Alle Menschen sind gleich? Nicht in Corona-Zeiten
Nachdem zahlreiche Menschen in einem Wohnkomplex in Deutschland positiv auf das Corona-Virus getestet wurden, wurde der gesamte Komplex kurzerhand unter Zwangsquarantäne gesetzt. Beim durch die Polizei hermetisch abgeriegelten Plattenbau handelt es sich um das, was man gerne beschönigend als sozialen Brennpunkt bezeichnet. Wie wahrscheinlich ist es, dass der Staat eine Wohnanlage abriegelt, die von Normal- oder gar Besserverdienern bewohnt wird?
Ein Beispiel, wie rigoros Verwaltungen bei der «Corona-Eindämmung» vorgehen, wenn es sich bei den Betroffenen um Personen handelt, die nicht zur «Mitte der Gesellschaft» gehören: Am Donnerstag hatte ein positives Testergebnis bei zwei Frauen in der Stadt Göttingen in Deutschland dazu geführt, dass erst der ganze Wohnkomplex – in dem die Frauen gemeldet sind – getestet und dann mit Unterstützung von gepanzerten Polizeieinheiten mit Sicherheitszäunen abgeriegelt wurde.
Für die mindestens 700 Bewohner des Komplexes in Göttingen wurde eine Zwangsquarantäne angeordnet – und dies obwohl 83% der getesteten Bewohner ein negatives Testergebnis hatten. Bei dem Wohnkomplex Groner Landstraße handelt es sich um eine heruntergekommene Mietskaserne mit prekären hygienischen Verhältnissen. Sie bietet ausschließlich Ein- und Zweizimmer-Appartements mit 17 bzw. 39 Quadratmeter Wohnfläche, die jedoch oft von größeren Familien samt Kindern bewohnt werden. 200 Kinder und Jugendliche wohnen in diesem Komplex.
Man versetze sich einmal in die Rolle einer alleinerziehenden Mutter, die nun einsperrt auf engsten Raum mit ihren Kindern in einem Wohnkomplex mit Junkies und Alkoholkranken auf Zwangsentzug leben muss. Wer einen Job hat, muss nun den Verdienstausfall verkraften – für viele der ohnehin armen Menschen, die in diesem Haus leben, ist dies eine einzige Katastrophe.
Auch aus epidemiologischer Sicht ist eine Zwangsquarantäne in einem extrem dicht besiedelten Wohnblock mit schmalen Treppenhäusern und Fahrstühlen, die so was wie „Abstandsgebote“ nicht sinnvoll zulassen, eine mehr als fragwürdige Entscheidung. Offenbar nahm man lieber billigend in Kauf, dass die armen Menschen in dem Plattenbau «durchseucht» werden, als das ein Restrisiko für „die Bevölkerung“ entsteht.
Es kam, wie es wohl kommen musste. Am Samstagnachmittag platzte rund 200 Bewohnern des Plattenbaus der Kragen und sie versuchten, sich den Weg über die Schutzzäune mit Gewalt zu erkämpfen. Die Polizei reagierte mit äußerster Härte. Ganze drei Hundertschaften verteidigten die Absperrung mit Knüppeln und Tränengas – auch auf Kinder. Gegen die aufmüpfigen Bewohner wird nun wegen schweren Landfriedenbruchs ermittelt. Aufgrund der Absperrungen kam es nach Aussagen der linken Göttinger Gruppe „Basisdemokratische Linken“ sogar zu einem Todesfall: die Angehörige eines schwer Erkrankten (jedoch nicht an Covid-19) schaffte es demnach nicht, durch die Absperrungen hindurch Zugang zu der nötigen medizinische Hilfe zu erlangen.
Einen Erfolg hatte die Randale jedoch. Nach den Ausschreitungen sah die Stadt sich gezwungen, die Quarantäne zu lockern. Nun sollen Anwohner, die zweimal in Folge negativ getestet wurden, das Areal unter Auflagen zeitweise verlassen dürfen. Der Rest wird von der Stadt mit einem warmen Essen pro Tag und Lunchpaketen versorgt. Es steht sogar eine Suchtberatung zur Verfügung, die schwer Alkohol- und Drogenabhängigen zur Hilfe kommen soll. Aber das war es dann auch. Man stellt noch nicht einmal Familien mit Kindern Ausweichquartiere zur Verfügung. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen.
Nun stelle man sich einmal vor, wie Behörden reagieren würden, wenn sich in einem «besseren» Wohnviertel die positiven Testergebnisse häufen. Würde die Stadt auch hier ganze Häuserblocks abriegeln und die Bewohner – egal ob sie positiv oder negativ getestet wurden – mit alles Staatsgewalt einsperren? Sicher nicht. Jeder Mensch ist gleich, doch manche sind halt eben doch ungleicher. Und dies triff in unserer Gesellschaft hauptsächlich auf diejenigen zu, die am unteren Ende der Wohlstandsskala zu finden sind.
Das ist nicht neu. Corona macht die tiefen Risse in unserer Gesellschaft allenfalls besser sichtbar. Doch auch hier muss man schon genau hinschauen. Über die Zwangsquarantäne in Göttingen wurde nämlich bislang nicht wegen der sozialen Diskriminierung, sondern vor allem wegen der Ausschreitungen berichtet. Eine echte Debatte findet nicht statt.
Nun hat der bedrängte Göttinger Oberbürgermeister in einem Befreiungsschlag die Verantwortung für die Missstände auf die „profitorientierten Besitzer“ des Wohnkomplexes gelenkt. Das ist ebenso durchschaubar wie heuchlerisch. Die katastrophale Situation in den Göttinger Plattenbauten ist seit Jahrzehnten bekannt und die Politik hat so gut wie nichts getan, um hier Abhilfe zu schaffen und stellt sich nun sogar als Opfer dar. Da fragt man sich unweigerlich, wer eigentlich die Gesetze macht? Ghettos fallen schließlich nicht vom Himmel. Aber solange es nur die da unten und nicht „die Bevölkerung“ betrifft, scheint dies wohl niemanden wirklich zu interessieren.
von:
- Anmelden oder Registieren um Kommentare verfassen zu können