Liedermacher: Die nächste Generation

Mit der Liedermacherszene ist es ja wie mit dem deutschen Tennis. Den Glanz der Altmeister erreicht vorerst noch niemand. Dabei fehlt es im deutschsprachigen Chanson weder an brisanten Themen noch an echten Talenten.

„Die Matrix ist Realität, auch wenn ihr sie nicht seht.“ Der Song der Duisburger Band „Die Bandbreite“ meint natürlich nicht unsere Zeitschrift, sondern den berühmten Kinofilm „The Matrix“ mit Keanu Reeves. Ganz im Geist des Films dichtete Bandbreite-Texter Marcel Wojnarowicz (bekannt als Wojna): „Wir hängen an den gleichen Schläuchen. Es scheint als thronte irgendwo hier eine heimliche Zunft. Stets im Kampf um den Profit und gegen die Vernunft. Sie stutzt die Geister sich zurecht, so dass hier keiner mehr schreit. Die Herrschaft manifestiert so wie Orwell es beschreibt.“



Wojna ist ein gutes Beispiel für neue deutschsprachige Textkultur. Stets hart am Puls der Zeit, ist ihm kein Eisen zu heiß. Ob es um den Vertrag von Lissabon geht, um Schäubles Überwachungsstaat oder den Verdummungsjournalismus des „Spiegel“ – alles wird zum Stoff für ein Lied. Dafür gab’s für die Bandbreite mächtig Ärger und den Vorwurf, „Verschwörungstheorien“ zu verbreiten. Die brave IG Metall verbot den Provokateuren, bei ihren Veranstaltungen aufzutreten. Die nervösen Abwehrreaktionen der Etablierten haben ihren Grund. Über den 11. September 2001 etwa sang die Bandbreite an die Adresse der US-Regierung: „Habt ihr das vielleicht selbst gemacht?“ – und brachte zahlreiche Belege für diese These in einem kurzen Lied unter. Musikalisch bietet die Band „Polit-Pop“ mit Rap-Einlagen, süffig vertont und mit witzigen Filmchen im Internet präsentiert. Bei allen stilistischen Unterschieden fühlt man sich durch diese Art der musikalischen Aufklärungsarbeit an ein fast vergessenes Phänomen erinnert: die deutschen Liedermacher.



Roman in drei Minuten



Die hatten ihre große Zeit vor allem in den 70er, als der kulturelle Impuls der 68er-Bewegung abflaute und die Nation in eine Phase der Restauration eintrat. Für viele Urgesteine der Szene war es damals Ehrensache, sich zu Kommunismus oder Sozialismus zu bekennen. Dieter Süverkrüp, Franz Josef Degenhardt und Hannes Wader gehörten zu den Kämpfern der ersten Stunde. Mit dem sanfteren Reinhard Mey erreichte die Liedermacherkunst die bürgerlichen Wohnzimmer, ohne an Substanz einzubüßen. Konstantin Wecker, der jüngste der „Klassiker“, bereicherte die Szene um einen farbigeren, an der Klassik geschulten Sound und unbändige Lebenslust. Damals waren Liedermacher en vogue, „Willy“ oder „Über den Wolken“ wurden im Radio gespielt. Schon in den 80ern wurde es jedoch stiller um die Liedheroen.



Zu ihren Vorbildern gehörten die Minnesänger des Mittelalters wie auch das deutsche Kunstlied eines Franz Schubert. Nicht zuletzt waren es die großen französischen Chansonniers wie Jacques Brel oder George Brassens, die den Deutschen zeigten, wie man literarische Texte mit gefälligen Melodien zu einem Gesamtkunstwerk vereinigen konnte. Das gelungene Chanson, sagte Jacques Brel, sei der Stoff eines Romans, verpackt in einen aufs äußerste konzentrierten Vortrag von drei Minuten. Der Begriff „Liedermacher“ ist nichts anderes als der Versuch einer Übersetzung von „Chansonnier“. In den USA nennt man vergleichbare Künstler „Folksänger“ (z.B. Bob Dylan) oder allgemeiner „Singer/Songwriter“. Die Begriffe sind weniger mit dem Nimbus des Anspruchsvollen versehen als die Chansonkultur Frankreichs oder Italiens.



„Nicht weil es euch gefällt“



Liedermacher verstanden sich vor allem als Kontrastprogramm zur unerträglichen Schlagerseichtigkeit der unmittelbaren Nachkriegsjahre. Mangelnde Authentizität, Unaufrichtigkeit und Fremdbestimmtheit gehören zu den Hauptvorwürfen gegen die Rex Gildos und Roy Blacks. Eine „Sangesmaschine“ ist der fiktive Schlagersänger in einem Lied Konstantin Weckers: „Ich singe, weil ich ein Lied hab, nicht weil es euch gefällt“. So gesehen ist das Chanson „Anti-Pop“, der bewusste Verzicht auf Gefälligkeit bis hin zur kalkulierten Provokation. Der Liedermacher ist ein Rebell gegen die allgegenwärtige Kommerzialisierung der Kulturszene, und er zahlt dafür manchmal einen schmerzlichen Preis in Form finanzieller Nöte. Aber: „Lieber allein und wieder auf der Straße sein als gestriegelt und gebügelt so wie die ein Händler zu sein.“ (Klaus Hoffmann).



Gibt es diesen Geist heute noch? Er scheint in einer profitorientierten und zynischen Epoche überholt. In einer Ranking-Show des Privatfernsehens wurde unlängst DJ Ötzis „Ein Stern das deinen Namen trägt“ zum Lied des Jahrzehnts gewählt. Gewiss gab es schon immer Kitsch und schlechte Lieder; nie wurde das Engagement für eine bessere Welt jedoch so schamlos als „Gutmenschentum“ verspottet, wurde die Gleichschaltung des Musikmarkts so systematisch vorangetrieben wie in den letzten beiden Jahrzehnten. Im Schatten dieses kollektiven Wahnsinns aber haben die Dinosaurier des Chanson überlebt. Wenn die Öffentlichkeit so tut als hätten Wecker, Wader und Mey ihr Lebenswerk wie Hans Albers längst abgeschlossen, beruht dies schlicht auf Unkenntnis. Hat man sich Reinhard Meys „Die Waffen nieder“ wirklich angehört? Oder Konstantin Weckers „Schlendern“? Oder André Hellers bewegendes Porträt eines Holocaust-Überlebenden, „Leon Wolke“?



Prinz Chaos lebt den Hippie-Traum



Abgesehen davon, dass die „Alten“ gar nicht daran denken, abzutreten, gibt es aber auch erfreulich viele neue Talente in der Liedermacherszene. Das politische Lied kommt wieder. Die Häufung der Zumutungen, die uns durch Politik und Wirtschaft täglich präsentiert werden, mag zu diesem Trend beigetragen haben. Einer der jungen Liedermacher nennt sich Prinz Chaos II. Seine Frisur gleicht eher der eines japanischen Samurais. Die von ihm kreierte Regierungsform heisst „Anarcho-Monarchismus“. Sein Projekt ist die Gründung einer „Autonomen Republik Südthüringen als Zielzone eines linksspirituellen Siedlungsprojektes“. Zu diesem Zweck hat der Prinz jetzt sein Schloss gekauft: Weitersroda. Nebenbei ist Prinz Chaos II. Dichter und Liedermacher, noch dazu ein guter. Es gibt von ihm ein Video, auf dem er seine Vision besingt: „In Weitersroda – schlag ich Wurzeln wie ein Baum, leb den alten Hippie-Traum.“



Eine linke Künstlerkolonie zu schaffen, mit Ausstrahlungskraft weit über die Grenzen Thüringens hinaus – der Prinz hält dies für realistisch. Er ist stolz darauf, dass Schloss Weitersroda im Herzzentrum Deutschlands liegt. Vom „Herzen“ aus könnten kulturelle und links-anarchistische Impulse in den Blutkreislauf eines erstarrten Landes eingespeist werden. Zum Dreh- und Angelpunkt des Projekts sollen sich jährlich stattfindende Liedermacherfestivals auf dem Schloss entwickeln. Weitersroda könnte eine „Hochburg des Liedermachings“ werden und somit die Nachfolge der legendären Burg Waldeck antreten. Dort fanden in den späten 60ern Musikfestivals statt, auf denen Leute wie Reinhard Mey und Hannes Wader entdeckt wurden.



Heinz Ratz: Die Armut hat Kraft



Zu den sperrigsten, aber auch begabtesten jungen Liedermachern gehört Heinz Ratz, von dem der folgende Text stammt: „Sie kommen aus ihren Löchern wie Ratten, die Blicke voll Elend und Hilflosigkeit. Da klettert die Angst über eure Krawatten, bis ihr nach Schutz und Sicherheit schreit.“ Die Sprache des Sängers ist hart. Aber hart ist schliesslich auch das, worum es geht: die erbarmungslose Not inmitten unserer Glitzerstädte. Mit seinem „Lauf gegen die Kälte“ 2008 wollte Ratz auf das Schicksal der Wohnungslosen aufmerksam machen. Einen Monat lang wanderte er zu Fuß von Dortmund bis München und trat abends mit seinen Liedern auf. Eintritt frei, Spenden für Betroffene erbeten. Aus der einmaligen Aktion wurde ein „moralisches Triathlon“. 2009 durchschwamm Heinz Ratz die deutschen Flüsse – um auf das Artensterben aufmerksam zu machen. Für 2011 ist die dritte Etappe geplant: Da möchte sich Heinz Ratz aufs Fahrrad schwingen. Sein soziales Thema: ein menschlicherer Umgang mit Flüchtlingen.



Heinz möchte das schlafende soziale Bewusstsein vieler Menschen aufwecken, Leuten Mut machen, die spüren, dass etwas nicht stimmt in unserer Gesellschaft. Der Künstler redet vor dem Hintergrund persönlicher Betroffenheit. Er lebte, als er 24 war, ein Jahr lang selbst als Obdachloser. Heinz Ratz’ leidvolle persönliche Erfahrungen haben auf sein Schaffen abgefärbt. Man kann seine Verse düster nennen – oder einfach nur realistisch: „Wer Geld hat, greift nach höheren Rechten und feiert sich selber voll Leidenschaft. Aber hört ihr den Ruf aus den dreckigen Nächten? Auch die schlafende Armut, auch die Armut hat Kraft.“



Sebastian Lohse: Werde selber laut!



Das Manko bei einigen Liedermachern sind nicht die Texte, sondern ein gleichwertiges musikalisches Talent, eine eigenständige und differenzierte Musiksprache. Es macht insofern Mut, dass mit Sebastian Lohse jetzt ein junger Liedermacher durchstartet, der eine romantische Klangsprache mit dichten Arrangements und einer großer stilistischer Bandbreite vereint. Ironie und musikalische Parodie kommen in seinen Liedern zwar vor, Zynismus herrscht aber nicht als Grundhaltung. Lohse besitzt Wärme und Pathos. Er versteht es, ein Lied unscheinbar zu beginnen und die Intensität gegen Ende noch einmal gewaltig zu steigern, so dass das Lied einen Sog ausübt – fast wie bei Jacques Brels Crescendos.



Seine Band nennt sich „Die feine Gesellschaft“, Arrangements und Texte haben oft einen nostalgischen Anstrich. Der „Retro-Look“ ist aber kein Selbstzweck, sondern verweist stets auf die Gegenwart.  So dichtet Lohse: „Kleiner Mann, fang nicht zu jammern an. Sieh dir den Großen an, der hat auch seine Sorgen“. Offenbar ein Seitenhieb auf aktuelle Manipulationsstrategien, die Normalverdiener zum Stillhalten auffordern, während die großen Vermögen ins Unermessliche  wachsen. Den Künstler scheint ein tiefes Unbehagen über Zeitphänomene zu motivieren, die Mensch und Natur auf ihre ökonomische Verwertbarkeit reduzieren. Ein Unbehagen auch über die Phrasen der Verführer, der Einpeitscher und der Gleichschalter. Dahinter steht, wie bei allen guten Liedermachern, letztlich Liebe: zur Wahrheit, zur Freiheit und zum Lebendigen. Immer scheint unter Lohses Texten ein „Subtext“ vor, der sich jedoch nicht aufdrängt, sondern zum freien Assoziieren ermuntert. Gerade das unterscheidet ja Poesie vom gereimten Journalismus. Lohse biedert sich nicht selbst als Guru an, vielmehr schwingt in seinen Liedern eine Aufforderung zur Selbstermächtigung mit: „Und warte nicht auf Donner. Nein werde selber laut“.



Hüter des Feuers



Hier schließt sich auch der Kreis zu den Klassikern des Genres. Liedermacher wollen nicht das mangelnde Engagement ihrer Zuhörerschaft kompensieren, sondern zu Eigenaktivität anstacheln. Eine treffende Beschreibung des Unterschieds zwischen Popsängern und Liedermachern hat Dieter Schütt in seinem Vorwort zu einem Buch Konstantin Weckers geliefert: „Der Pop ist eine Einladung zur Selbstvergessenheit, Wecker lädt dazu ein, das eigene Ich einer Prüfung auszusetzen, bei der man zu sich selbst finden möge.“ Sicher gilt diese Charakterisierung nicht nur für Wecker. Liedermacher haben sich als „Hüter des Feuers“ erwiesen. Sie bildeten eine unterschwellige Strömung, die dem neoliberal-kommerziellen Mainstream in den „dunklen Jahrzehnten“ unermüdlich den Spiegel vorhielt.



Sie haben scheinbar nicht viel erreicht in einer Zeit, in der die Welt von Bankern, Konzernlenkern und Militärs verändert wurde, nicht von Poeten. Und doch klingt aus Jacques Brels hilflosem Aufruf zum Standhalten heute eine zeitlose Würde. „Wir haben nichts als ein Chanson, um die Kriegstrommeln zu übertönen.“  Konstantin Wecker trug in den frühen 80er, die Fackel weiter, als der Zeitgeist dem politischen, anspruchsvollen Lied so gar nicht gewogen war: „Was bleibt, ist diese kleine Glut des Widerstands zu wahren. Vielleicht muss sie mal Feuer sein in ein paar Jahren“. Das Feuer lodert gerade wieder auf. Und mit ihm die Inspiration der jungen Liedermacher.




Ein umfangreiches Archiv mit Musikvideos von Liedermachern sowie wöchentlich neue Beiträge finden Sie auf www.hinter-den-schlagzeilen.de (Herausgeber: Konstantin Wecker)



Liste von Liedermachern und deren Webseiten: http://www.liedermacher.kultur-netz.de/



Folgende Musikvideos zum Text können auf www.youtube.com durch Eingabe von Künstler und Titel aufgerufen werden:



Die Bandbreite: „Die Matrix“, „Angst vor Lissabon“, „Selbst gemacht“


Konstantin Wecker: „Ich singe, weil ich ein Lied hab“, „Willy“, „Schlendern“


Reinhard Mey: „Über den Wolken“, „Die Waffen nieder“


Hannes Wader: „Es ist an der Zeit“


Klaus Hoffmann: „Händler“


Prinz Chaos II.: „Weitersroda“


Heinz Ratz (Strom und Wasser): „Leise treten die Leisetreter“


Sebastian Lohse: „Kleiner Mann“, „Das Brunnenlied“


Jacques Brel: “Quand on n’a que l’amour”







02. Mai 2011
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