Rohullah, der Ziegenhirte

Die Flüchtlingsdebatte nimmt mittlerweile neue Dimensionen an und spaltet die Gesellschaft. Doch entgegen der landläufigen Meinung sind die Hintergründe ganz anders, als in der Öffentlichkeit vielfach dargestellt.

Geflüchtete trainieren für die TELC-Prüfung. Foto/Copyright: Vlad Georgescu
Geflüchtete trainieren für die TELC-Prüfung. Foto/Copyright: Vlad Georgescu

3000 Stunden. 3 Jahre lang. So lange habe ich Geflüchtete in Deutschland unterrichtet, im Auftrag des Landes Niedersachsen, des Bundes und überhaupt: für Vater Staat. Wer, so wie ich von 2016 bis 2019, Deutschkurse leitete und durchführte, kennt heute nicht nur eine Menge Menschen, die mit Null Fremdsprachenkenntnissen nach Europa kamen. Er hat auch Einblick in die wahre Welt der europäischen Migrationskrise.

Und anders als mein Kollege Nicolas Lindt uns glauben lassen will, kamen viele hierher, die in ihrem Heimatland nichts besassen. Rohulla, der Ziegenhirte etwa, der in Afghanistan so gut wie nichts verdiente - aber 25'000 Euro für die Passage nach Deutschland zahlte. Oder die Frau aus Mali, die als Krankenschwester die Libyen-Route wählte. Oder, oder, oder....

Woher er denn das Geld hatte, wollte ich damals von Rohullah* wissen. Er wusste es auch nicht, erklärte mir aber das Prozedere: Jeder Reisende bekam ein Handy, und bei jeder Etappe kam ein Anruf mit Anweisungen. Die enthielten Angaben zu Orten, an denen Unbekannte den Flüchtenden Geld für die jeweils nächste Etappe bar auszahlten, so dass die Schlepper ihre weitere Arbeit verrichten konnten.

Der Mechanismus lief bis an der deutschen Grenze. Afghanistan - Iran - Türkei - Griechenland und der Balkan. Irgendwann war Rohullah, der Ziegenhirte ohne Geld, angekommen.

Nicht anders erging es der Krankenschwester aus Mali. Mit einem kleinen Unterschied. In Italien angekommen war erst mal Schluss. Weil sie, wie alle an Bord der stählernen Tonne - ein Schiff - auf dem Mittelmeer die Pässe entsorgen mussten, stand fest: Erstaufnahme und Registrierung mussten in Italien erfolgen. Was aber ein italienischer Richter zu verhindern wusste. 5'000 Dollar, so der womöglich mafiotisch gelenkte Rechtsvertreter, würde die Weiterreise nach Deutschland kosten. Was die ominösen Finanzierer der Reisenden übernahmen. Man kann demnach, lieber Nicolas, erkennen: Viele kamen ohne Geld. Und die meisten haben in ihrem Heimatland nie Geld besessen.

Gewiss, es gibt auch die anderen. Ein hochgebildeter Funktionär des Islamischen Staates (IS) etwa, mit dem ich mich lange über geopolitische Themen unterhielt, bevor er eines Tages spurlos aus unserem Ort verschwand, zeigte mir seine Kreditkarten. Bank of Bagdad, eine weitere Karte einer türkischen Bank, und Kontoauszüge, auf denen rund 160'000 US Dollar zu sehen waren - im Irak. In Deutschland bezog er Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz und später vermutlich Hartz IV. Oder auch nicht.

Ich bin in einem sozialistischen Land aufgewachsen und daher wenig bibelfest. «Wer hat, dem wird gegeben». Vielleicht steht das irgendwo da drin.

Zwischen Rohulla, dem Ziegenhirten, und dem Strategen des IS, kamen auch vereinzelt Versprengte. Meist Männer. Und die, das lehrten mich meine Schüler, seien wirklich mit Vorsicht zu geniessen. Denn niemand würde in der arabischen, persischen oder afghanischen Kultur seine Familie zurücklassen, um hierzulande allein Fuss zu fassen. Was uns viele Medien damals aber glauben lassen wollten.

Wer die Finanzierung der grossen Welle übernahm, wissen Nachrichtendienste wie der BND. Was mir wiederum ein Kindergartenfreund erzählte, der mit mir in den 1970ern die Deutsche Schule in Bukarest besuchte. Damals unter den wachsamen Augen unseres mittlerweile verblichenen Diktators Nicolae Ceausescu. Heute, zumindest er, unter den wachsamen Augen des rumänischen Auslandsgeheimdienstes Serviciul de Informatii Externe, SIE. Wobei nur wenige Augen über ihn wachen, weil er Uniform und vier Sterne auf seinen Schultern trägt. So ähnlich jedenfalls.

Ich weiss nicht, was ein Volk braucht oder lieber nicht haben will.

Erst Recht nicht, was für die Schweiz das Beste ist. Was ich aber weiss ist, dass meine Schülerinnen und Schüler, aus Afghanistan, Iran, Tschetschenien, Irak, Ukraine und Syrien oder Libyen, Kongo und Mali kommend, im Jahr 2016 keinen Brocken Deutsch sprachen.

Wofür Vater Staat mich ins Rennen schickte. Und da wurde mir schnell klar: Viele hatten einfach keine Lust zu lernen, fehlten unentschuldigt, kamen zu spät. Ich fragte Raad, warum das so sei. Und der Mann aus dem Irak erklärte mir, dass sie dort andere Lernstrukturen hatten. Disziplin, kein Wattebausch. Respekt. Aktion und Reaktion. Kam mir bekannt vor.

Also hielt ich eine Ansprache. Und meine Klasse erfuhr, dass ich heute fliessend Deutsch rede, wofür ich nichts kann, weil ich zweisprachig aufwuchs. Und dass meine Mutter nach 50 Jahren Deutschunterricht immer noch Der Die Das verwechselt. Vor allem aber, dass ich selbst einen 'geliebten Führer' hatte, der ihrem 'geliebten Führer' in Damaskus oder Bagdad oft und gerne die Hände geschüttelt hat.

Die eigentliche Botschaft indes lautete: Wer in meinen Kursen unentschuldigt zu spät kommt, braucht gar nicht mehr zu kommen. Ein paar Teilnehmer tauchten tatsächlich unter, ich hoffe, nicht wegen meiner Rede. Ganz sicher aber, weil ich zum Leidwesen der Ämter die Teilnehmerlisten nicht ad acta legte, sondern den Gesetzen folgend weitergab.

Die anderen blieben, und schafften irgendwann den Abschluss Deutsch B2 mit erfolgreich abgelegter TELC-Prüfung. Danach, früher oder später, Arbeit oder eine Ausbildung findend. 

Rohullah, der Ziegenhirte, war einer meiner besten Schüler. Nicht nur er machten anschliessend den Hauptschulabschluss, heute sind nahezu alle meine Schülerinnen und Schüler in Lohn und Brot. Die Frau aus Mali arbeitet als Krankenschwester, nachdem sie die entsprechend Ausbildung in Deutschland absolvierte. Ein Iraner ist Tischler, ein Afghane Tontechniker geworden.

Ist also alles gut? Mitnichten. Doch manchmal hilft Improvisation.

So kam eines Tages unsere jüngste Schülerin, eine 17-jährige Kurdin, sehr verängstigt zum Unterricht. Sie sagte mir, dass sie ein Afghane jeden Tag am Bahnhof beobachtete und sie sogar belästigt habe. Stalking sagt man dazu. Wir berieten in der Klasse, was zu tun sei. Die Polizei, erklärte ich allen, würde nichts machen, solange nichts passiert. Und eine verbale Belästigung ohne Zeugen, ohne die Identität des Täters zu kennen, lässt allenfalls die Kaffeetassen im Polizeirevier unnötig erkalten.

Also bot sich Ali, ein sehr kleiner Afghane mit einem riesigen Siegelring am Finger, an, das Problem zu lösen. Zwei Tage später strahlte unsere Schülerin, und ihr Stalker war, wie sie sagte, «weg». Was mich veranlasste Schüler Ali zu fragen, was um Gottes Willen er denn getan hätte, und wie er den Mann überhaupt hatte auffinden können. Seine Erklärung war schlicht: «Wir kennen hier alle Landsleute. Ich habe mich mit ihm getroffen. Beim ersten Mal rede ich mit ihm». Was das zweite Mal bewirkt hätte, wollte ich gar nicht mehr wissen. Ali hat dem Mann vermutlich erklärt, was der Straftatbestand des Stalking bedeutet.

Gestern wiederum traf ich Rohullah zufällig bei ALDI. Wir sind beide nicht jünger geworden, doch er sah erholt aus. Weil er, wie alle die ich kenne, mittlerweile fliessend Deutsch redet und sozialverisicherungspflichtig angestellt ist. Ich fragte ihn, was er von jenen hält, die herkommen, um Bürgergeld zu kassieren. Rohullah, der Ziegenhirte, antwortete lachend: «Wenn sie nicht lernen wollen, dann musst du sie unterrichten»

*um die wahre Identität der Personen zu schützen, wurden alle Namen der Geflüchteten von der Redaktion geändert. Ihre wahre Identität ist dem Autor bekannt.

 

25. Januar 2024
von:

Kommentare

Sehr schön

von MS
Schöne Geschichte und tolle Antwort auf den Artikel von Nicolas. Ich finde, sowohl als auch bzw. die beiden Artikel widersprechen sich für mich nicht bzw. nicht zwingend. UND v.a. müsste dem Elefanten im Raum nachgegangen werden: Wer finanziert also die Schlepper, wenn es nicht die geflüchteten Menschen selbst sind und aus welchen Interessen?!?