Wer möglichst viele Teile eines Tieres in Speisen verwandeln will, ist in Hofschlachtereien richtig – und bei Spitzenköchinnen und -köchen. Sie sagen: Wer Innereien, Knochen und Knorpel verachtet, wird auch Fleisch nicht schätzen.

Unter Menschen, die sich bewusst für den Verzehr von Fleisch entscheiden, ist immer öfter von «Nose to Tail» die Rede. Was damit gemeint ist, hat sich in der Gastronomie und in einzelnen Schlachtereien zu einer ganz eigenen Sparte entwickelt. Sogar Köchinnen und Köche aus der Sternegastronomie haben die Tradition wiederentdeckt, von einem geschlachteten Tier möglichst alle Teile zu schmackhaften Gerichten zu verarbeiten. Üblicherweise werden je nach Art nur 40 bis 55 Prozent eines Nutztieres verwendet, und nur etwa einen Drittel machen «edle» Teile wie das Muskelfleisch aus.

Ein Tier ist mehr als Fleisch
Auf landwirtschaftlichen Betrieben wurde früher geschlachtet und jeder Teil vom Tier genutzt. Doch als Fleisch als Massenware in die Supermärkte kam, begann der Siegeszug der Filet-Kultur. Durch die industrielle Tierhaltung sanken die Preise auch für die teuersten Stücke des Tieres und stehen nun jederzeit in beliebigen Mengen zur Verfügung. Angesichts der rosaroten Packungen im Kühlregal verloren die Konsumentinnen und Konsumenten die Vorstellung, dass sie ein Tier verspeisen und dass da mehr ist als reines Fleisch. Die Wertschätzung für alle anderen Teile des Tieres liess schnell nach. 1984 ass jeder Westdeutsche 1,5 Kilogramm Innereien. 2002 waren es in ganz Deutschland noch 650 Gramm und im Jahr 2015 nur noch rund 100 Gramm.
Viele Starköchinnen und -köche, unter ihnen Eckart Witzigmann, haben sich und ihren Gästen jedoch die Wertschätzung und Kreativität erhalten. Sie haben nie nur die Edelteile verwendet. Auch das Restaurant Tantris von Chef Hans Haas in München verarbeitet schon immer halbe Rinder und «von der Schnauze bis zum Schwanz» als einzig vertretbaren Grund für das Töten der Nutztiere. Mit den Büchern über das «Nose to Tail Eating», die der britische Koch Fergus Henderson seit 1999 veröffentlicht, hat die ganzheitliche Verarbeitung von tierischen Lebensmitteln eine neue Bühne gefunden. So mag sich das Verhältnis des Publikums zu Nieren, Kutteln, Pansen und Zunge durch den Einsatz der gastronomischen Spitze wieder ändern.

Vom Schlossknochen zum Spider Steak
In den vergangenen zehn Jahren hat sich ein weiterer Trend etabliert: die Zubereitung von Barbecue im Smoker, einem Grillofen, nach der aus den USA kommenden «Low and Slow»-Technik. So werden aus dem Bauchlappen, der hierzulande wenig Beachtung findet, Spitzenschnitte wie das sogenannte Inside Skirt. Aus dem Schaufelbug des Rindes, der in der mitteleuropäischen Küche üblicherweise zu Schmorbraten verarbeitet wird, entsteht durch eine andere Schnittführung Flat Iron. Vergessene Stücke wie die im Schlossknochen – dem Hüftknochen des Rindes – sitzende Fledermaus, auch Kachelfleisch genannt, werden zum Spider Steak mit seiner netzartigen Struktur. Und auch die bei uns oft nur gekochte Rinderbrust wird durch eine langwierige Zubereitung im Smoker zu einem Edelstück.

Die Arbeit der Köchinnen und Köche, die sich dem Nose-to-Tail-Prinzip verschrieben haben, ist eine Kombination aus Tradition, Avantgarde, Kreativität und Nachhaltigkeit. Die neue Wertschätzung ihrer Gerichte erfordert aber auch ein Umdenken in der Fleischverarbeitung. Nur so kann in Zukunft wieder das ganze Tier für den Verzehr bereitet werden, statt nur die «Edelteile» auszuliefern und den Rest industriell zu verwerten. Das ist nicht nur für Hofmetzgereien oder Sternerestaurants interessant. Auch Fleischereien ohne Eigenschlachtung können Teilstücke anbieten: Innereien, Flomen – ein Schweineschmalz –, Blut und Fleischteile mit hohem Bindegewebsanteil wie Kopf, Eisbein oder Füsse. Ansprechend verarbeitet und gut gewürzt können solche Produkte neue Popularität gewinnen. Hier ist die Sterneküche auch weiterhin gefragt, Trends zu setzen und alte Bräuche wieder bekannter zu machen. Der Lebensmittelhandel könnte mitziehen, in den Fleischtheken auch Platz für Produkte vom ganzen Tier schaffen, diesen Trend bewerben und nicht mehr ausschliesslich Edelteile vermarkten. Kantinen oder Mensen sollten alte Rezepte mit «unedlen» Teilen neu aufnehmen und ihre hungrigen Gäste auf den Geschmack bringen.    

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Dieser Text ist unter der Lizenz CC BY 4.0 entnommen aus: Fleischatlas. Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel. Hrsg.v. Heinrich-Böll-Stiftung, BUND, Le Monde Diplomatique: Januar 2018. 50 Seiten. Gratis downloaden oder bestellen unter: www.boell.de / www.woz.ch

Kein Sektor trägt so massiv zum Verlust der Artenvielfalt, zur Zerstörung des Klimas, zur Überdüngung und zur Gefährdung unserer Gesundheit bei wie die industrielle Fleischproduktion. Zu diesem Schluss kommen auch die Autoren des im Januar veröffentlichten «Fleischatlas». Sie appellieren an die Gesellschaft, ihren Fleischkonsum um mindestens die Hälfte zu reduzieren und konsequenter auf die Qualität zu achten.