Ein Land braucht sein Volk
Selbst 100’000 neu eingereiste Migranten im letzten Jahr ändern nichts daran, dass wir uns mit Massnahmen gegen die überbordende Einwanderung immer noch schwertun. Kolumne aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.
Eigentlich hätten wir aufstehen und auf die Strasse gehen müssen. Eigentlich hätten wir in grosser Zahl vor dem Bundeshaus protestieren müssen gegen die Selbstverständlichkeit einer Zahl, hinter der eine Überforderung – oder mehr noch: ein Kapitulieren – steht. Das Kapitulieren vor der erschreckenden Tatsache, dass allein im letzten Jahr 100’000 Menschen neu in die Schweiz immigrierten. Die Zurückgewanderten abgezählt. Und ein grosser Teil dieser Neuangekommenen sind ein weiteres Mal Migranten aus Afrika und Nahost.
Doch obwohl wir alle auf die eine oder andere Art erleben, was dieser unaufhaltsame Zustrom bedeutet, bleibt der Platz vor dem Bundeshaus leer. Wir schlucken die überfüllten Züge, Strassen, Spitäler, Schulen, Arztpraxen, Einkaufszentren und Naherholungsgebiete, dieses ganze landesweite Gedränge – wir ertragen es, als müssten wir Busse tun.
Und genau darum geht es. Wir tun Busse seit den sechziger Jahren, seit wir – frei nach Max Frisch – Arbeitskräfte riefen, und Menschen kamen. Seither haben wir ein schlechtes Gewissen. Weil es uns besser geht als den Migranten, die zu uns kommen. Weil wir nicht die Heimat verlassen mussten wie sie. Weil wir nicht unten anfangen müssen wie sie. Deshalb prallen nach wie vor alle vernünftigen Argumente, die gegen die Masseneinwanderung sprechen, wirkungslos an uns ab.
Die Vorstellung, Migranten aus Entwicklungsländern konsequent abzuweisen und illegal Eingereiste sogar wieder auszuschaffen – wie es andere Staaten schon lange tun –, bereitet uns Mühe. Wir kompensieren das schlechte Gewissen mit Mitgefühl. Auf diese Weise entlasten wir uns. Wir haben Mitleid mit Menschen, denen es schlechter geht, wir zeigen Verständnis, wir möchten helfen. Wenn neben uns in der S-Bahn eine Frau aus Afrika sitzt, dann spüren wir zwar, dass sie uns fremd ist, doch das schlechte Gewissen drängt uns zu Toleranz und Grosszügigkeit, und wir denken vielleicht daran, dass sie für uns eine Arbeit verrichtet, die wir selber nicht machen würden.
Ich selber glaube nicht, ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Warum nicht? Vor zehn Jahren, im gleichen Jahr, als in der Schweiz die Masseneinwanderungsinitiative angenommen, aber danach nicht umgesetzt wurde, hielt ich mich in Tunesien auf. Ferienhalber. Als wir in Tunis einmal ein Taxi nahmen, unterhielten wir uns mit dem Taxichauffeur, der Französisch sprach, und ich fragte ihn, was er über vielen jungen Landsleute denke, die den Weg übers Meer auf sich nehmen, um ihr Heil in Europa zu finden.
Darauf meinte der Taxifahrer, dass er gar nichts von ihnen halte. Er selber würde sein Land nie verlassen. Er sei hier geboren und gehöre hierher. Es war eine schlichte Antwort, doch sie machte mich nachdenklich. Der Taxifahrer besass nur sein Taxi und darüber hinaus seine Armut, denn Taxichauffeure wie ihn gab es hunderte, und ihr Kampf um jeden einzelnen Fahrgast war ein Kampf um die Existenz. Trotzdem wollte der Mann seine Heimat nicht gegen das fremde Europa tauschen, das ihm ein besseres Leben verhiess.
Spätestens seit jener Begegnung in Tunis hat sich meine Haltung zu Migranten, die aus dem Orient und aus Afrika kommen, geändert. In einem arabischen Land wie Tunesien haben es fast alle schwer. Auch unser Taxifahrer hätte jedes moralische Recht, sein Taxi an den Meistbietenden zu verkaufen und sein ganzes Erspartes zusammenzukratzen, um es bei dunkler Nacht an einem tunesischen Strand einem Schlepper zu übergeben. Alle Taxifahrer in Tunis hätten dasselbe Recht, dies zu tun. Hunderttausende andere junge Tunesier genauso. Das ganze tunesische Volk, mit Ausnahme seiner Oberschicht, könnte auf Lampedusa an Land gehen, Italien durchqueren und in Chiasso am Schweizer Zoll um Einlass ersuchen. Alle hätten dasselbe Recht, zu uns zu kommen.
Aber die allermeisten Tunesier und Marokkaner, Algerier und Syrer, Kosovaren und Türken, Afghanen und Schwarzafrikaner – die allermeisten bleiben zu Hause. Sie bleiben in ihrer Heimat, obwohl sie es, wenn sie es schaffen würden, in Europa materiell leichter hätten. Mein Mitgefühl gilt deshalb nicht nur jenen, die hier sind, sondern ebenso sehr ihren Brüdern und Schwestern zu Hause, die der Heimat die Treue halten und trotz schwierigster Lebensumstände nicht resignieren. Dass sie sich dem Existenzkampf im eigenen Land nicht entziehen, macht mir genausovil Eindruck wie das Wagnis der Flucht übers Mittelmeer.
Jene, die gehen, sind bestimmt nicht die Ärmsten, sonst hätten ihre Familien nicht das nötige Geld für die Schlepper. Jene, die gehen – und ich kann das verstehen – geben sich nicht zufrieden mit dem, was sie haben. Jene, die gehen, sind nicht die, die nichts können. Weil sie besser gebildet sind, träumen sie von beruflichem Aufstieg. Sie sind ambitiös, motiviert, in ihnen steckt eine Energie, die ihrer Heimat zugutekäme, würden sie bleiben. Aber sie nehmen ihn mit, ihren Power, sie bringen ihn nach Europa, und ihr Land hat das Nachsehen.
Vielleicht versprechen sie noch: Wir kommen zurück. Aber dann sind sie hier und vergessen, was sie versprochen haben. Sie schicken zwar Geld zurück, weil auch sie ein schlechtes Gewissen bekommen. Aber die Almosen aus Europa nützen dem Heimatland nichts, sie machen die Zurückgebliebenen lediglich träge und permanent hungrig nach Nachschub.
Wenn die Migranten dann hier sind, merken die meisten von ihnen, dass sich ihre Träume als Schäume erweisen. Auf ihre möglicherweise höhere Ausbildung, die sie zu Hause genossen haben, hat hier niemand gewartet. Sie müssen ganz unten anfangen, und mit unten ist in letzter Instanz das Sozialamt gemeint. Doch jetzt sind sie hier. Jetzt sitzen sie fest in den Billigblöcken der Agglo und trennen den Abfall, wie die Schweizer es machen. In ihren Telefonaten schwärmen sie den Verwandten zu Hause von den Kuchenstücken des Paradieses, die sie ergattert haben. Doch in Wirklichkeit sind es nur Krümel. Für ein paar Kuchenkrümel haben sie ihr Geburtsland im Stich gelassen, obwohl ihre Heimat sie brauchen würde.
***
Was ich über die Wirtschaftsmigranten aus Arabien und Afrika sagte, könnte – bei allen Unterschieden – auch für die Flüchtlinge aus der Ukraine gelten. Auch bei ihnen stellt sich die rhetorische Frage: Warum sind nur acht Millionen Ukrainer aus ihrer Heimat in andere Länder Europas geflüchtet? Hätten nicht die zu Hause gebliebenen 36 Millionen dasselbe Recht für sich beanspruchen können, dem Konflikt zu entkommen? Aber sie sind geblieben, trotz der Bedrohung, trotz den Gefahren und Einschränkungen, die der unverändert herrschende Krieg mit sich bringt. Sind sie also die Dummen, die ihre Chance nicht packten, um ihr kriegsversehrtes, am Boden liegendes Land zu verlassen und ein besseres Leben bei uns zu beginnen?
Es ist dieselbe Geschichte wie in Arabien und Afrika: Ein Land blutet aus, und die Cleveren gehen, obwohl die meisten von ihnen auch bleiben könnten – so wie alle anderen, die geblieben sind. Und auch, was die Ukraine betrifft, könnte man den Migranten, die hier bei uns bereits im Begriff sind, neu anzufangen, die Frage stellen: Warum kehrt ihr nicht heim – sofern das Kriegsgeschehen es erlaubt? Warum wollt ihr das, was ihr könnt und in der Ukraine gelernt habt, eurem Land nicht zurückgeben?
Eigentlich dürfte nicht ich diese Fragen stellen. Denn ich will es nicht besser wissen. Aber es gibt eine Stimme, die kompetenter ist als die meine. Serhi Leschtschenko, ein Berater aus der Regierung Selenskis, findet in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger überraschend offene Worte. Er spricht sich für eine Remigration der Flüchtlinge aus.
«Die Rückkehrer müssten nicht in den Schützengräben kämpfen. Aber sie können in der Ukraine im Supermarkt ukrainische Produkte kaufen und Mieten für eine Kiewer Wohnung bezahlen, die Kliniken und Apotheken nutzen und ihre Steuern bezahlen, damit wir Schulen finanzieren können. Ihr Geld fehlt in der Wirtschaft. Und die Situation wird immer schwieriger. Jetzt gehen ihre Kinder und Jugendlichen in europäischen Ländern zur Schule und integrieren sich dort immer mehr. So wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie zurückkommen, immer geringer. Und wir verlieren eine ganze Generation an jungen Leuten.»
Der Berater beschönigt nichts. Er sagt es unmissverständlich: Wir brauchen die Emigrierten. Ein Land braucht sein Volk. Das ganze Volk. Dasselbe könnten auch die Verantwortlichen in den arabischen und afrikanischen Ländern sagen, denen die jungen Menschen, geködert vom reichen Europa, davonlaufen. Auch sie könnten sagen, was der Berater der Regierung Selenski dem Tages-Anzeiger zu Protokoll gibt: «Ich glaube, die Gastländer sollten aufhören, die Flüchtlinge zu unterstützen. Damit sie heimkehren.»
Die Meinung der Kolumnisten braucht mit derer der Redaktion nicht übereinzustimmen.
Der Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt ist neu auch als App erhältlich. Darin enthalten sind alle 350 bisherigen Folgen – und jeden Tag werden es mehr. Fünf Minuten tägliche Inspiration für alle, die Geschichten und Gedankenanstösse lieben. Alle zwei Wochen ein aktueller Beitrag zum Zeitgeschehen. Mit Humor und einer Prise Spiritualität.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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Der Fünf Minuten-Podcast «Mitten im Leben» von Nicolas Lindt ist als App erhältlich und auch zu finden auf Spotify, iTunes und Audible. Sie enthält über 400 Beiträge – und von Montag bis Freitag kommt täglich eine neue Folge hinzu.
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Kommentare
weder pro noch kontra, sondern beides
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Nachtrag
Danke für diesen Kommentar ... den Nachtrag der Redaktion haben wir nach interner Diskussion wieder herausgenommen. Es gilt die Meinungsfreiheit. Inzwischen hat ein Redaktionskollege einen eigenen Text zu dem Thema geschrieben, hier: https://zeitpunkt.ch/rohullah-der-ziegenhirte
Es bleibt spannend, wie wir mit so vielschichtigen und brisanten Themen umgehen, für die es meiner Meinung nach keine einfache Antwort gibt.
Christa Dregger
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Schöne Diskussion
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Schlechtes Gewissen
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