Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt.

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Ich erhalte einen Brief von der Eidgenössischen Technischen Hochschule, die mich dazu einlädt, an einer Mobilitätsstudie teilzunehmen. Als erstes wundere ich mich, woher die ETH meine Adresse hat. Sie hat sie vom Bundesamt für Statistik erhalten. Offenbar ist es gängige Praxis, dass ein Bundesamt meine Adresse an andere staatliche Stellen freigiebig ausleiht. Eigentlich, finde ich, hätte mich das Bundesamt zuerst fragen müssen. Aber der Staat geht offenbar davon aus, dass ich ihm mein volles Vertrauen schenke.

Die Studie, an der ich teilnehmen soll, will mein Zeitnutzungs- und Mobilitätsverhalten untersuchen, um den Verkehr an die Bedürfnisse der Bevölkerung anzupassen. Deshalb braucht die Wissenschaft Informationen darüber, wie die Bevölkerung ihre Zeit verbringt und wie dies die Mobilität beeinflusst. So steht es wörtlich in diesem Brief.

Für den Fall, dass ich mitmache, bitten mich die ETH-Forscher, zunächst Fragen zu meinem sozialen und persönlichen Hintergrund auszufüllen. Anschliessend müsste ich dann eine App herunterladen, die während der folgenden vier Wochen alle meine Bewegungsmuster aufzeichnet.

Spätestens an diesem Punkt hat sich für mich die Frage beantwortet, ob ich an dieser Studie teilnehmen will. Eher nicht. Auch wenn mir am Ende des Briefes eine streng vertrauliche Behandlung meiner Daten versichert wird, ist mein Misstrauen gegenüber staatlichen Eingriffen in mein persönliches Leben inzwischen so gross, dass ich selbst einer solchen, scheinbar unverfänglichen Studie nicht über den Weg traue.

Eigentlich ist das traurig. Es ist traurig, dass ich dem Staat, dessen Bürger ich bin, nicht traue und ihm auch nicht helfen will. Ich empfinde die staatlichen Behörden nicht als die Ausführenden meines Bürgerwillens und nicht als die Diener des Volkes, sondern als eine latente Bedrohung, vor der man sich schützen muss. Und spätestens in den letzten zwei Jahren hat sich dieses Grundgefühl noch verstärkt.

Der Staat will mich für seine Zwecke nutzen, die für mich keine guten Zwecke sind. Auch wenn ich das bei dieser Studie nicht mit Fakten belegen kann, so ist es doch mein Gefühl, und ich weiss, dass sehr viele Menschen in diesem Land dasselbe denken. Ich misstraue auch dem Sinn solcher Studien. Ich kann mich des Verdachts nicht erwehren, dass sie vor allem der Arbeitsbeschaffung der daran beteiligten Studenten und Professoren dienen.

Diese Forschungen – so will es mir scheinen – erleben in jüngster Zeit ein geradezu eigendynamisches Wachstum. Und obwohl eine Studie nur untersucht und beobachtet und mich zu keiner Handlung verpflichten kann, dient sie dennoch dem Zweck, mein Verhalten immer genauer zu kennen und mich dadurch besser kontrollieren zu können. In diesen Studien erscheinen wir nicht als Menschen mit einem Namen. Wir sind bloss statistische Grössen. Versuchsobjekte. Probanden. Wir sind Laborratten.

Am Ende des Briefes steht der Name des Professors, der die Studie leitet, und sein Name weist ihn als Deutschen aus. Ich habe eine grosse Achtung vor den Deutschen, ich kenne viele, die mir sehr nahe stehen, und mein Vater war selber ein Deutscher. Aber ich habe ein widerstrebendes Gefühl gegen die Vorstellung, dass ein deutscher Professor hierher in die Schweiz kommt, um unser Verhalten zu untersuchen. 

Da die Skepsis gegenüber der Obrigkeit immer mehr zunimmt und die Bereitschaft der Menschen, ihre Daten weiterzugeben, immer mehr abnimmt, wird der deutsche Professor vermutlich nicht so ohne weiteres genug Teilnehmer finden. Was tut er dafür, damit jemand ernsthaft mitmachen will? Er bietet Geld. Ganz unten lese ich, dass jeder Teilnehmer 50 Franken erhält. Da muss ich ein wenig lächeln. 50 Franken sind, jedenfalls in der Schweiz, keine Motivationsspritze. Der Herr Professor müsste schon etwas mehr springen lassen.

Aber auch wenn er mir 500 Franken böte, würde ich nicht an der Studie teilnehmen. Es könnte nämlich auch anders sein. Hätten die Behörden mein Wohlwollen, mein Vertrauen, dann müssten sie mir kein Geld bezahlen. Dann würde ich an der Studie, wenn es sie braucht, gratis mitmachen.

Dieser Text erschien im Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt - Gedanken, Beobachtungen, Geschichten - täglich von Montag bis Freitag auf Spotify, iTunes oder auf der Website des Autors www.dieluftpost.ch

09. November 2022
von:

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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Kommentare

Laborratten

von Caterine
Super Artikel - du sprichst mir aus dem Herzen! Traurig, aber wahr :-(