Mein Spamordner

Was ich alles hätte tun oder werden können, wenn ich doch nur meine Spams gecheckt hätte. Da würde ich jetzt hier nicht eine Kolumne schreiben, sondern als Chefredakteur einen Kommentar verfassen.

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Auf einer Zugfahrt erzählte mir eine gute Kollegin, dass sie zwei Jahre lang arbeitslos gewesen sei, mittlerweile aber glücklicherweise wieder eine Stelle habe. Zuvor habe sie sich während eines Jahres bei über dreissig Firmen beworben, und von den allermeisten gar nie eine Antwort auf ihre Bewerbungen erhalten. Nun habe sie letzten Sonntag aus einer Laune heraus mal ihren Spamordner durchforstet. Sie fand im Spam sage und schreibe fünf verpasste Einladungen zu Bewerbungsgesprächen.

Zu Hause angekommen kam mir die Geschichte wieder in den Sinn. Vor allem wurde mir bewusst, dass ich meinen Spamordner, ob sie es glauben oder nicht, noch gar nie angeschaut hatte. Mit Herzklopfen setzte ich mich an den Computer und öffnete also zum ersten Mal den Spamordner meines Mailprogramms. Nach unzähligen Werbungen für potenzsteigernde Substanzen stiess ich auf eine Anfrage des Bundesamtes für Gesundheit. Sie hätten mich gerne in die wissenschaftliche Covid-Taskforce aufgenommen, da ich ja im Heimlabor aus Mayonnaise, Himbeer-Confi und Aromat eine eigene Impfung entwickelt habe.

Weiter unten sichtete ich plötzlich eine weitere E-Mail, die vor über einem Jahr irrtümlicherweise im Spamordner gelandet war: Swiss Lotto teilte mir mit, ich solle den Gewinn über 1,4 Millionen Franken in den nächsten zwei Wochen auf mein Konto überweisen lassen, ansonsten verfalle dieser.

Doch es kam noch besser: Ich fand eine Mail von AC/DC aus dem Jahre 2016: Die Band wollte mich als Ersatz für den tragischerweise viel zu früh verstorbenen Rhythmusgitarristen Malcolm Young anheuern. Ebenso wollten mich drei Jahre vorher die Rolling Stones in ihre Band aufnehmen. Des Weiteren fand ich diverse E-Mails des Schweizer Fernsehens. Sie hätten mich gerne als Gast in ihre hochstehende Sendung «Glanz und Gloria» eingeladen. Der absolute Höhepunkt meiner Spamordner Durchsuchung war jedoch eine sechs Jahre alte E-Mail eines Online-Magazins. Sie können sich denken welches. Dem Vernehmen nach wollten sie mich damals zum neuen Chefredaktor wählen – hätte ich zum richtigen Zeitpunkt geantwortet.

Nach gut einer Stunde schloss ich den Spamordner und schaltete den Computer aus. Ein Gefühl der Genugtuung durchfloss mich. Ich gebe es zu, es tat gut zu erfahren, dass ich scheinbar derart begehrt bin. Aber liebe Leserinnen, lieber Leser, wenn Sie nun denken, ich würde mir ab all der verpassten Chancen die Haare einzeln ausreissen, so irren Sie sich gewaltig: Ich bin nämlich mit meinem Leben so wie es momentan ist, voll und ganz zufrieden.
 

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