«Sie sind alle unverheiratet»
Wie sich in der Zürcher «Öpfelchammer» ein unverhoffter Gast zu mir setzte, wie in der Schweiz von der Popmusik niemand leben konnte – und woher die Rettung kam. Aus der Serie «Als ich mich in die Welt verliebte. Chronik einer Leidenschaft» von Nicolas Lindt #43
«Morgen beginnt das letzte Schulhalbjahr», schrieb ich am 17. April 1972 ins Tagebuch. «Ich bin froh. Vom Herbst an muss ich dann über mein Leben ganz selbst entscheiden.»
Auffallend an diesem Tagebucheintrag ist, dass ich die «muss»-Form verwendete. Ich hätte auch schreiben können: Vom Herbst an KANN ich über mein Leben ganz selbst entscheiden. Bei aller Vorfreude auf das Ende der Schulzeit spürte ich offenbar doch, dass Freiheit auch Verantwortung heisst. Vom Herbst an sagte mir niemand mehr, was ich zu tun hatte. Ganz auf mich kam es an.
Damals war es noch so, dass das Semester erst im September zu Ende ging. Und im Juli, unmittelbar vor den Ferien, warteten die Prüfungen für die Matura. Unverbesserlich optimistisch sah ich den Examen gelassen entgegen. Ich war auch vernünftig genug, um dafür lernen zu wollen. Ich wollte nicht viereinhalb Jahre vergeblich gelitten haben. Der einzige Unsicherheitsfaktor war die Mathematik. Wie ich bereits erzählte, hatte ich aufgegeben, die höhere Mathematik verstehen zu wollen. Doch ich wusste, das würde sich grausam rächen. Denn die Matura bestand ich nur, wenn keine Note unter die 3 fiel. Wie aber konnte ich bei unserem Mathelehrer, Herrn Wyss, mildernde Umstände geltend machen, nachdem ich ihm bei der letzten Klausur ein leeres Blatt hingelegt hatte?
Das Schicksal jedoch wollte nicht schuld sein, falls ich die Matura nicht schaffte. Also lotste es mich eines Abends, zusammen mit Elias in die legendenumwobene «Öpfelchammer», ein Lokal mitten im Niederdorf, wo vor allem Studenten verkehrten und wo schon der Dichter Gottfried Keller sein Glas geleert hatte. Das Lokal präsentiert sich noch heute im alten, unrenovierten Glanz einer längst verblichenen Zeit und hält auch immer noch an der Tradition fest, die sich die Balkenprobe nennt. In der Weinstube nämlich hat es einen mächtigen Deckenbalken, dessen Abstand zur Decke so breit ist, dass ein einigermassen schlanker Mensch hindurchschlüpfen kann, sofern er es schafft, sich hinaufzuziehen und kopfüber ein Glas mit Weisswein zu trinken. Danach darf er seine Initialen im Holz verewigen.
Das wollten auch wir versuchen. Ob es uns gelang, uns hochzustemmen und den Weisswein nicht zu verschlucken, weiss ich nicht mehr. Doch das Erfolgserlebnis an diesem Abend war ein anderes. An unseren Tisch, der Platz für mehrere Gäste bot, setzte sich überraschend – unser Mathematiklehrer. Wie kam er hierher? Lehrer gehörten für mich an die Schule. Herrn Wyss «in Zivil», draussen im Leben zu treffen, war irritierend. Lehrer waren damals noch Autoritätspersonen, die nicht an den gleichen Orten wie wir verkehrten.
Doch nun sass Herr Wyss am gleichen Tisch mit uns in der Öpfelchammer. Er war auch salopper gekleidet als in der Schule. Und er sprach mit uns nicht wie der Lehrer zum Schüler. Er war einfach ein Gast so wie wir, der sein Glas Wein trank und absolut kein Bedürfnis hatte, am Feierabend über sein Fach zu sprechen. Herr Wyss fragte uns aber, was wir nach dem Ende der Schulzeit zu tun gedächten. Wir gaben bereitwillig Auskunft. Endlich hatte ich die Gelegenheit, dem Mathematiklehrer zu vermitteln, dass ich in seinem Fach zwar versagte, dafür in anderen Dingen Talent besass. Als er sich etwas später von uns verabschiedete, war ich nicht mehr der schlechte Schüler für ihn, der sich verweigert, sondern ein junger Mensch mit einer Leidenschaft für das Schreiben, die auch Herr Wyss, obwohl er Mathematiklehrer war, anerkennen musste. Ich hatte an diesem Abend einen mir Wohlgesinnten gewonnen.
*
Selbst die bedrohlich näherrückenden Prüfungen konnten mich jedoch nicht davon abhalten, parallel dazu, als ob ich die Schule schon hinter mir hätte, an meinem Leben «danach» zu arbeiten. Seit mir die Türen des Tages-Anzeigers offenstanden, belieferte ich das «Extrablatt der Jungen» mit immer neuen Beiträgen, die vor allem meinem Spezialgebiet, der Rockmusik galten. Eines Tages stellte ich selbstkritisch fest, dass ich immer nur über Bands aus dem Ausland schrieb. Ich besuchte für den Tages-Anzeiger das Konzert der britischen Gruppe «Wishbone Ash», und die undankbare Rolle der Einheizerband fiel einer Schweizer Formation zu, die auf diese Weise immerhin ein grösseres Publikum auf sich aufmerksam machen konnte. Die 1969 gegründete Band hiess «Krokodil», und zu jener Zeit galt sie als die gerade bekannteste Band hierzulande, die auch Konzerte in Deutschland vorweisen konnte, wo sie sogar als Hauptgruppe auftrat.
Mein Konzerterlebnis mit «Krokodil» motivierte mich zu einem ganzseitigen Report über die Schweizer Rockszene. Ich wählte als Titel «Ein musikalisches Wildheuet», was die einheimische Rockmusikszene durchaus treffend charakterisierte: Harte Arbeit an steilen Hängen, wenig Lohn und noch weniger Wertschätzung. Ich befragte dazu – heute würde man von «Experten» sprechen – mehrere «Sachverständige», und einer von ihnen, Teddy Meier, der Plattenproduzent von EMI Schweiz, der «Krokodil» zu promoten versuchte, nannte die Dinge sogleich beim Namen:
«Zurzeit ist beispielsweise ihre Gesangsanlage kaputt, aber sie haben kein Geld für eine neue – also müssen sie Schulden machen und dann ein ganzes Jahr spielen, um diese abzuzahlen. Ich bewundere die Band, wie sie trotz aller Schwierigkeiten durchhält. Sie sind alle unverheiratet, nur darum können sie sich das Leben als Profimusiker überhaupt leisten.»
Eine professionelle Rockmusikszene gebe es in der Schweiz nicht, stellte Teddy Meier ernüchternd fest, und das werde sich auch nicht ändern. Praktisch niemand könne von der Popmusik leben. Fast ausnahmslos alle Bands waren damals Amateurbands, die von einer Profikarriere nicht einmal träumten. «Sie erschrecken geradezu, wenn man ihnen einen Plattenvertrag offeriert.»
Die einzige, vorübergehend erfolgreiche Band waren «Les Sauterelles» gewesen, die ein paar Jahre vorher als die «Swiss Beatles» gepriesen wurden und mit ihrem Hit «Heavenly club» über die Landesgrenzen hinaus Beachtung fanden. Doch der himmlische Song blieb, so vernichtend es klingt, eine Eintagsfliege. Die Band löste sich auf, und ihre Mitglieder kehrten in «bürgerliche» Berufe zurück.
Toni Vescoli, Sänger und Gitarrist der Band, begann für das Fernsehen zu arbeiten. Auch er war einer der Sachverständigen, die ich befragte, und auch er zeichnete ein pessimistisches Bild. Um von der Musik leben zu können, argumentierte er, müsste man auch im Ausland auftreten können, am besten natürlich in England. Aber dort habe niemand auf ein paar Schweizer gewartet. Toni Vescoli konnte damals nicht ahnen, dass er Jahrzehnte später mit seinen wiederauferstandenen «Sauterelles» im originalen Liverpooler Cavern-Club auftreten würde, auf derselben Bühne, wo schon die Beatles gestanden hatten.
Doch 1972 waren Konzerte von Schweizer Musikern selbst im benachbarten Deutschland die Ausnahme. Und im eigenen Land war der Boden nicht viel weniger hart. «Denn das einheimische Publikum», schrieb ich in meinem Report, «verhält sich ausländischen Bands gegenüber sehr unkritisch, begeistert sich für jeden Import aus den Popmetropolen, würde aber niemals nur einer Schweizer Band wegen an ein Konzert gehen.»
Dass «Krokodil» als Einheizergruppe für die britischen «Wishbone Ash» auftreten durften, war offenbar eher die Ausnahme. Wenn überhaupt, dann brachten die Stars auch gleich ihre Vorgruppe mit. Daraus entstand auch für mich der Eindruck, dass die Rockmusik mit ihren englischen Texten allein den Briten und Amerikanern gehörte. Ich fragte deshalb den Sachverständigen Toni Vescoli: Hat Popmusik, die nicht aus dem englischen Sprachbereich stammt, überhaupt eine Existenzberechtigung?
«Unbedingt», meinte Vescoli, der selber englische Texte sang. «Überall wurde die Popmusik als gemeinsame Ausdrucksmöglichkeit übernommen, und ich finde das positiv. Sie fördert den Austausch zwischen den jungen Leuten, und sie entspricht dem modernen Stadtmenschen. Die Schweiz ist ein kleines Land. Wenn sie sich musikalisch absetzt, ist sie verloren. Wir brauchen den Kontakt zur übrigen Welt.»
Wahre Worte, die der Musiker seinerzeit formulierte. Auch ein halbes Jahrhundert danach tröpfelt die englischsprachige Popmusik, einer Dauerinfusion gleich, immer noch täglich und stündlich in unser Gehör. Doch bei aller Liebe, die auch ich für das Angelsächsische hatte, verstand ich im Grunde nicht, warum sich Musiker aus dem eigenen Land so selbstverständlich dem Mainstream verkauften. «Ist es nicht unnatürlich», fragte ich Toni Vescoli, «dass wir uns erdreisten, Englisch zu singen?»
Der am Zürichsee, im gleichen Dorf wie ich Aufgewachsene widersprach mir entschieden: »Die englische Sprache gehört doch einfach zu dieser Musik, nur schon wegen der Silbenverteilung.» Im gleichen Atemzug verriet mir der Musiker dann überraschend, dass er mit Mundartstücken experimentiere und sogar eine ganze Platte in Mundart aufnehmen wolle. Nur sein Produzent sei dagegen, weil er nicht daran glaube, schweizerdeutsch gesungene Lieder jenseits der Grenze verkaufen zu können.
Toni Vescoli brauchte noch etwas Geduld, doch zwei Jahre später gab er sein erstes Mundartalbum heraus - und weitere folgten. Die zürichdeutsche Silbenverteilung verstand sich bestens mit den Akkorden und Rhythmen der Rockmusik. Und im gleichen Frühsommer 1972, als mein Bericht erschien, waren in Interlaken vier junge Berner Oberländer damit beschäftigt, Popmusik auf Berndeutsch auszuprobieren. Die Gruppe «Rumpelstilz» war geboren, und bald darauf sang Polo Hofer, der Sänger der Band, der noch zu Lebzeiten eine Legende wurde, den «Warehuus-Blues», die erste Single von «Rumpelstilz». Sie liess sich ebenfalls bestens mit der Musik aus dem angelsächsischen Raum kombinieren - die Melodie stammte nämlich von Bob Dylans Komposition «Just Like Tom Thumb's Blues».
Bald darauf entwickelte sich dann doch eine Schweizer Rockmusikzene, die ihren Namen verdiente. Die Entdeckung der Mundart war ihre Rettung gewesen. Denn die Erkenntnis, genauso singen zu dürfen, wie uns der Schnabel gewachsen ist, befreite die Szene von der sprachlichen Fessel, die jede Eigenentwicklung verhinderte.
Allerdings mussten noch Jahre vergehen, bis auch ich die Kraft des Schweizerdeutschen in der Musik entdeckte. Lange Zeit empfand ich Mundartlieder als harmlos. Sie packten mich nicht. Sie waren so brav, so beschaulich und provinziell – so schweizerisch halt. Ich spürte mich nicht in der Schweiz, und ich spürte mich nicht in ihrer Musik. Es zog mich hinaus in die Welt, hinaus in den Kampf, in den Klassenkampf, in die Freiheit des echten Lebens.
Noch drei Wochen bis zu den Prüfungen. Noch vier Wochen bis Irland.
Links:
Krokodil «And I know» 1972
Toni Vescoli «Susann» Live 1974
Polo Hofer «Teddybär» 1976
Die nächste Folge der Serie «Wie ich mich in die Welt verliebte» erscheint am Sonntag, 5. März
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
...
Der Fünf Minuten-Podcast «Mitten im Leben» von Nicolas Lindt ist als App erhältlich und auch zu finden auf Spotify, iTunes und Audible. Sie enthält über 400 Beiträge – und von Montag bis Freitag kommt täglich eine neue Folge hinzu.
> App für iPhone herunterladen
> App für Android herunterladen
- - - - - - - - -
- Anmelden oder Registieren um Kommentare verfassen zu können