Eine 22köpfige Reisegruppe, verteilt auf halb so viele Motorräder, ist auf einem Highway im Südwesten der USA unterwegs. Die Gruppe beschliesst eine kurze Rast am Rande des Highways. Da rast ein Truckfahrer, der für eine Sekunde unachtsam war, in die am Strassenrand parkierten Motorräder – und eines davon wird so gewaltsam zur Seite geschleudert, dass es einen der Reisenden trifft und ihn tötet.
Alle anderen 21 Reiseteilnehmer, die neben ihm stehen, bleiben unversehrt.
Der Mann, der auf dem Highway, wie von einem göttlichen Faustschlag getroffen, sein Leben verlor, war Steve Lee, Sänger der damals berühmtesten Schweizer Rockband. Keine andere Band war auch über die Landesgrenzen hinaus so bekannt wie sie. Ihr Name wird für immer in den Granit des Gotthard gemeisselt sein und für immer erinnern an ihren begnadeten Sänger. Sein Tod aus heiterem Himmel hat viele Menschen bewegt. Sie liebten seine Musik. Sie liebten ihn. Er war ein Star und der Nachbar von nebenan.
Doch das eigentlich Bewegende waren die Umstände dieses Todes.
Nur wenige sprachen es aus – doch allen, die es erfuhren, war klar, dass hier eine Lebensader in voller Blüte auf eine extreme, abrupte Weise durchtrennt worden war. Nur ganz Hartgesottene schenkten der bewegenden Nachricht ihr übliches Achselzucken und sprachen bedauernd und altklug wie immer von einem schrecklichen Zufall. Sehr viele andere Menschen jedoch stellten sich alle dieselben Fragen: Warum traf das Motorrad nur ihn? Warum musste er, ausgerechnet er sterben?
Und warum geriet der Getötete acht Wochen vorher in eine Auffahrkollision? Seine Frau wurde verletzt - er blieb verschont. War die Kollision ein Vorzeichen? Eine Ankündigung? Warf der Tod seinen Schatten voraus?
Man wurde den Eindruck nicht los, dass der Sänger von «Gotthard» ganz gezielt so tödlich getroffen wurde. Es war ein Tod wie ein Blitzschlag.
Wenn in früheren Zeiten der Blitz einen Menschen traf, sprach niemand von einem Zufall. Vielleicht gab es das Wort damals noch gar nicht. Vom Blitz getroffen zu werden, war eine so seltene, aussergewöhnliche Art, den Tod zu erleiden, dass die Menschen glaubten, ein derart Getöteter sei vom Himmel auserwählt worden.
Tod durch Blitzschlag wird heute als physikalisches Phänomen interpretiert – als eine Verkettung unglücklicher Umstände, die wissenschaftlich erklärbar sind. Das mag so sein. Die Menschen in der Vergangenheit besassen noch nicht das Wissen von heute. Was sie wussten, war vielleicht falsch, doch was sie empfanden, war richtig. Dasselbe können auch wir empfinden, auch heute noch. Wird ein Mensch so gezielt aus dem Leben gerissen, dann dürfen wir daran glauben, dass ihn der Himmel geholt hat.
Stefan Alois Lee, der damals 47jährige Sohn eines Briten und einer Schweizerin, wurde von seinen Freunden als bodenständiger und eher zurückhaltender, freundlicher Mensch ohne Starallüren beschrieben. Er galt als Rocker mit Anstand, der nicht nur an sich, sondern auch an die andern dachte. Vor seiner Rolle als Sänger bei «Gotthard» war er der Schlagzeuger in der Band, und nicht er selbst suchte das Scheinwerferlicht. Seine Bandkollegen ermutigten ihn zum Singen.
Steve Lee war ein gewöhnlicher Sterblicher wie wir alle – und vielleicht doch berufen zu einem höheren Auftrag. Manchmal passt ein Mensch in das Leben, das er gerade führt, nicht mehr hinein. Und an jenem 5. Oktober 2010 fand die himmlische Hierarchie offenbar, dass der Musiker nun bereit sei. Bereit und reif für eine neue Bestimmung. Für eine neue, ganz andere Lebensaufgabe.
Deshalb traf die durch die Luft geschleudert Todesmaschine ihn und nur ihn. Weil ihn der Himmel brauchte. Und wenn der Himmel jemanden braucht, jemanden, der «zu gut» ist für das, was er auf Erden tut, dann müssen wir Menschenkinder bescheiden zurückstehen. So sehr uns der Verlust dieses Mitmenschen weh tut. So unerklärlich und unfassbar uns sein plötzliches Ende erscheint.
Steve Lee hat der Welt einige wunderschöne Songs hinterlassen. Doch ebenso hinterliess er uns das Mysterium eines aussergewöhnlichen Todes.