Freie Fahrt auf engem Raum
Eine Flusskreuzfahrt führt ins Spannungsfeld zwischen der Freiheit des Reisens und dem Festsitzen an Bord.
Was mir als Erstes auffällt, ist der Desinfektionsmittelspender, der am Eingang freundlich zum Gebrauch einlädt. Als Zweites der riesige Kronleuchter, der im Foyer (ich arbeite noch an der nautischen Terminologie) hängt. Zu meiner Kabine im Hauptdeck hinten steige ich von dort zwei Treppen hinunter, wo mir das Wasser buchstäblich bis zur Oberkante Unterlippe steht. Völlig neues Schlafgefühl! Das Vier-Sterne-Schiff «Antonio Bellucci» ist mit 110 Meter keine schwimmende Stadt, hier gibt’s weder Hubschrauberlandeplatz noch einen Olympiapool (dafür einen winzigen Whirlpool auf dem Sonnendeck) und sicher kein Oberdeck exklusiv für die erste Klasse (von dem ich wüsste). Dafür sind die langen Gänge mit Teppich ausgelegt, was mich ein wenig an das Hotel in «Shining» erinnert. Eine Welt für sich.
Ich wurde zu einer Medienreise eingeladen und reagiere spontan mit Neugier und Begeisterung. Die nicht jeder teilt, wie ich merke. Es bestehen «Meinungen», die zum Teil auf Erfahrungswerten, zum Teil auf soliden Vorurteilen beruhen. Ich habe meinerseits keine Vorurteile gegen Vorurteile, schau mir die Sachen aber auch gern mal selbst an, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Das erste Vorurteil bestätigt sich am ersten Abend: Mag sein, dass mal ein Quotenjüngling unter 65 dabei ist, aber die meisten hier sind im Rentenalter und geniessen es, dass man sich bewegt, ohne sich dabei sehr bewegen zu müssen. Die Garderobe ist nicht Gala, sondern gediegen, tagsüber bevorzugt Funktionskleidung. Dass die Häupter weiss sind, ist aber nichts Schlechtes: Sie haben interessante Geschichten zu erzählen, mehr noch: sie wissen, wovon sie reden, und sie halten sich nicht permanent an Smartphones fest, was erstaunlich angenehm ist. Ausserdem sind alles Schweizer, und die sind als Touristen die beliebtesten: menschlich, grosszügig und freundlich, wie nicht nur Reiseleiter Alexander meint, der seit 15 Jahren auf den Flüssen der Welt unterwegs ist. Flussreisen, sagt er, seien schöner und weniger stressig als Hochseekreuzfahrten, wo es zu viele Menschen und zu wenig Privatsphäre gäbe. «Hier kommt man richtig gut runter. Man kommt in den Fluss», erklärt er, und tatsächlich werden hier ruckzuck alle entschleunigen – bis auf mich, denn ich hatte wieder besseren Wissens auf guten Netzzugang gehofft und spüre jetzt, wie sehr es mich stresst, nicht immer online zu sein. Alexander kommentiert die Landschaft, die bei 12 Knoten (22 km/h) gemächlich an uns vorbeizieht: das nahe Rheinufer, üppig mit Grün bewachsen, noch üppiger mit Geschichte durchtränkt. 1600 Kilometer sind es von Basel nach Amsterdam und wieder zurück, wofür wir uns neun gelassene, mit Ausflügen bereicherte Tage nehmen. Ich bin in Basel «eingeschifft» und werde in Amsterdam «von Bord gehen». Klingt beeindruckend, finde ich.
Das zweite Vorurteil, dass man sich hier am All-you-can-eat-Buffet ins Koma futtert, kann sich nicht halten. Die Portionen der mehrgängigen Menüs, die uns serviert werden, sind realistisch und so lecker hergerichtet, dass ich manches Dessert als Foodporn auf Facebook stelle: gutbürgerlich und unauffällig genug, um den kleinsten gemeinsamen kulinarischen Nenner zu treffen. Vier Stunden am Tag verbringen wir allein mit Essen! Die 37 Menschen der Crew aus Nautik und Gastro sehen aus, als seien sie in ihrer Multinationalität der Werbung für «United Colors of Benetton» entsprungen. Scheint also doch zu stimmen, dass kein Schweizer für dieses Gehalt arbeiten würde. Die Besatzung hat alle vier Tage einen Tag frei, was dem Arbeitsklima sehr zuträglich ist. Selten bin ich so aufmerksam und freundlich von vorn bis hinten betüttelt worden – das wird mir schon fehlen, wenn ich wieder in die Wildnis entlassen werde.
Johan aus Rotterdam, mit 36 schon seit 15 Jahren Kapitän, hat nach eigenen Angaben Flusswasser im Blut. Dafür – oh enttäuschte Erwartungshaltung – trägt er keinen Bart. Siebenmal hintereinander habe er diese Reise gemacht, und jedes Mal sei sie anders gewesen. Nur eines bleibt gleich: «Vom Wasser aus ist alles immer schöner.» Dennoch ist auch eine Flusskreuzfahrt keine Reise, die man mit allzu beruhigtem nachhaltigem Gewissen machen könnte: 320 Liter Treibstoff verbrauchen wir dabei pro Stunde, etwa 30 000 für die gesamte Strecke. Aber hey, Hochseekreuzer sind da noch viel schlimmer.
Wer wirklich nachhaltig reisen will, müsste schon am Ufer entlang radeln. Immerhin kann der Müll an Land entsorgt werden – und Essen wird nicht weggeworfen, wie uns die Bord-Hotelmanagerin Gabriela aus Ungarn versichert. «Man muss im Voraus denken und planen», erklärt sie – und dass dies hier praktiziert wird, nimmt mir als Reisegast eine Menge Kopfarbeit ab. Dieses geniale Gefühl, umsorgt zu werden: liebevoll erinnernde Durchsagen, der Zeitplan des kommenden Tages abends mit Schoki auf dem Bett, und die nächsten paar Tage werde ich mir kein Glas selbst einschenken. Unbezahlbar – und dabei doch in einem soliden Preis-Leistungs-Verhältnis (ab 1390 Franken mit dabei). Bezahlbarer Luxus ist die Philosophie des Veranstalters «Thurgau Travel». Als das Reisebüro Mittelthurgau nach dem Katastrophenjahr 2001 vor dem Konkurs stand, wurde das Bahnreisengeschäft an die Mittelthurgau-Bahn verkauft und die Marke samt Schifffahrt an die Twerenbold Reisen AG. Mittelthurgaus ehemaliger Geschäftsführer Hans Kaufmann, ein «Pionier für Flusskreuzfahrten», gründete Thurgau Travel, dessen fünfzig Schiffe starke Flotte bald darauf weltweit mit Erfolg unterwegs war, auch auf beeindruckend exotischen Gewässern. Ich finde für den Anfang den Rhein schon mal beeindruckend genug.
Auf dem Fluss geniesst man die Freiheit einer Reise, während man doch an Bord festsitzt (von den vielen Landgängen mal abgesehen). Und man merkt, wie sehr man in den eigenen Erwartungshaltungen gefangen ist – tatsächlich mehr, als man meint. Ja, ich würde wieder flussfahren – diesmal aber ohne die Erwartung, an Bord arbeiten zu können. Stattdessen rundum entspannt vier Stunden am Tag mit Essen verbringen und mich an echten Gesprächen mit Menschen erfreuen, die Geschichte haben.
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Mehr zum Thema im Schwerpunktheft «frei | gefangen»
von:
Über
Martina Pahr
Martina Pahr ist Magister der Literaturwissenschaft, verausgabte Fernsehredakteurin, ehemalige Reiseleiterin und leidenschaftliche Schrebergärtnerin. Nebenher veranstaltet sie diverse Lesebühnen in München (wo sich kaum jemand etwas unter diesem Begriff vorstellen kann - im Grunde «Poetry Slam» ohne Wettbewerb.) Im Sommer schreibt sie gern in Schottland, im Winter in Asien und zwischendrin im Garten - wo sie sich überlegt, warum sie nichts Anständiges gelernt hat.
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