Bruderschaft eine Bestätigung für unser gutes, richtiges und tugendhaftes Benehmen suchen, sind wir im Grunde schon einem geheimen Zweig der Partei selbst beigetreten.

Das wird klar, wenn man sieht, wie schnell die Subkulturen der Andersdenkenden aus der Systemkritik, die ihre Mitglieder verbindet, eine neue Gruppentreue macht. Verstösst man gegen diese gruppentreue Systemkritik, so wird man auf der Stelle aus der Gruppe ausgestossen. Man wird von den einstigen Kameraden gemieden. Alle Spuren einer Verbindung werden beseitigt. Und so wird man zu dem, was Orwell als Unperson bezeichnete.

Die polemischen Internetseiten, auf denen voller Wut die Schrecken des Imperiums, des ökologischen und kulturellen Verfalls, des Krieges, des Gesundheitssystems, des Schulsystems, des Rechtssystems und nahezu aller Institutionen unserer Zivilisation beschrieben werden, sagen – so denke ich – faktisch die Wahrheit. Zumindest sind sie näher an der Wahrheit als das von den Mainstream-Medien präsentierte Narrativ. Ich habe mir solche Webseiten früher oft angesehen, um immer und immer wieder in Rage zu geraten. Sie gaben mir ein Gefühl der Zugehörigkeit. Wir sind die Wissenden. Wir sind die Guten. Wir sind «die Partei».

Obschon die polemischen Internetseiten faktisch recht haben mögen, gibt es eine tiefe abstrakte Ebene, auf der sie nicht ehrlich sind: Auch sie sind Institutionen der Partei, was wohl der Grund dafür ist, dass sie toleriert werden. Alles, was Hass schürt, passt perfekt in den Plan der Partei. Selbst die fanatische Kritik an ihren eigenen Institutionen. Die Partei lebt von der Spaltung der Welt in zwei entgegengesetzte Kräfte, in Gut und Böse. Jeder, der im abstrakten Sinne gegen das Böse und für das Gute kämpft, als Mittel zum Zweck sozusagen, ist ein Soldat der Partei.

Orwell macht klar, dass Krieg für den Machterhalt der Partei unabdingbar ist. Dadurch, dass der Feind immer wieder ein anderer ist, verdeutlicht er, dass es nicht wichtig ist, gegen wen Krieg geführt wird. Es muss einen Feind geben, im Innen und im Aussen. 

O‘Brien, der Winston vernimmt, sagt: «Den Ketzer, den Feind der Gesellschaft wird es immer geben, damit er immer wieder niedergeworfen und gedemütigt werden kann. Alles, was Sie durchlitten haben, seit Sie uns in die Hände gefallen sind – all das wird weitergehen und noch schlimmer werden. Die Bespitzelung, die Verrätereien, die Verhaftungen, die Folterungen, die Hinrichtungen, die Verschleppungen werden niemals aufhören. Es wird sowohl eine Welt des Schreckens als auch eine Welt des Triumphs sein. Je mächtiger die Partei, desto härter der Despotismus. Goldstein und seine Irrlehren werden ewig existieren. Jeden Tag, jeden Moment werden sie umgestossen, angezweifelt, verlacht, angespuckt werden – und doch werden sie weiter bestehen.»

Ist «deine» Bewegung für den Wandel da anders? Braucht sie einen Feind, um sich selbst zu erkennen? Ist sie süchtig nach Bösewichten? Wenn ja, dann ist auch sie ein Teil der Partei.

Die Partei der realen Welt, die Orwell zur Partei seines Romans kondensiert, reicht tiefer und weiter, ist durchdringender und schleichender, als jede andere Organisation es sein könnte. Sie ist der Urheber dieser Spirale der Hässlichkeit, die heute einen Höhepunkt erreicht hat. 

Aber diese inszenierende Macht ist nicht bloss eine Gruppe von Menschen. Sie ist auch eine Reihe von Mustern und Ideologien, die so tief mit dem modernen Denken verwoben sind, dass man ihrer kaum gewahr wird. Wir akzeptieren diese, ohne sie zu kennen, und tragen, indem wir uns an sie halten, zu eben den Phänomenen bei, die wir verachten. Wenn die Partei von einem im Untergrund agierenden Arm der Partei gestürzt wird, wer ist dann weiterhin an der Macht? Die Partei.

Es mag an der transhumanistischen Natur der Inszenierung des Bösen liegen, dass wir so gewillt sind, ein Narrativ zu erschaffen, in dem die Täter entweder humanoide Kreaturen (böse Ausserirdische, die «Reptiloiden») oder Menschen mit Zugriff auf übermenschliche Technologien, Fertigkeiten und Informationen sind. An diesen Mythen ist etwas Wahres dran.

Die Partei ist also mehr als eine Organisation. Sie unterwandert zwar fast jede Organisation der Gesellschaft, ist jedoch selbst keine solche. Das entspricht nicht ihrem Wesen. Ebenso wenig ist die Bruderschaft, die die Partei zu stürzen sucht, eine Organisation. Orwell sagt es ausdrücklich: «Sie ist keine Organisation im üblichen Sinne.» Jedoch kann auch sie die öffentlichen Organisationen unserer Welt unterwandern.

Woran können wir also erkennen, welche Seite die Oberhand hat? 

Wenn eine Organisation von dir verlangt, dich vorübergehend versklaven zu lassen, um der Welt die Freiheit zu schenken; wenn sie von dir verlangt zu lügen, um eine Welt der Wahrheit zu erschaffen; wenn sie dich Krieg führen lässt, um Frieden zu schaffen, oder dir sagt, du müssest im Namen der Liebe hassen, dann weisst du, dass sie nicht zur wahren Bruderschaft gehört. 

Wenn du dich darauf einrichten musst, etwas zu tun, das du eigentlich nicht tun willst, dann bist du nicht in der Bruderschaft. Denn Sklaverei im Namen der Freiheit, Lüge im Namen der Wahrheit, Krieg im Namen des Friedens, Hass im Namen der Liebe – all das sind Merkmale, an denen du erkennst, dass hier die «Partei» herrscht. Ja, es sind sogar ihre zentralen Wahlsprüche. 

In ihrer Essenz unterscheiden sie sich nicht von all den Rationalisierungen, die die Räder der weltverschlingenden Maschinerie schmieren. Man findet immer einen Grund, eine Rechtfertigung für die Trockenlegung dieses Feuchtgebietes, die Rodung jenes Waldes oder dafür, dass diese Bombe abgeworfen werden muss. 

Wir handeln gegen unser Herz und verraten unsere Integrität, um das zu tun, was – so reden wir uns ein – praktisch und notwendig ist. Und dann versuchen wir, unser Tun mit dem Verstand zu rechtfertigen. 

Die Revolution der Bruderschaft ist tiefgreifender. Es geht bei ihr nicht darum, nur ein neues Ziel mit denselben alten Methoden umzusetzen. Sie beginnt mit einem lauten NEIN! zu allem, was, wie Winston es wehmütig nennt, «das Menschsein» gefährdet. O‘Briens Rekrutierung von Winston und Julia in die falsche Bruderschaft wird demnach als Betrug entlarvt: eine Falle, oder vielleicht die Rekrutierung in eine Untergruppe der Partei selbst:

«Sie sind bereit, Morde zu begehen?»

«Ja.»

«Sabotageakte zu verüben, die vielleicht den Tod von Hunderten unschuldiger Menschen herbeiführen?»

«Ja.»

«Ihr Land an fremde Mächte zu verraten?»

«Ja.»

«Sie sind bereit, zu betrügen, zu fälschen, zu erpressen, Kinder zu korrumpieren, Drogen in Umlauf zu bringen, zur Prostitution zu animieren, Geschlechtskrankheiten zu verbreiten – kurz: alles zu tun, was zur Demoralisierung beiträgt und die Macht der Partei schwächt?»

«Ja.»

«Wenn es beispielsweise unseren Interessen dienlich wäre, einem Kind Schwefelsäure ins Gesicht zu schütten – wären Sie dazu bereit?»

«Ja.»

In der Politik ist es heute üblich, dass professionelle Ethiker sich alle möglichen Situationen ausdenken, um dich dazu zu bringen zu bejahen, dass du die Folter oder den Tod unschuldiger Menschen unter gewissen Voraussetzungen sehr wohl in Kauf nehmen würdest. 

Stell dir vor, eine Atombombe ist kurz davor, eine ganze Stadt zu zerstören. Das Wissen um ihre Entschärfung ist in den Händen eines Terroristen und kann nur durch Folter erlangt werden. Wenn du das gutheisst, heisst du alles gut. Du stellst den Verstand über das Herz, obwohl an dieser Stelle der Verstand nicht gefragt ist. 

Der Verstand hat seine eigenen Kompetenzen, und das Treffen moralisch richtiger Entscheidungen ist keine davon. Menschen, die Wälder roden und Ethnien ausrotten, sind sehr rational. Ihre Entscheidung darüber, was für das Wohl der Allgemeinheit das Richtige ist, beruht auf logischen Schlussfolgerungen, die sich aus ihren Prämissen ergeben. 

Natürlich können wir ihre Prämissen anfechten und zum Beispiel sagen: «Nein, die Reinheit der Rasse dient nicht dem Allgemeinwohl, sondern Diversität und Gleichberechtigung tun es.» 

Doch wenn wir zielgerichtete Vernunft als Freibrief für das Böse im Namen des Guten akzeptieren, dann rechtfertigen wir damit eine Prämisse, die noch tiefer liegt.

Schau dir an, wie die Gegenseite dargestellt wird.

Man könnte sich einen alternativen Roman vorstellen, in dem O’Briens Fragen ein Test sind und die richtige Antwort auf jede einzelne davon ein «Nein» ist. Man könnte 1984 dahingehend interpretieren, dass O’Brien in Wirklichkeit ein Agent der wahren Bruderschaft ist, der nach Rekruten sucht und diese – wenn sie sich nicht qualifizieren – in seiner Funktion als Inquisitor der Partei ausschaltet und so seine Tarnung aufrechterhält. 

Nur wer antwortet: «Ich werde nichts Böses im Namen des Guten tun, egal was passiert», wird als Mitglied der wahren Bruderschaft anerkannt.

Mit anderen Worten: Die Bruderschaft, so wie Winston sie verstand, war nicht die wahre Bruderschaft, sondern der Spiegel der Partei, eine weitere Partei. Dieselbe Partei.

Heute spaltet sich die Infosphäre nach und nach in sich gegenseitig bekriegende Lager auf, von denen alle dieselben Taktiken nutzen, um den anderen zu diffamieren. Sie schütten zwar nicht wirklich Säure in das Gesicht eines Kindes. Aber im übertragenen Sinne tun sie es doch. 

Schau dir an, wie die Gegenseite dargestellt wird. Wie die linken Medien absichtlich die unvorteilhaftesten Fotos von rechten Politikern wählen und wie die rechten Medien dasselbe mit linken Politikern machen. Die parteiischen Medien und die Verstärkung, die sie durch die Social-Media-Plattformen erhalten, laden ununterbrochen zu einem Orwell’schen «Zwei-Minuten-Hass» ein. Die wahre Alternative zur Partei kann nicht eine Gruppe sein, die ein Hassobjekt durch ein anderes ersetzt.

Paradoxerweise ist der wahre Revolutionär – der, der nicht morden, sabotieren und keine Säure in das Gesicht eines Kindes schütten würde – für die herrschende Macht relativ unsichtbar. Darum stehen unsere Chancen gut. Wir müssen nicht beweisen, dass wir die Stärkeren sind. Es reicht, wenn wir «den Bereich, in dem der gesunde Menschenverstand regiert, Schritt um Schritt ausweiten». In den letzten beiden Teilen dieses Essays möchte ich den «gesunden Menschenverstand» und seine beiden Seiten – die Wahrheit und die Liebe – unter die Lupe nehmen.

 


c

Übersetzt von Janet Klünder, korrekturgelesen von Vanessa Gross und Christoph Peterseil. Die englische Originalfassung dieses Textes wurde am 14. Dezember 2022 veröffentlicht und ist hier zu finden. Dieser Text ist der vierte Teil eines sechsteiligen Essays. Hier sind die Teile 1, 2 und 3 zu finden.