Offene Gesellschaft oder geschlossene Gemeinschaft?
Zur Zukunft der sozialen Begegnungs- und Verständigungsräume
Eine offene Gesellschaft zeichnet sich einerseits dadurch aus, dass sie Platz für unterschiedlichste individuelle Lebensentwürfe bietet. Damit das Streben nach Freiheit und individueller Selbstbestimmung aber nicht zur Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung und Einheit führt, braucht eine offene Gesellschaft andererseits einen gemeinsamen Handlungsrahmen.
Dazu auferlegt sie sich selbst (auf rechtstaatliche Weise) übergeordnete Handlungsprinzipien, welche die Mehrheit ihrer Mitglieder gemeinsam teilen und die für das gemeinschaftliche Handeln insgesamt richtungsgebend sind.
Das «Wunder» einer offenen Gesellschaft wird also gewissermassen durch das gleichzeitige Vorhandensein zweier Bedingungen ermöglicht:
Erstens die Bereitschaft, den Mitgliedern des gesellschaftlichen Kollektivs einen maximalen Gestaltungs- und Entwicklungsfreiraum zu ermöglichen sowie
zweitens durch einen stabilisierenden gesellschaftlichen Ordnungs- und Orientierungsrahmens in Form von breit akzeptierten Handlungsprinzipien.
Letztgenannte sind in der Regel den Verfassungen von Nationalstaaten als Präambel vorangestellt. In der schweizerischen Bundesverfassung finden sich etwa die folgenden Prinzipien: Verantwortung (gegenüber der Schöpfung sowie gegenüber den künftigen Generationen), Freiheit, Demokratie, Unabhängigkeit, Frieden, Solidarität, Offenheit, Rücksichtnahme und Achtung, Vielfalt in der Einheit.
Der österreichische Schriftsteller Hermann Broch (geboren 1886 in Wien, gestorben 1951 im amerikanischen Exil in New Haven, Connecticut) hat in seinen sozialkritischen Studien darauf hingewiesen, dass es letztlich gerade die allgemeine Formulierung dieser handlungsleitenden Prinzipien ist, in welcher der offene Charakter einer Gesellschaft zum Ausdruck kommt. Denn nur, wenn diese Prinzipien für die Mitglieder einer Gesellschaft einen ergebnisoffenen Rahmen bilden, innerhalb welchem der individuelle Handlungsfreiraum weitestgehend gewahrt bleibt, können sie ihre ethische Funktion innerhalb der gesellschaftlichen Selbstregulation erfüllen.
Werden dagegen solche übergeordneten Prinzipien mit konkreten, d.h. präzise definierten Handlungsformen gleichgesetzt, werden sie zu moralischen Verpflichtungen umfunktioniert. Nicht mehr die Vielfalt individueller Handlungsformen erscheint dann gesellschaftlich erstrebenswert, sondern die «eine legitime Einstellung». Mit anderen Worten: Wird in einer Gesellschaft eine bestimmte Form
- der individuellen Meinungsäusserung mit der Wahrheit,
- der gegenseitigen Rücksichtnahme mit Solidarität,
- des subjektiven Rechtsempfindens mit Gerechtigkeit,
- der rationalen Erkenntnisgewinnung mit Wissenschaft,
- der jeweils möglichen Wertvorstellungen mit Offenheit, Unabhängigkeit oder Demokratie
identifiziert und wird diese Form zur absoluten bzw. «alternativlosen» Handlungsmaxime erhoben, verliert sie ihren offenen Charakter und wird zu einer geschlossenen Gemeinschaft.
Als solche setzt sie bei ihren Mitgliedern eine bestimmte persönliche Haltung oder Gesinnung als zwingende «Teilnahmebedingung» voraus. Abweichende Positionen oder Personen, die solche vertreten, werden von der Gemeinschaft ausgeschlossen, tabuisiert oder sogar verfolgt.
Noch steht es uns offen, welchen Weg wir einschlagen wollen: Haben wir den Mut zur Erneuerung der offenen Gesellschaft oder ziehen wir den hermetischen Schutz und die «garantierte Sicherheit» einer geschlossenen Gemeinschaft vor?
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Simon Häusermann ist Vorstandsmitglied des «Forums Ouverture» – für eine offene Gesellschaft.
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