Polanski – Opfer, Büsser und Genie
Roman Polanski hat einen neuen Film gedreht – und wieder geht es um die Aufarbeitung von Schuld. In «Gott des Gemetzels» streiten sich zwei Elternpaare um Gewalt auf dem Schulhof. Charakteristisch für einen Regisseur, der sich hartnäckig an Themen wie Verbrechen, Busse und Vergebung abarbeitet. Wer ist dieser Besessene auf dem Regiestuhl? (Roland Rottenfußer)
«Ich glaube an den Gott des Gemetzels» sagt Christoph Waltz mit dem ihm eigenen aasigen Grinsen. Der Gott des Gemetzels sei älter und machvoller als der Gott des Gesetzes, den wir vordergründig verehren. Gemeint ist: einen Ordnung schaffenden, gerechter, gar «lieber Gott» mussten sich die Mensche erst über viele Generationen erarbeiten. Der andere, der dunkle, grausame Gott kann jederzeit durch die dünne Schicht der Zivilisation brechen. Damit ist das Thema von Roman Polanskis neuem Film vorgegeben – und in gewisser Weise das Thema seines ganzen Lebenswerks. In «Gott des Gemetzels» nach dem erfolgreichen Bühnenstück von Yasmina Reza lassen Christoph Waltz, die Premium-Schauspielerinnen Kate Winslet und Jodie Foster sowie der famose John C. Reilly nach und nach alle Masken fallen. Das ist ebenso grotesk-komisch wie zutiefst erschreckend. Auch diese Mischung ist typisch für den Regisseur.
Es beginnt mit einer höflichen Aussprach zwischen zwei Ehepaaren. Der Sohn des einen Paares hat dem Sohn des anderen auf dem Schulhof zwei Zähne ausgeschlagen. Eine hässliche Geschichte, aber eigentlich keine grosse Affäre. Zwischen vier vernünftigen Menschen lässt sich das Problem sicher leicht aus der Welt schaffen. Die überlegene Attitüde der Erwachsenen erweist sich aber schnell als anmassend. Am Ende benehmen sich die beiden Paare schlimmer als Schulhofrabauken: Es wird gegiftet, gebrüllt und geprügelt, ein Handy versinkt in der Tulpenvase. Auch zwischen den Ehepaaren tun sich Abgründe auf: Man verabscheut schon lange und wollte es sich nur nicht eingestehen. «Gott des Gemetzels» ist ein Film über die Manifestation des Schattens hinter der korrekten Fassade bürgerlicher Ehen. Prügelnde Kinder sind nicht schlimmer als ihre heuchlerischen Eltern – höchstens ehrlicher.
Ist Gott tot?
Das Gottesbild im aktuellen Film erinnert fatal an eine Äusserung von Roman Castevet, dem greisen Teufelsanbeter in Polanskis Klassiker «Rosemary’s Baby». «Gott ist tot» sagt Castevet, als Rosemary unfreiwillig den Sohn des Satans geboren hatte. Und auch Dr. Miranda, der Folterarzt aus Polanskis Psycho-Kammerspiel «Der Tod und das Mädchen» zitiert nur zu gern Nietzsche. Ist es wahr: Gibt es keine guten Gott (mehr), und ist der Antichrist dabei, sich zum eigentlichen Regenten der Welt aufzuschwingen? Und wenn dem so wäre, gibt es dann trotzdem in dieser Schattenwelt Anlass zur Hoffnung?
Wie der Meisterregisseur zu seiner pessimistischen Weltsicht kam, ist heute kein Geheimnis mehr. Als sein Holocaust-Drama «Der Pianist» 2002 herauskam, sagte Polanski, er hätte ebenso gut seine eigene Lebensgeschichte verfilmen können. Dies hätte er nur psychisch nicht verkraften können. Deshalb verfilmte er die Autobiografie des polnischen Juden und Klaviervirtuosen Wladyslaw Szpilman – und gewann seinen längst verdienten Oscar. Ist es legitim, die Biografie eines Künstlers heranzuziehen, um sein Werk zu deuten? Polanski selbst gab 1986 zu Protokoll: «Es ist keine Frage, dass jeder Film eine Art Psychoanalyse ist und irgendwie die Seele des Regisseurs reflektiert.»
Jugend im Schatten Nazideutschlands
Roman Polanski wurde 1933 in Paris geboren. Seine jüdischen Eltern, seine Schwester und er wurden von den Nazi-Besatzern ins Krakauer Ghetto umgesiedelt. Dort musste Roman einmal mit ansehen, wie eine alte Frau, die nicht mehr laufen konnte, von einem deutschen Offizier erschossen wurde. Daraufhin wurde der Junge zum Bettnässer. Seine Mutter kam später in Auschwitz ums Leben, Vater und Schwester überlebten das Konzentrationslager. Der kleine Roman wurde von seinen Eltern im letzten Moment bei einer katholischen Familie im Dorf Wysoka untergebracht. Dort verbrachte er die Jahre zwischen seinem 9. und 13. Lebensjahr – jederzeit in Gefahr, verhaftet und getötet zu werden. Misstrauen, Einsamkeit, klaustrophobische Enge, ein tiefer Widerwille gegenüber den unverständlichen Bestimmungen der Staatsmacht – diese Elemente zeigen sich später in vielen seiner Filme.
Während seiner Jahre in Wysoka hatte sich Roman, dessen Eltern keine frommen Juden waren, mit dem katholischen Glauben seiner Ziehfamilie angefreundet. Das ging so weit, dass er sich selbst nicht mehr als Juden betrachtete. Nach dem Krieg wurde ihm aber schnell deutlich gemacht, dass er nicht dazugehörte. Ein katholischer Priester schloss ihn wegen seiner jüdischen Herkunft vom Religionsunterricht aus – für Polanski eine tiefe Verletzung. Später kamen religiöse Gemeinschaften in seinen Werken immer schlecht weg. Sie wurden z.B. in der Darstellung von Satanskulten parodiert. «Ich denke, dass die Religionen generell viel Unheil über die Menschen gebracht haben», schrieb er 1986. Acht Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft war Roman Polanski wieder ein Verfolgter. Als der Einberufungsbescheid zum Militärdienst eintraf, tauchte er vorübergehend unter. Die demütigenden Rituale des Militärs erinnerten ihn wohl nicht zu Unrecht an den am eigenen Leib erfahrenen Faschismus.
Ekel, Grauen und Groteske
Inzwischen hatte Polanski jedoch seine Leidenschaft für den Film entdeckt. So sammelte er Schnipsel, die ein Filmvorführer aus defekten Filmkopien herausgeschnitten hatte. Er arbeitete als Schauspieler, u.a. in Andrzej Wajdas Film «Pokolenie» (1955). Bald drehte er eigene Kurzfilme und sein Langfilmdebut «Das Messer im Wasser» (1962). Mit «Ekel» (Hauptrolle: Cathérine Deneuve) machte der Jungregisseur 1965 einen gewaltigen Schritt nach vorn. Es war sein Einstieg in das internationale Filmgeschäft. Der Film gehört bis heute zu seinen visuell interessantesten, ein Meisterwerk, das den Filmen Hitchcocks in nichts nachsteht. «Ekel» porträtiert nicht so sehr die äussere Realität, als vielmehr die innere Welt einer jungen, traumatisierten Frau, die nach und nach in die Psychose abdriftet. Ihre verdrängten sexuellen Wünsche führen dazu, dass sie eine Vergewaltigung imaginiert und mehrere Männer umbringt, die sich ihr nähern wollen. Das Thema Gewalt gegen Frauen war bei Polanski also schon präsent, bevor es in seinen eigenen Leben eine Rolle spielen sollte.
Polanskis erster grosser Filmerfolg war dann «Tanz der Vampire». Auch hier geht es eigentlich um eine Vergewaltigung – symbolisch dargestellt in der Entführung der jungen Sarah durch den Vampir Graf Krolock. Es zeigt sich das Motiv des perversen Zugriffs männlicher Dominanz auf ein weibliches Opfer – Polanskis eigener Schatten, wie man später sehen wird. Der Regisseur, der in dem Film selbst die Hauptrolle des Alfred spielt, karikiert hier außerdem das Milieu des Ostjudentums, verkörpert in dem Wirt «Shagall» (eine Anspielung auf die Bilderwelt Marc Chagalls). Interessant ist die Gruselgroteske aber vor allem als Allegorie auf den Faschismus, mit dem sich Polanski damals noch nicht direkt auseinandersetzen wollte. Eine diffuse Atmosphäre der Bedrohung herrscht im Dorf, die an die Situation in Polanskis Jugend erinnert. Krolock spricht im englischen Original ein «deutsch» rollende «R». Dessen homosexueller Sohn Herbert ist «arisch» blond, und einer Stelle deutet Krolock mit der Geste eines angedeuteten Hitlergrußes in die Landschaft hinaus.
Am deutlichsten ist die Allegorie auf den Faschismus aber in Gestalt von Graf Krolocks Weltherrschaftsanspruch. Wie ein Virus breitet sich Vampirismus durch Ansteckung in der ganzen Welt aus. Man weiß nie, wer noch vertrauenswürdig, wer schon infiziert ist – ein Bild für den radikalen Vertrauensverlust in einer aus den Fugen geratenen Welt. Das Böse kommt nicht (nur) von aussen, sondern scheint in allen Menschen latent zu sein. Juden im Dritten Reich könnten sich gefühlt haben wie Nichtvampire unter Vampiren – jederzeit in Gefahr, entdeckt zu werden. In «Tanz der Vampire» wird die Enttarnung der Verfolgten symbolisch gezeigt, indem sie (im Gegensatz zu den Vampiren) ein Spiegelbild erzeugen. Der Seelenverlust der Kräfte des Bösen findet im Fehlen eines Spiegelbilds seinen trefflichen Ausdruck.
Eine Jungfrauengeburt und ein neues Trauma
Die Macht des Bösen triumphiert dann 1968 wieder in «Rosemary’s Baby», zweifellos einem der besten Horrorthriller, die je gedreht wurden. Das Strukturprinzip des Thrillers ist die Steigerung, die unaufhaltsam auf eine Eskalation zutreibt. Der Verlauf einer Schwangerschaft ist deshalb der ideale Thrillerstoff, denn auch in dieser wächst naturgemäss die Spannung. Polanski erzählt in «Rosemary’s Baby» die ins Negative verkehrte Geschichte der Geburt Christi. Die junge Heldin ist ein unschuldiges «Gefäss» für den kommenden Weltenherrscher. Statt des «Heiligen Geistes» tritt Satan als Erzeuger auf. Sein Bild vermischt sich in einer Traumsequenz mit dem von Rosemarys Mann Guy, der seine Seele längst dem Bösen verschrieben hat. Alles Vertraute verkehrt sich in dem Film ins Bedrohliche und Grauenhafte: auch die freundlichen, etwas aufdringlichen Nachbarn (der Catevets) oder der betuliche Schulmediziner (Dr. Saphirstein). Und wieder wird in einem Polanski-Film eine Frau missbraucht. Die Paranoia ist, wie zuvor in «Ekel» und später in «Der Mieter», allgegenwärtig. Im Gegenssatz zu den beiden anderen Film ist die Bedrohung in «Rosemary» jedoch real: Der Satansbraten wird geboren, die Jüngergemeinde ruft «Heil Satan!», und Rosemary fügt sich wohl oder übel in ihre Rolle: «Sie ist sein Mutter».
Eineinhalb Jahre nach der Aufführung dieses Films erlebte Roman Polanski erneut ein schweres Trauma: Seine Frau Sharon Tate, Hauptdarstellerin in «Tanz der Vampire», wurde von Anhängern des schizophrenen Hippies Charles Manson ermordet. Polanski war abwesend, machte sich jedoch schwere Vorwürfe, zumal die Presse eine «geheime Verbindung» zwischen dem Mordfall und Polanskis Werk herbei fantasierte. In der Tat ist es nicht völlig ausgeschlossen, dass insbesondere «Rosemary» und «Vampire» den Mörder bei der Auswahl seines Opfers beeinflusst haben könnten. Manson fantasierte damals öffentlich über den Endsieg einer weißen Herrenrasse. Polanski litt entsetzlich, zumal ihm der Tod seiner Frau wie eine Wiederholung der Ermordung seiner Mutter durch die Nazis vorgekommen sein musste.
Vom Opfer zum Täter
Das Weltbild seiner Filme hellte sich infolgedessen nicht gerade auf, wie auch der Filmhit «Chinatown» mit Jack Nicholson zeigten. Das Thema war wieder eine Vergewaltigung, diesmal der Missbrauch einer Tochter durch ihren Vater. Der Regisseur inszenierte ihn im Kontext eines lichtlosen gesellschaftlichen Universums, in dem die Niedrigkeit triumphiert und der wohlmeinende Detektiv machtlos gegen Windmühlen rennt. Privat war die Phase der Trauer um Sharon Tate für Polanski mit dem verzweifelten Versuch verbunden, sich zu zerstreuen. Er feierte in dieser Zeit wilde Partys, hatte viele Frauen, vor allem junge. Der psychoanalytisch orientierte Polanski-Biograf Andreas Jacke schreibt: «Seine Fixierung auf sehr junge Mädchen hängt vermutlich mit der Angst davor zusammen, wieder eine feste Bindung zu einer erwachsenen Person einzugehen.»
1977 gipfelte diese «Phase» in einem Geschlechtsverkehr mit dem nur 13 Jahre alten Fotomodell Samantha Geimer. Polanski gab damals an, der unter Drogeneinfluss vollzogene Sex sei einvernehmlich gewesen. Ausserdem habe das Mädchen älter ausgesehen. «Nichts im Leben hatte mich auf den Gedanken vorbereitet, man könnte in mir einen Verbrecher sehen.» Genau das taten Justiz und Presse jedoch. Auch geschürt durch Polanskis mangelnde Einsicht, wurde der Starregisseur für lange Zeit zum öffentlichen Buhmann. Nach 42-tägiger Untersuchungshaft flüchtete Polanski aus den USA. Obwohl er schuldig war, stellte der Status des Flüchlings, die anhaltende Angst vor dem Gefängnis, doch eine Retraumatisierung dar, die an sein Jugendschicksal anknüpft. Noch in «Der Ghostwriter» (2010) zeigte Polanski einen englischen Expolitiker (Pierce Brosnan), der fürchten muss, in fast jedem Land der Erde verhaftet zu werden.
Die Suche nach Vergebung
Polanskis Flucht war, im Nachhinein betrachtet, ein zweifelhaftes, aber faszinierendes Experiment. Zu Recht misstraute er wohl dem staatlichen «Strafanspruch», der Fähigkeit des Justizapparats, tatsächlich Gerechtigkeit herzustellen. Polanski fühlte sich sehr wohl schuldig, wie mehrere seiner weiteren Werke zeigten. Er verurteilte sich jedoch zu «Bewährung» und inszenierte seine Filme wie eine künstlerische «Busse». Gerade in «Tess» und «Der Tod und das Mädchen» zeigt er mit beispielhaftem Mitgefühl die traumatisierenden Folgen der Gewalt von Männern an Frauen. Mit «Der Pianist» schien der Regisseur dann die Vergebung der Weltöffentlichkeit erlangt zu haben – und seine eigene. Denn das erschütternde Drama über die Flucht eines Musikers im Warschauer Ghetto lenkte das Mitgefühl – nach vielen Filmen über Frauen als Opfer – endlich auch auf den Regisseur selbst.
Holocaust-Überlebende erfahren in offiziellen Verlautbarungen normalerweise viel Zuspruch. Ihr Leiden ist allgemein als sehr schwerwiegend anerkannt. Ebenso wie das Schicksal von Menschen, die einen Ehepartner durch Mord verloren haben. Was aber, wenn einer der Überlebenden nicht auf «korrekte» Weise traumatisiert ist? Wenn sich das erlittene Böse nicht (nur) in Depression, sondern in überschiessender Lebensgier ausdrückt – oder in einem Gewaltakt, der den Schmerz für kurze Zeit betäubt, indem er ihn an einen unschuldigen Dritten weitergibt? Polanskis Verhalten gegenüber Geimer scheint nicht vollständig entschuldbar. Trotzdem zeigt der Fall, wie schwierig das Urteil über einen Menschen ist, dessen Leben wir nicht gelebt haben. Samantha Geimer, das Opfer, zeigte jedenfalls Größe. Sie sagte schlicht: «Menschen machen Fehler».
«Tess» – ein Film als Busse
Auch künstlerisch hatten die seelischen Erschütterungen rund um Polanskis Verhaftung Folgen. Er verzichtete fortan auf surrealistische Elemente in seinem Werk, insbesondere auf die Darstellung psychotischer Charaktere. Dergleichen belastete ihn wohl jetzt zu sehr. In «Tess», dem ebenso romantischen wie schonungslosen Romanklassiker von Thomas Hardy, fand er den idealen Stoff, um seine eigenen Dämonen zu zähmen. Seine ermordete Frau hatte ihn das Buch ans Herz gelegt – Sharon Tate, die übrigens im Alter von 17 Jahren vergewaltigt worden war und die Hauptrolle in dem Film gern selbst gespielt hätte. In «Tess» wird die junge, unschuldige Protagonistin von einem älteren Verwandten missbraucht. Die Vergewaltigungsszene ist in Buch und Film in einen Nebel getaucht – ähnlich wie Polanskis Verkehr mit Samantha Geimer. «Tess» (1979) zeigt das Urböse, das auch dem Faschismus zugrunde liegt: das Verbrechen gegen den freien Willen des Individuums. Und er zeigt die traumatischen Folgen der Tat, von der die junge Frau bis zu ihrem Ende verfolgt wird: ausgestoßen, verängstigt, voll Sehnsucht nach der verlorenen Reinheit, nach Liebe. Tess wird zuletzt selbst zur Mörderin, indem sie ihren Peiniger tötet. Als indirekte Folge der Vergewaltigung verliert sie nun den letzten Rest ihrer Unschuld. Vielleicht fühlte sich das Nazi-Opfer Polanski ähnlich: unschuldig-schuldig.
Später gab der Regisseur zu Protokoll, dass «Tess» der erste Film sei, der seine tiefsten Gefühle ausdrücken würde. Ein anderes Thema des Films scheint ihn bis in die Gegenwart zu verfolgen. Wie bekannt ist, wurde Polanski 2009 von Schweizer Behörden verhaftet und unter Hausarrest gestellt. Für den Künstler, der sich weltlicher Justiz entzogen und eine eigene «innere Gerichtsverhandlung» inszeniert hatte, bedeutete das Ereignis, dass er von seinem Schatten eingeholt wurde. Aber wer gab den Behörden, also Fremden, das Recht, einen Fall wieder aufzurollen, mit dem Täter wie Opfer ihren Frieden geschlossen hatten? So gesehen gleichen die staatlichen Racheengel einer Figur aus «Tess» mit dem verräterischen Namen Angel Claire – einem Mann, der sich weigert, seinen eigenen Schatten zu erkennen und deshalb auf der «befleckten Ehre» seiner Braut Tess unbarmherzig herumhackt. Die Unfähigkeit der «Guten» zu vergeben, zeigt Polanskis Meisterwerk, besitzt die Macht, einen Menschen zu zerstören.
Und wieder Sex und Gewalt
In seinen wichtigsten Filmen der folgenden Schaffensperiode bleibt das Thema Sex im Zusammenhang mit Gewalt und Demütigung präsent. «Bitter Moon» (1992) zeigt die umfassbare psychische Grausamkeit eines Mannes und einer Frau, die einander zugleich in sexueller Abhängigkeit verbunden sind. Emmanuelle Seigner, die Polanski kurz zuvor geheiratet hatte, spielt die Hauptrolle, Peter Coyote ihren Mann, der – später in den Rollstuhl gefesselt – von ihr bis aufs Blut gequält wird. Das von dunkler Begierde beherrschte Paar wirkt zugleich wie der Schatten eines zweiten Paares (Hugh Grant und Kristen Scott Thomas), das in zivilisierter, jedoch matter Liebesfreundschaft miteinander verbunden ist.
Mit «Der Tod und das Mädchen» (1994) thematisiert Polanski den Ursprung seines Traumas, den Faschismus, dann erstmals explizit. Paulina (Sigourney Weaver) glaubt in einem Besucher ihres Gatten (Ben Kingsley) den Mann wieder zu erkennen, der sie vor Jahren auf Befehl einer südamerikanischen Diktatur folterte und missbrauchte. Die Frage ist nun, ob Rache eine Lösung darstellt, ob die Folgen des Traumas ausgelöscht werden können, indem sich das Opfer dem moralischen Niveau des Täters nach unten angleicht. Im Gegensatz zu Tess entscheidet sich Paulina gegen die Rache: «Durch ihre Aggressivität versucht sie zwar zunächst, das Trauma abzureagieren, indem sie die Rollen verkehrt, aber dieser Weg führt sie nicht weiter, da er das Geschehene nicht zurücknehmen kann und dessen negativen Einfluss nur verstärkt» (Andreas Jacke). Wie in «Chinatown» kommt es also zu keiner «befriedigenden» Auflösung – etwa einer Bestrafung durch eine vermeintliche omnipotente Justiz. Nichts kann das Geschehene ungeschehen machen, Opfer und Täter müssen als Teil derselben Gesellschaft nebeneinander weiterleben.
Erlösung durch die Kunst
Welche Hoffnung bleibt also in einem filmischen Kosmos, der kein Happy End zuzulassen scheint? Die Antwort gibt «Der Pianist» in einer sehr bewegenden Sequenz. Ein Nazi-Hauptmann befielt Szpilmann, ihm eine Chopin-Ballade auf dem Klavier vorzuspielen. Der Offizier ist so beeindruckt, dass er den Pianisten leben lässt. Die durch Krieg und Faschismus verursachten monumentalen Verwüstungen sind durch diesen privaten Akt des Mitgefühls nicht ausgelöscht. Die Musik spiegelt aber das unauslöschliche Potenzial der menschlichen Seele, die Sehnsucht nach einer Seinsform, die über Gewalt und Niedrigkeit hinausweist. Es gibt immer nur Inseln der Menschlichkeit, die für Augenblicke wärmen können. Sie lassen aber durch den Kontrast die Absurdität und Schäbigkeit des Unmenschlichen noch stärker hervortreten. Nicht zuletzt zeigt die Schlüsselszene aus der Pianist, wie Traumata bearbeitet werden können: mit den Mitteln der Kunst.
Um dies glaubwürdig umzusetzen, bedurfte es aber eines Regisseurs, der Opfer- und Täterrolle, Licht und Schatten in seiner eigenen Seele vorgefunden und verarbeitet hat. «Der Gott des Gemetzels» und der Gott der Liebe, sie sind zwei Aspekte der erlebten Realität. Sie in scharfen, schmerzhaften wie faszinierenden Kontrasten auf die Leinwand gebannt zu haben, ist Polanski wie nur wenigen anderen Künstlern gelungen.
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