Mehr Freiheit auf der Endstation!

Ein Altersheim am Rande einer Kleinstadt, sittsam ins Grün platziert, ein Parkplatz, eine formvolle Hecke, ein Blumenbeet. Danach beginnt das Grauen. Es könnte aber auch ganz anders sein.

Niemand wollte es so, und doch findet es immer wieder statt: Ein Haus voller Gestrandeter, versorgt in Einzelzimmern, aufgereiht an langen, gebohnerten Fluren. Man sieht sie herumschlurfen, das Gesicht eingerollt in ihr Schicksal, die Aufmerksamkeit auf das Wenige gerichtet, das noch zu ihnen durchdringt. Es ist ein Lazarett der Verlorenen, ein Abstellgleis der Ausgemusterten, eine architektonische Euthanasie. Um 17.30 Uhr gibt’s das Abendessen, wer kann, gelangt bis in den Speisesaal, die anderen bekommen es aufs Zimmer.

Niemand wird behaupten, dass man sich aufs Altersheim oder Pflegeheim freut. Es ist eine Lösung, wenn es sonst keine Lösung mehr gibt, eine Lösung für das Unlösbare. Man wird dem Schicksal ausgeliefert, hygienisch verwahrt, sittsam begleitet beim letzten Gang ins Nirgendwo. Auch wenn all die Menschen Grossartiges leisten, die dort arbeiten und wirken, muss doch die Frage gestellt werden: Gäbe es nicht eine Architektur, die diesem Lebensabschnitt näher käme als das Modell der Entsorgung auf hohem technischem Niveau?
Nachdem ich nicht wirklich alt bin, folgt nun eine Kaskade des Spekulativen, dem man jederzeit innerlich entgegentreten darf. Fragt man sich aber selber, wie man denn gerne alt werden würde, tauchen Bilder auf: der Tee am Kaminfeuer, die Aussicht auf den See, das Kartenspiel mit den anderen «Jungs», der Filmabend für Schwerhörige samt Popcorn und Nummerngirl oder der Gang in den Garten, wo Himbeeren und Boskop in den Weg hineinragen.

Altsein ist in meiner Vorstellung wie Jungsein, aber langsamer, direkter. Während man früher nach Rio flog, hat man nun Rio in sich drin und will es gerne teilen. Die neuen Alten sind voller Eindrücke und voller Geschichten und brauchen eine Umgebung, in der diese anklingen dürfen. Der Sandstrand ist das Sofa am Kamin, der Caipirinha dampft aus dem Teekrug und die Augen der lächelnden Pflegerin erzählen von lauen Nächten im Hafenviertel.
Für all das braucht es Räume, braucht es Orte, sowohl für das Gemeinsame wie auch das Private. Weil aber die Welt in einem Gebäude stattfinden muss, muss das Gebäude wie eine Welt sein. Es soll keine Anstalt oder ein Hotel sein, sondern ein kleines Universum, das mannigfaltige Geschichten zum Leben bringen kann, subtil, dosierbar, zugänglich.

Mein Altersheim wäre um einen Marktplatz herum gebaut. Der Marktplatz wäre wie eine Halle im Grandhotel, überdacht, umringt von den Galerien, und einer umlaufenden Estrade, von welcher aus die Zimmer zugänglich wären. Diese Arena böte auf zwei oder drei Ebenen die Möglichkeit, am Geschehen auf dem Marktplatz teilzunehmen, direkt oder indirekt, indem man von oben zuschaut oder mit dem Lift nach unten kommt.
Alles, was sich in diesem Altersheim an Gemeinschaftlichem ereignet, spielt sich auf dem Marktplatz ab. Hier sind die Cafés und Restaurants, bedient von einer zentralen Küche, die in der Mitte des Marktplatzes liegt, von oben einsehbar. Hier kann man am Morgen schauen, wie das Mittagessen zubereitet wird, ja, man kann sogar hinuntergehen, bekommt eine Zwiebel zum Kleinhacken oder eine Kartoffel zum Schälen. Wenn angebraten wird, dann hört man das in der Halle, ja man riecht es vielleicht, trotz Dampfabzug.

Auch wenn es nur eine Küche gibt, kann man sich an unterschiedlichen Orten hinsetzen, um sich zu verpflegen. Es hat ein englisches Pub, ein französisches Bistro und einen Stammtisch, an dem Karten gespielt werden. Den Rauchern bietet sich eine Raucherecke an, den Damen eine Strickecke, daneben eine Bibliothek mit Büchern und Filmen, dazu abendlich eine Vorleserunde mit Freiwilligen aus dem Heim oder von auswärts.
Die Arena wäre der öffentliche Teil, das Zimmer der private. Die Balkone der Zimmer würden einen Blick auf Berge, See oder ins Stadtzentrum bieten. Im Erdgeschoss wäre die Verwaltung untergebracht, ebenfalls einsehbar von oben. Man würde die Direktorin beim Telefonieren sehen, den Briefträger, die Anlieferung der Würste. Vielleicht wäre noch ein Kindergarten oder eine Kinderkrippe im Erdgeschoss eingemietet. Oder ein Solarium. Oder eine Werkstatt für Oldtimer.

Es ist nicht so, dass die neuen Alten gesünder sind als die bisherigen Alten. Auch sie sind irgendwann reduziert und müde. Aber ein lebendiger Ort lässt sie wach bleiben, ja vielleicht selber am Leben teilnehmen und etwas einbringen. Das Altersheim wandelt sich von der Versorgungsanstalt zum kleinen Dorf. Zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen muss es halb Öffentliches geben: Sitzecken auf den Galerien, geschützte Bereiche, wo man ebenfalls essen kann. Bewohner sollten auch ein Element ins gemeinsame Dorf einbringen können: eine Whiskybar, einen Filmclub, ein Makraméstudio. Sie wären gesponsert von einzelnen Personen und würden ihnen Gelegenheit geben, die anderen an ihrer Erlebniswelt teilhaben zu lassen, auch wenn sie selber nur noch in beschränktem Masse Gastgeber sein können. Alle sollen nach ihren Möglichkeiten und Wünschen Teil dieses Dorfes sein.

 

Der Text stammt aus dem Büchlein «Von Städten und Menschen», das Paul Dominik Hasler aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums seines Büros für Utopien im Herbst letzten Jahres herausgegeben hat. Es kann für Fr- 12.– Franken bestellt werden bei

Büro für Utopien, Bahnhofstr. 14, 3400 Burgdorf, www.utopien.com

21. September 2017
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