Warum uns Sex sprachlos macht

«Dafür gibt es keine Worte». Mit dieser Bezeichnung klassifizierte der Verwaltungsratspräsident der Basler Verkehrsbetriebe die Vergehen seines Direktors. Dieser hatte Mitarbeiterinnen anzügliche SMS und Bilder geschickt und wurde zur Demission aufgefordert.
Nun fragt man sich, warum es dafür keine Worte geben soll. Das letzte Mal, als die Worte fehlten, war es der Holocaust im Dritten Reich. Nun also ist es wieder aufgetreten, diesmal, weil ein Mann einer Unbeteiligten Brusthaar oder Schnäbi zeigte.
Natürlich ist er als Chef untragbar. Wer will sich schon den Chef im Reiztanga ansehen? Aber Worte kann man dafür durchaus finden, sogar ganz unterhaltsame. Es ist vielmehr eine Tragik unserer Gesellschaft, dass sie solche Dinge nicht mehr benennen oder thematisieren mag. Ein Chef als Grüsel ist ein Problem. Das muss man angehen. Am besten gleich mit ihm zusammen. Aber soweit kann es gar nicht kommen. Der Chef wird entsorgt, am besten nachts, sein Haus versiegelt, seine Kinder umgetauft und sexuell dekontaminiert und seine Frau erhält eine Abfindung wegen seelischer Grausamkeit ihres Gattens. Er selber wird fachgerecht verwahrt auf ewig oder länger, wie das die einschlägigen Volksinitiativen fordern.

Wir tun so, als wäre Sexualität ein Versehen Gottes, eine biologische Seuche. Der moderne Mensch ist per definitionem asexuell. Sollte jemand trotzdem sexuell sein, so hat er das hübsch zu verpacken und unter gesittetem Stöhnen im richtigen Moment kund zu tun. Alles andere ist eine Zumutung und gehört ausgegrenzt. Sexuelle Existenz am Arbeitsplatz ist regelwidrig, verboten und niederträchtig (Mann) oder peinlich (Frau). In beiden Fällen folgt die Ächtung gemäss interner Weisung und geltendem Sozialkodex. Man hat nicht sexuell zu sein. Genitalien und Lustgefühle sind in der Garderobe abzulegen. Aufreizende Kleidung hat rein dekorative Bedeutung und darf nicht in einen Zusammenhang zu real existierenden Personen gebracht werden. Tut man es trotzdem, tritt oben erwähnter Prozess in Gang.
Das Negieren einer menschlichen Eigenschaft ist beschämend. Es ist eine Amputation, ein gesellschaftliches Wegschauen. Gleichzeitig wissen wir, wie gerne wir mit dieser Energie spielen und gefüttert werden. Unsere Welt ist voll von aufreizenden Botschaften; anders wäre sie wohl auch nicht auszuhalten. Dieses Reizen und Verneinen hat etwas Perverses. Man kommt sich vor wie ein Verräter auf höchster Ebene. Zwar ist man Teil der Verschwörung, bestreitet aber deren Existenz und macht noch mit an der Verfolgung der Entlarvten. Dabei haben wir gerade erst noch Dökterlis gespielt.

Das «Nicht-sein-sollen» wirkt auf unsere kindliche Psyche. Man nimmt uns beim Schamgefühl, das uns so sorgsam implantiert wurde. Wir sind schmutzig, gemein und schaden dem Gemeinsamen. Das Sexuelle wird per se als asozial taxiert. Es gibt keine gesellschaftstaugliche Sexualität. Sexualität als Belästigung. – Ist sie das?
Vielleicht ja. Vielleicht ist es wahr. Vielleicht gibt es sie wirklich nicht, die gesellschaftlich korrekte Sexualität. Nicht in unserer Gesellschaft. Ein kopulierender Chef ist ein Unding. Man will es weder wissen noch sich vorstellen müssen. Die Vernunft hat uns so weit im Griff, dass es keine Luft mehr gibt für diese Komponente. In diesem Sinn ist Sexualität Anarchie. Sie ist als solche unnütz, unproduktiv und schmutzig. Sie hält sich nicht an gesellschaftliche Hierarchien. Sie hält sich nicht einmal an die Geschlechtergrenzen. Sie ist ein Affront. Wie praktisch, ihr einfach keinen Namen mehr zu geben.