Das Schöne zwischen Schein und Abgrund
Gibt es objektive Grenzen zwischen gutem und schlechtem Geschmack?
In der Antike versuchte Platon anhand seines Höhlengleichnisses die Schönheit mit der Wahrheit zu verbinden. In seiner Vision schien es noch möglich, aus den dunklen Höhlengängen der Irrtümer den Weg ans Licht zur schönen Wahrheit zu finden und alle trügerischen Spiegelungen hinter sich zu lassen.
Seit dem 18. Jahrhundert hat sich das NichtSchöne in der Kunst etabliert. Das Hässliche wurde zur ästhetischen Triebkraft der Moderne. Als Verwandte galten etwa das Ekelhafte, das Obszöne und der Kitsch. In seiner «Ästhetik des Hässlichen» von 1853 nimmt Karl Rosenkranz solche Klassifizierungen vor. Rosenkranz argumentiert als Hegelschüler dialektisch: ohne Schönes kein Hässliches und umgekehrt. Typisch für die vorpornographische Zeit hält er alle Darstellungen, die der «Lüsternheit halber» gemacht sind, für hässlich und obszön. So schreibt er: «Alles Phallische, obwohl in den Religionen heilig, ist doch ästhetisch genommen hässlich.» Bei ihm verdeutlicht sich, dass Ethik und Ästhetik nicht zwingend getrennt sind. Als Spitze der «Scheusslichkeit» beschreibt er das Böse, im Sinne einer bewussten Negation des Guten.
Mit der Überwindung des Schönen als Ideal und Norm geht es fortan mehr ums Ausreizen der Sinnesstimulationen, des Trieblebens und um den Schock der Realitätserfahrung. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann kommt in seiner Beschäftigung mit der Ästhetik des Hässlichen zum Schluss, dass zur Schönheit auch die Rätselhaftigkeit gehört. Gefälligkeit allein genügt nicht. Irritierendes soll ebenfalls Platz haben. So lassen sich die Pole schön und hässlich nicht mehr deutlich voneinander trennen. Diese Doppeldeutigkeit kann als Paradoxie der Hässlichkeit bezeichnet werden. Ein Gegenstand kann dann aus einer bestimmten Perspektive als schön und aus einer anderen als hässlich beurteilt werden.
Einschätzungen wie «spannend», «langweilig», «cool» oder «geil» verdeut-lichen, dass die inneren Vibrationen wichtig sind und weniger der Streit, ob etwas an sich schön oder hässlich sei.
Das digitale Zeitalter treibt die Diskussion nochmals in eine neue Richtung. Heute geht es dem ichversessenen Menschen mehr ums subjektive innere Empfinden als früher. Einschätzungen wie: «spannend», «langweilig», «cool» oder «geil» verdeutlichen, dass die inneren Vibrationen wichtig sind und weniger der Streit, ob etwas an sich schön oder hässlich sei.
Schöne Objekte seien einfach, klein, glatt, zart und unaufdringlich, schrieb Edmund Burke bereits 1757. Das Hässliche wurde indessen als gross, rau, kantig, roh und abrupt in den Übergängen beschrieben. Eine ähnliche, aber kritische Beurteilung bringt der Philosoph Byung-Chul Han 2015 in seiner Abhandlung «Die Errettung des Schönen». Er bemerkt, dass unser ästhetisches Empfinden allem Glatten zugeneigt sei, etwa Skulpturen von Jeff Koons, dem iPhone oder Brazilian Waxing. Han geht so weit, diese Vorliebe als Zeichen einer Positivgesellschaft zu deuten, in der nur das «Like» zählt und jede Negativität stört. Bei früheren Künstlern wie Andy Warhol oder Joseph Beuys findet man noch Widerstand und Kritik. Bei Beuys war die Kunst nichts Elitäres. Er stellte die berechtigte Frage, ob eine Produktivkraft im Kapitalismus und Kommunismus überhaupt wirksam werden kann.
Ohne Einbezug von Abgründigem und Zwiespältigem wird Han zufolge eine Ästhetik als Anregung einer tieferen Begegnung mit der Aussenwelt nicht gelingen. Bestenfalls ist Kunst also eine Inspirationsquelle für das Schöne im eigentlichen Wortsinn, nämlich um schauend in einer zwiespältigen Welt offen zu bleiben. Ohne Nach-aussen-Schauen enden wir unweigerlich bei Narzissmus und Ignoranz. Da kippt dann alles ins Hässliche im Sinne von Egoismus, Intoleranz, Verurteilung und vermeintlicher Stärke. So kann man den Schluss ziehen, dass es für eigentliche Schönheit keine pornografische Nacktheit braucht, sondern jenes Nacktsein, das entsteht, wenn wir uns der Irritation aussetzen und unsere Schwächen zu zeigen wagen – mit anderen Worten: authentisch werden.
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Literatur:
Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt am Main 2015.
Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Begriffe vom Erhabenen und Schönen, London 1757.
Gabor Paal: Was ist schön? Ästhetik und Erkenntnis, Würzburg 2003.
Karl Rosenkranz: Ästhetik des Hässlichen, Königsberg 1853.
Konrad Paul Liessmann: Der Verlust des Schönen in der Kunst, in: Librarium, Band 50 (2007), Heft 3, S. 159–168.
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Dominique Zimmermann hat Philosophie und Literatur studiert und lebt als Autorin und Sexualtherapeutin in einer Care-Gemeinschaft in Basel. Sie führt in ihrem Textbistro auch regelmässige philosophische Salons durch. www.textbistro.ch
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