Reines Sein am Tropf

Ein Erfahrungsbericht aus dem Erleuchtetenwohnheim «Eternal BEING». (Satire von Roland Rottenfußer)

Ich war schon sehr neugierig geworden, seit ich zum ersten Mal von der Existenz eines sogenannten Erleuchtetenwohnheims im Oberpfälzer Bad Kötzting gehört hatte. Der Leiter der Anstalt «Eternal BEING», Krishawurshti W. Lau, empfing mich und führte mich durch die Räumlichkeiten des Wohnheims, das einer Mischung aus Kloster und sterilem Sanatorium glich. Nach unserem Weg durch ein Labyrinth von Gängen und Zimmern, in denen ich immer wieder an Gruppen meditierender, wandelnder oder Bhajans singender Erleuchteter vorbeikam, näherten wir uns, wie Krishnawursthi es ausdrückte, dem «Herz der Anlage«.




Was ich dort sah, war für einen Unvorbereiteten freilich auf den ersten Blick schockierend. Ich kam in einen gewaltigen, fast turnhallengroßen fensterlosen Raum, der in ein rötliches Halbdämmerlicht getaucht war. Es war warm wie in einer mild temperierten Sauna. Die Atmosphäre erinnerte an das Innere eines riesigen Mutterbauchs. Im ganzen Saal, zu sechs oder sieben exakten geometrischen Linien aufgereiht, standen viele Dutzende mit Wasser gefüllter Behältnisse, Badewannen gleich, an denen blinkende, leise surrende Apparaturen mit für mich unverständlicher Funktion angebracht waren, ähnlich den lebenserhaltenden Geräten in einer Intensivstation.




In jeder der Wannen lag, nein schwamm ein nackter menschlicher Körper – regungslos. An den Armen und an den unteren Körperöffnungen waren Schläuche befestigt, die zu den Apparturen führten. Die meisten der Körper waren nicht hager, jedoch von schwächlicher Konstitution, ohne durchgebildete Muskulatur und – soweit man es unter dem rötlichen Dämmerlicht erkennen konnte – kreidebleich wie die Körper von noch frischen Leichen. Auf den Gesichtern lag jedoch ein solch seliges, entrücktes Lächeln, dass man sich nicht recht entscheiden konnte, ob man die Wannenbewohner bedauern oder beneiden sollte.




Mein Begleiter schien meine Verstörung und Ratlosigkeit zu bemerken und erklärte: «Das sind Menschen, die den Zustand reinen Seins verwirklicht haben. Wir nennen diese Vorrichtungen deshalb auch Samadhi-Wannen. So seltsam es Ihnen auch auf den ersten Blick vorkommen mag: diese Wannen sind das Ziel jeglichen menschlichen Strebens. Besser: sie sind das Ende allen Suchens und Strebens. Ihnen scheint es, als ob diese Menschen schlafen würde, aber ich versichere Ihnen: in Wahrheit sind wir es, die schlafen, jene sind die Erwachten. Sie sind aufgewacht aus einem Traum, in dem Sie und ich noch gefangen sind. Auch sind sie nicht bewegungslos, sie befinden sich auf der aufregendsten Reise, zu der ein Mensch fähig ist: der Reise zu ihrem wahren Selbst.»




Krishawurshti erklärt mir, dass die Erwachten durch Infusion in die Armvenen ernährt werden. Ein Flüssigkeit, die alle für den Menschen notwendigen Stoffe enthält und Essen und Trinken somit überflüssig macht. Die Verdauungsprodukte werden durch Schläuche abgeführt, die direkt an den entsprechenden Körperöffnungen installiert sind. Die Erwachten treiben in einer lauwarmen, hautschonenden Nährflüssigkeit, deren Temperatur und Beschaffenheit maschinell geregelt wird. Die Rhythmen von Tag und Nacht, Hell und Dunkel, Hunger und Sättigung sind somit vollkommen ausgeblendet. Dadurch entsteht für die Wannenbewohner der Eindruck eines raum- und zeitlosen Schwebens, das es erleichtert, den Körper zu vergessen und ganz nach innen zu gehen.




«Es besteht kein Grund, die Heimbewohner wegen ihrer körperlich sehr eingeschränkten Lage zu bedauern», schien Krishawurshti meine Skepsis vorwegzunehmen. «Sie nehmen nicht wahr, wo sie sind und in welchem Zustand sich ihre Körper befinden. Es gibt für sie keine Wannen, keine Apparate, kein Licht, keine Blumen, keinen Wind und keinen Schnee, der auf der Haut schmilzt, keine menschliche Berührung, keine Lust, kein Leid, kein Auf und ab mehr. Nie mehr. Der Vorhang über ihr Drama ist gefallen, der Schlussakkord ist verklungen. Dort, wo sie sich aufhalten, ist Reinheit, klare Höhenluft. Sie müssen ihn nicht mehr einatmen, den fauligen Mundgeruch der Erde. Ihr Ohr wird nicht mehr beleidigt vom ewig kreisenden Geplapper menschlichen Gedankenmülls. Diese Menschen sind vollkommen glücklich.»




«Wenn es so paradiesisch in den Samadhi-Wannen ist, warum legen Sie sich dann nicht selbst hinein», frage ich Krishawursthi W. Lau. «Ich bin noch nicht so weit», erwidert der Anstaltsleiter, «aber in zweieinhalb Jahren habe ich meinen Dienst hier abgeleistet, dann darf ich für den Rest meines Lebens in die Wanne, und die Neuankömmlinge verrichten den Dienst für mich», erzählt er mit leuchtenden Augen.




Und dann schildert er mir die Geschichte seines abgebrochenen Erwachens. «Es war bei einem Satsang meines spirituellen Lehrers Onananda», erzählt Krishawurshti bewegt: «Plötzlich sah ich ein Licht und fühlte zugleich: ich war das Licht. Für Stunden verharrte ich in einem Zustand absoluter Glückseligkeit. Weder war ich, noch war ich nicht, es gab kein Ich mehr, das hätte sein oder nicht sein können. Doch leider meldete sich nach einiger Zeit meine Blase, und ich war gezwungen, den Samadhi zu verlassen.




Von vielen Erwachten habe ich seither ähnlich traurige Geschichten gehört. Sie hätten bis zum Tod im absoluten SEIN bleiben können, doch die Pflicht, für die Erhaltung ihres Körpers zu sorgen, zwingt sie zu essen, zu trinken, für eine geheizte Wohnung zu sorgen und somit für Gelderwerb zu arbeiten. So verlieren sie sich wieder in den Schattenspielen der Maya-Welt und können ihre Samadhis immer nur für kurze Zeit aufrecht erhalten. Was für eine Erniedrigung, dachte ich schon damals: Ein Tier, das einen Gott knechtet und ihm seine Gesetze aufzwingt. Was wäre aber, wenn es eine Institution gäbe, die uns Erwachten jegliche Sorge für die Erhaltung unserer Körper abnähme – für immer?




Ausgehend von dieser Überlegung schuf ich das Erleuchtetenwohnheim Eternal BEING mit seinen zwei Stufen des Erwachens. Der Äussere Kreis ist eine Art Mönchsgemeinschaft, in der aber noch gegessen und getrunken wird und die Erwachten ihre Körper selbständig bewegen. Die Angehörigen des Äusseren Kreises geben teilweise noch Seminare und Satsangs – gegen Geld, das sie der Gemeischaft zur Verfügung stellen. Sie pflegen den Garten und beteiligen sich an der Hausarbeit, haben aber genügend Ruhezeiten, um zu meditieren. Wer genug Geld in die Gemeinschaft mitgebracht hat oder im Äusseren Kreis einige Jahre nützliche Dienste geleistet hat, bekommt dann lebenslanges Aufenthaltsrecht im Inneren Kreis, genauer gesagt: in den Samadhi-Wannen, die es dem Erwachten ermöglichen, ohne die Zwänge der Biologie für immer im SEIN zu verharren.




Verstehen Sie, was für einen ungeheuren historischen Sieg wir errungen haben: den vollkommenen Sieg des Bewusstseins über die Materie. Wir haben die Macht des Tierkörpers über das reine Bewusstsein gebrochen. Mit diesen Wannen haben wir den Irrtum der Geburt zurückgenommen, die Demütigung des Geworfenseins in Bewusstseinsverdunkelung und Körperknechtschaft. Nach dem Totalausstieg aus der Maya-Welt ist das reine Bewusstsein kein Mitspieler mehr, es ist nicht einmal mehr Zeuge, denn was gibt es in der substanzlosen Schattenwelt, was es wert wäre, bezeugt zu werden? Die Welt, wie wir sie kennen, existiert für ein solches Bewusstsein nicht mehr.»




Ich frage Krishawurshti, ob es nicht vielmehr Aufgabe des Menschen sei, sich in die Welt einzubringen und materielle Erfahrungen zu machen.



«Sehen Sie, solchen Fragen begegne ich immer wieder, und meine Antwort ist immer die selbe: Nein, es gibt keine Verpflichtung des reinen Bewusstseins, sich in die sogenannte Realität ‘einzubringen’. Wenn die Seele jung ist, sieht sie die Welt wie einen Sandkasten. Überall will sie ihre Fussspuren hinterlassen und das vorhandenen Material zu neuen Gestalten formen. Die Seele mittleren Alters sieht die Welt dagegen als Schule. Als Schüler durchläuft sie ein Lernprogramm, dabei kommt es aber nicht darauf an, dass du diesen Ort formst, sondern nur darauf, wie dieser Ort dich formt. Die alte, reif gewordene Seele schliesslich sieht die Welt als Film, als flirrendes Schattenspiel des Uneigentlichen – ohne Substanz, ohne wirkliches Sein. Es gibt nun nichts mehr zu formen und nichts mehr zu lernen. Alles, was du glaubst lernen zu können, bist du bereits. Wende deine Augen von der Leinwand ab, verschliesse deine Ohren und gehe nach innen: dort findest du das Eigentliche, das absolute Sein. Für den solcherart Erwachten hat sich die Notwendigkeit der Beteiligung an der äußeren Realität einfach erübrigt.»




Philosophisch ist das einleuchtend, erwidere ich meinem Begleichter, aber wie ist diese Lebensweise finanzierbar? «Die Heimbewohner müssen ein gewisses Grundkapital mitbringen. Dieses Geld wird dann von den klinikeigenen Fondmanagern angelegt. Wir sind stolz darauf, mit den SEIN-Fonds überdurchnittliche Renditen von 15-16% zu erzielen. Wer mit 30 in die Samadhi-Wanne geht, ist mit 70 aufgrund der Verzinsung mehrfacher Millionär. Er wird dieses Geld aber nicht ausgeben (denn er ist über materielle Wünsche erhaben), sondern es kommt der Klinik, ihren Personalkosten und den Kosten zur Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen zugute.»




«Dumme Frage: Was wäre, wenn sich jeder in die Badewanne legt und beschliesst, einfach nur zu sein? Einer muss schliesslich die Pflegearbeiten machen, einer die Nährflüssigkeit zusammenstellen, einer die Geräte herstellen ...»




Auch auf diese provozierende Frage weiss der Anstaltsleiter eine Antwort: «Das System ermöglicht es Seelen jeden Alters, die ihrer Bewusstseinsstufe gemässen Erfahrungen zu machen. Jungen Seelen, die noch ganz in der Maya-Welt zentriert sind, wird die Gelegenheit gegeben, die materielle Erfahrung harter Arbeit zu machen. Dadurch können jene Gelder erwirtschaftet werden, die es unseren Heimbewohnern ermöglichen, das reine Sein zu verwirklichen.»




Im Innersten aufgewühlt von den Ausführungen Krishawurshti W. Laus denke ich darüber nach, ob ich nicht auf der falschen Seite des Wannenrandes stehe. Ich mag überlegen lächeln über die bleichen Leiber der Entrückten, die wie riesenhafte Föten im dunklen Leib des Sanatoriums dämmern und von jeder Frischluftzufuhr der Verantwortung, der Herausforderungen des Lebens abgeschnitten sind. Und doch kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die entschwebten Gesichtszüge dieser erwachten Schläfer dort in den Wannen über mich lächeln. Sie lächeln über mein Sehnen, Ringen und Sich-Abstrampeln, über mein Schämen und mein Ängstigen. Und über den dummen Stolz, den ich gelegentlich empfinde angesichts der welkenden Lorbeern meiner in den Schattenboxkämpfen dieser Maya-Welt errungenen Siege.




Seitdem ich das Wohnheim verlassen habe, grüble ich ernstlich darüber nach, wie ich mir eine stattliche Summe Geldes beschaffen könnte.

27. Oktober 2009
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