Produktionsfaktor Kind

Viele Schulen sind zu „Leer-Anstalten“ verkommen, in denen Kinder im Sinne ihrer künftigen Rolle als Konsumenten und Arbeitnehmer zurechtgebogen werden. Sind Montessori- und Waldorfschulen echte Alternativen zum Trend der totalen Ökonomisierung? Oder müssten völlig neue Konzepte entwickelt werden? (Roland Rottenfußer)

„Unsere Schule ist ein Fall für den Jugendschutz“, sagte eine aufgebrachte Mutter. Und eine zweite setzte noch eins drauf: „Dieses Schulsystem ist eine Zeitbombe“. Das Elternhaus müsse ausgleichen, was die Schule kaputt mache. Ihr Kind werde wegen schlechter Noten so fertig gemacht, dass sie jedes Mal lange brauche, um ihren Sprössling wieder aufzubauen. Die Wellen schlugen hoch als im Dezember in Tübingen Prominente mit Schülern und Eltern über den Frieden diskutierten. Sehr schnell kam die Rede auf Gewalt in den Schulen, auf Amokläufe und den Einfluss gewalttätiger Videospiele. „Ich bin ein Kind meiner Zeit“, hatte ein Junge seiner Mutter erklärend gesagt.



Ist von Kindern unserer Zeit eigentlich etwas anderes zu erwarten als Gewaltneigung und Materialismus? Imitieren jugendliche Erpresserbanden, die schwächeren Schülern Turnschuhe „abziehen“ nicht getreulich die mafiösen Strukturen unseres Wirtschaftslebens – nach dem Motto: „Ich nehme mir, was ich kriegen kann, wenn ich die Macht habe, es dir zu nehmen?“ Nicht umsonst hatte der Amokläufer von Emsdetten zu Protokoll gegeben: „Die Schule hat mich zu einem Verlierer gemacht.“ Ein Schülerin bei der Tübinger Diskussion gab aber auch zu bedenken: „Die Schule produziert nicht nur Verlierer, sie produziert auch die Arschlöcher von morgen, die später das System stützen, das wir hier bekämpfen.“



Bei einer Umfrage einer New Yorker Werbeagentur unter Teenagern auf der ganzen Welt stimmten die bei weitem meisten der folgenden Aussage zu: „Es kommt auf mich an, was ich aus meinem Leben mache.“ Das Grundgefühl totaler Eigenverantwortung mag löblich klingen, hat aber eine tragische Kehrseite: Es bildet sich eine Einzelkämpfermentalität heraus, bei der das Gefühl gegenseitiger Abhängigkeit und der Verantwortung für das Ganze im Schwinden begriffen ist. Die Buchautorin Naomi Klein („No Logo“) kommentiert: „Zweifellos kompensieren viele junge Leute ihr verlorenes Vertrauen in Politik und Konzerne, indem sie die sozialdarwinistischen Werte des Systems übernehmen, das für ihre soziale Unsicherheit verantwortlich ist. Sie werden härter, gieriger, zielbewusster.“



Lernen – am Leben vorbei



Eine weitere Problemzone der Schulen hat nicht so sehr damit zu tun, was diese ihren Schülern im Übermaß geben (z.B. Leistungsansporn auf der rationalen Ebene), sondern damit, was sie jungen Menschen nicht beibringen. Der blinde Fleck des Schulsystems besteht darin, dass seine Konzeption – von „Funktionstüchtigkeit“ im Hinblick auf künftige Arbeitsplätze einmal abgesehen – am wirklichen Leben vorbeigehen. Der Motivationstrainier Marco Leonardo aus Dessau hat deshalb 1996 eine „Lebensschule für Kinder“ begründet, die das Versäumte unterrichtsbegleitend nachholen möchte. Leonardo schreibt: „Wir haben gelernt wie lang der Nil ist, wie viele Einwohner New York hat und wie viel Braunkohle in Südostaustralien gefördert wird. (…) Aber was wir dort nicht lernen ist, wie man wirklich lebt. Wie man seinen Körper gesund erhält, wie man den richtigen Beruf und so später zu seiner Berufung findet, wie man den richtigen Partner findet und vor allem, wie man mit ihm glücklich wird.“



Muss man sich also, um das wirklich Wichtige zu lernen, außerhalb der Schulen umsehen? In Zeiten der allgemeinen Schulpflicht ist jede Zusatz- und Aufbauschule leider eine zusätzliche Belastung für die Kinder, die schon jetzt häufig darüber klagen, dass ihre Terminkalender voll, ihr Leben schon von der Vorpubertät an verplant ist. Da wäre es doch nahe liegender, die Schule selbst von vornherein so zu gestalten, dass sie all das sein kann: Vorbereitung auf die Anforderung des Berufslebens, Vorbereitung auf das, was Leben außerhalb von Büro und Firmengelände ausmacht, Schule kreativer Kräfte, ganzheitlicher Gesundheit und sozialer Fähigkeiten und nicht zuletzt ein Experimentierfeld der Selbst-Erkundung, das uns ermutigt, auf Visionssuche nach unserer wahren Bestimmung zu gehen. Gewöhnliche Schulen versuchen uns in Gussformen zu gießen, die Andere, meist Eltern, politische und wirtschaftliche „Autoritäten“, für uns angefertigt haben. Wirkliche Schulen müssten eher dazu ermutigen, dass wir uns nach unserem eigenen inneren Bild „kneten“, ohne dabei die Rücksichtnahme auf Gemeinschaft und Umwelt außer Acht zu lassen.



Maria Montessori – Erziehung ohne Zwang



Das erste bis heute folgenreiche erzieherische Experiment dieser Art fand 1907 in San Lorenzo, einem Armenviertel von Rom, statt. Dort wurde die erste „Casa dei Bambini“ (Kinderhaus) gegründet, in der mit großem Erfolg zum Teil verwahrloste Kinder der – wie man heute wieder sagt – „Unterschicht“ betreut wurden. Die Schulgründerin, Maria Montessori (siehe Foto), war eine im besten Sinne emanzipierte Frau, die erste Frau, die in Italien ein Medizinstudium mit Promotion abschloss. Signora Montessori war auch sonst recht eigenwillig. So weigerte sie sich, Kinder, die als „schwachsinnig“ in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden waren, aufzugeben und förderte sie mit Hilfe eigens dafür hergestellter Unterrichtsmaterialien, die in besonderem Maße die Sinne stimulierten.



Maria Montessori glaubte an den Eigenwert, die unverwechselbare Individualität der Kinder und bezweifelte den pädagogischen Nutzen von Strafen und strenger Kritik. Sie glaubte daran, dass die Lust am Lernen zu den natürlichen Motiven jedes Menschen gehört. Wenn man es richtig anpacke, müsse man als Erzieher weder Zwang noch Manipulation anwenden, um zu guten Ausbildungsergebnissen zu gelangen. Fasziniert beobachtete Maria Montessori, wie sich Kinder einem Spiel so intensiv widmeten, dass sie in eine andere Welt eintauchten und die Außenwelt völlig ausblenden konnten. Dieses Potential galt es zu nutzen und zu fördern und nicht durch ein rigides Zwangssystem im Keim zu ersticken.



Besucht man heute eine Montessori-Schule, so machen einen einige Besonderheiten der pädagogischen Vorgehensweise noch heute stutzig. In Klassenzimmern scheint es drunter und drüber zu gehen. Jeder Schüler, jede Schülerin scheint sich mit etwas Anderem zu beschäftigen, während die Lehrerin zwischen den am Boden kauernden Kindern hindurch geht und mal hier, mal dort unterstützend eingreift. Auch ist der Lärmpegel oft enorm, nicht zuletzt weil Schüler dazu angehalten sind, einander beim Lernen gegenseitig zu unterstützen. Auffällig sind auch die farbigen, sinnlichen Unterrichtsmaterialien: Mathematik erlernt man mit Hilfe eines Systems von „Perlenketten“, Geometrie mit einer Art „Nagelbrett“. Der Zugang zum Denken der Kinder erfolg in Montessori-Schulen grundsätzlich nicht auf abstraktem Wege, sondern über die Sinne.



Rudolf Steiner – der Philosoph als Schulgründer



Wenn man über alternative Schulmodelle spricht, muss man natürlich auch das zweite bedeutende etablierte System würdigen, jenes von Rudolf Steiner. Gegen meine Gewohnheit muss ich an dieser Stelle zunächst einen Vertreter der freien Wirtschaft loben: Emil Molt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts Direktor der Waldorf-Astoria-Zigarrettenfabrik. Molt war durchdrungen von dem Wunsch, den Kindern seiner Arbeiter eine umfassende, zukunftsorientierte Schulbildung zukommen zu lassen. Nachdem er einige Vorträge Rudolf Steiners gehört hatte, bat er diesen, die Gründung einer solchen Schule zu veranlassen und ihr erster Leiter zu werden. So kam es zur ersten Waldorf-Schule in Stuttgart im Jahr 1919.



Ein Institut, in dem Kinder in Steiners Anthroposophie unterrichtet werden, sollte die Schule von Anfang an nicht sein, vielmehr diente die Philosophie als allgemeiner ideeller Hintergrund, auf dem Lehrer nach eigenem Ermessen zum Wohl der Schüler handeln sollten. Die Besonderheit der ersten Waldorfschule sich bis heute in allen Schulen erhalten. Es handelt sich um eine Gesamtschule (also ohne Einteilung in Gymnasium, Haupt- und Realschule), die ohne Notenzeugnisse und Auslese durch Sitzenbleiben auskommt. Die Eltern zahlen ein in den meisten Fällen erschwingliches Schulgeld. Soziales Lernen sowie musische Fächer und Bewegung (u.a. die von Steiner kreierte Eurythmie) werden im Vergleich zu herkömmlichen Schulen überdurchschnittlich stark gefördert.



Idealismus, der zum Leben hinführt



Der Vorwurf, dass Waldorf-Schulen elitäre „Elfenbeintüme“ seien, in denen Schüler dem tatsächlichen Verhältnissen des (Wirtschafts-)Lebens entfremdet würden, trifft – zumindest wenn man die Absichten Steiners zugrunde legt – nicht zu. In seiner Schrift „Die pädagogische Grundlage der Waldorfschule“ schreibt Steiner: „Verhängnisvoll müsste es werden, wenn in den pädagogischen Grundanschauungen, auf denen die Waldorfschule aufgebaut werden soll, ein lebensfremder Geist waltete. Ein solcher tritt heute nur allzu leicht dort hervor, wo man ein Gefühl dafür entwickelt, welchen Anteil an der Zerrüttung der Zivilisation das Aufgehen in einer materialistischen Lebenshaltung und Gesinnung während der letzten Jahrzehnte hat.“



Da unsere Zeit der Epoche Steiners, was materialistische Gesinnung betrifft, in nichts nachsteht, ist man gespannt, worin der Schulgründer die Lösung sieht. „In ihrem pädagogischen und methodischen Geiste muss Idealismus wirken; aber ein Idealismus, der die Macht hat, in dem aufwachsenden Menschen die Kräfte und Fähigkeiten zu erwecken, die er im weiteren Lebensverlauf braucht, um für die gegenwärtige Menschengemeinschaft Arbeitstüchtigkeit und für sich einen ihn stützenden Lebenshalt zu haben.“ Also ein Idealismus, der zur Lebensbewältigung nicht im Widerspruch steht, sondern zu ihr hinführt.



Steiner gehört auch zu den Stammvätern eines in der Esoterikszene modischen, trotzdem aber im neuzeitlichen Schulbetrieb sträflich vernachlässigten Begriffs: Ganzheitlichkeit. Zwei Stunden Schulsport wöchentlich und ein bisschen Kunst und Musik können nicht darüber hinwegtäuschen, dass unsere Kinder im übertragenen Sinn zu technikbesessenen „Außerirdischen“ mit riesigen Köpfen und verkümmerten Körpern zu mutieren drohen. Ebenso bleiben die rechtshemisphärischen Fähigkeiten wie Imagination, Gefühl und Kreativität unterentwickelt. Und was die soziale Kompetenz betrifft, so erhält eine Gesellschaft, die kein Geld für Lehrkräfte und keine Zeit für die Begleitung gruppendynamischer Prozesse hat, derzeit lediglich jene „Monster“ zurück, die sie selbst gezüchtet hat.



Wie spirituell darf Erziehung sein?



Interessant ist auch die Frage, inwiefern ein spiritueller Ansatz in der Kindererziehung legitim oder hilfreich sein kann. Ein gewisser Einfluss der christlichen Kirchen mit ihrem konfessionellen Religionsunterricht ist in unserer Kultur noch immer fest verankert. Sicherlich wünscht sich kaum einer Zustände wie in einer islamischen Koranschule im von den Taliban beherrschten Afghanistan oder bei der Ausbildung von Kinder-Mönchen im alten Tibet. In beiden Fällen greift die religiöse Erziehung so total in das Leben der Kinder ein, dass die Entwicklung innerer Freiheit, geistiger Weite und selbständigen Denkens kaum möglich ist. Im Westen ist heute allerdings eher die umgekehrte Übertreibung zu beklagen. Die Dominanz von Shareholder Value und Zinssenkungsfantasie hat ethische Werte und kreative Fantasie auch an den Schulen bedrohlich ins Abseits gedrängt. Hier bietet Rudolf Steiners Konzept der spirituell-wertorientierten, jedoch nicht konfessionell einengenden Erziehung noch immer einen wertvollen Orientierungspunkt.



Im fortgeschrittenen Stadium der Unterwanderung der Schule durch inhumane Leistungsanforderungen müssen sich Eltern fragen, ob sie mehr sein wollen als der verlängerte Arm des Arbeitsmarktes im eigenen Haus. Ob sie bereit sind, ihre Kinder als verwertbares Material an die Wirtschaft auszuliefern – so wie die Müllerstochter ihr noch Ungeborenes im Märchen an ein gnadenlos egoistisches Rumpelstilzchen verhökert. Kinder, die spüren, dass Eltern nicht ehrlich und nicht mit ihnen solidarisch sind, laufen Gefahr, krank in ihrer Seele zu werden. Sie verlieren die Achtung: vor ihren Eltern, vor dem System, das sie repräsentieren, und schließlich vor sich selbst.

14. Mai 2009
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